Bettina Emmerling sitzt im großen Eckzimmer des Wiener Rathauses hinter ihrem aufgeräumten Arbeitsplatz. Sie grüßt mit ernster Miene und bittet zum langen Schreibtisch, von dessen Ende aus schon ihr Vorgänger und Parteikollege, Christoph Wiederkehr, Gäste empfing. Er stieg zum Bildungsminister auf, sie wurde mit 45 die neue Vize-Bürgermeisterin der Stadt Wien. Fast über Nacht. Wie geht es ihr damit? Ist sie gestresst, schon angekommen, noch in der Orientierungsphase? Das lässt sie sich nicht anmerken und startet das Gespräch ohne Umschweife.
Neos haben sich die heißen Eisen gekrallt
Wenn man den Neos etwas nicht vorwerfen kann, dann ist es fehlender Tatendrang. Sie sind so etwas wie der Klassenstreber unter den heimischen Parteien. Das zeigte sich besonders in Wien. 2020 krallte sich Parteichef Christoph Wiederkehr in der ersten Auflage der rot-pinken Stadtregierung die Ressorts Bildung, Integration, Jugend und Transparenz. Oder, wie manche Beobachter in Kenntnis der Verfasstheit der Stadt unkten, ließ sich die größten Baustellen von der SPÖ umhängen. Themenfelder, auf denen man schwer punkten und leicht ausrutschen kann. Seit den 1990er-Jahren wuchs Wien um die Bevölkerung von Graz und Linz – zusammen. Und das vorwiegend durch Zuwanderung. Doch die Stadt passte ihre Aufnahmekapazitäten – von Kindergärten, Schulen, Jugend-WGs bis zur Einwanderungsbehörde MA35 – nicht ausreichend an.
Die ersten Krisenjahre
Diese Wachstumsschmerzen an den Brennpunkten der Stadt zu managen, nahmen sich die Neos vor. Doch es kamen neue Schmerzen hinzu. Darauf verweist Bettina Emmerling, wenn sie Bilanz über die ersten fünf Jahre Neos zieht. Dann spricht sie zunächst über die Coronapandemie mit geschlossenen Schulen und psychischen Langzeitfolgen bei Jugendlichen; über Tausende Schüler aus der Ukraine und Syrien, die durch Krieg oder Familienzusammenführung unerwartet nach Wien kamen; den akuten Lehrermangel, weil „frühere Bildungsminister die Pensionierungswelle der Baby-Boomer-Generation verschlafen“ hätten.
Jetzt müssen die Neos liefern
In den ersten fünf Jahren gaben sich die Neos als „Trouble-Shooter“. Mit dem Nebeneffekt, dass ihre politischen Erfolge schwer messbar waren. Nun ist Corona vorbei, die Fluchtwellen sind verebbt, und ein Neos-Politiker könnte als Bildungsminister am großen Rad drehen. Mit Wiederkehr im Tandem muss Emmerling nun zeigen, was die pinken Versprechen von der „Bildungswende“ wert sind, und auch bei der Integration messbare Fortschritte erzielen.
Emmerling ist der Prototyp der pinken „Just-do-it“-Mentalität. Von ihrer Vita her war sie – wie schon ihr Vorgänger – nicht zwingend für das Brennpunkt-Ressort vorbestimmt. Die heute 45-Jährige ist im Kärntner Wolfsberg aufgewachsen, maturierte in Klagenfurt, studierte Umweltsystemwissenschaft in Graz und arbeitete bis 2020 in der Österreichischen Energieagentur als Expertin für Verkehr – ihr langjähriges Steckenpferd.
Eine Quereinsteigerin im Thema
Ihre politische Heimat in Wien wurde ein Bezirk, der bei Bildung und Integration – ihren neuen Hauptthemen – eher auf der Sonnenseite liegt: Döbling. Dort ist sie bis heute Bezirkssprecherin. Seit 2015 sitzt Emmerling im Landtag, seit 2018 ist sie Bildungssprecherin ihrer Partei. „Bildung war immer schon mein Herzensthema. Als Klubobfrau der Wiener Neos war ich dann in alle Ressorts stark eingebunden.“
Neos hätten sich von der SPÖ nichts umhängen lassen, sondern sich bewusst für Kindergärten, Schulen, Integration entschieden. „Wir haben es angepackt. Sonst würden wir heute ganz woanders stehen“, ist Emmerling überzeugt. Was konkret macht den Unterschied? Das ist schwerer festzumachen als bei den Grünen, die von 2010 bis 2020 mit der SPÖ regierten. Ihre Leuchtturmprojekte waren die neue Mariahilfer Straße oder das 365-Euro-Ticket. Was sind die pinken?
50 neue Ganztagsschulen
Emmerling verweist auf „das größte Wiener Bildungsbudget aller Zeiten“ samt 50 neuer Ganztagsschulen. Oder die verdoppelten Stunden von Assistenz-Pädagoginnen im Kindergarten. „Der Fokus für die nächsten fünf Jahre muss definitiv auf dem weiteren Ausbau der Kindergärten und auf der deutschen Sprache liegen. Die Kinder müssen beim Sprung in die Schule die besten Chancen haben.“ Durch die starke Zuwanderung und das fehlende Personal sei man in den vergangenen Jahren weit davon entfernt gewesen.
In Zahlen ausgedrückt: Fast die Hälfte der Volksschülerinnen und -schüler, die im vergangenen Herbst starteten, war als „außerordentlich“ eingestuft – und konnte dem Unterricht sprachlich nicht folgen. Diese Zahl will Emmerling „deutlich“ senken. Legt sie sich auf eine Zielgröße fest? „Das kann ich nicht. Weil wir nicht wissen, ob nicht wieder Tausende Flüchtlingskinder dastehen und einen Schulplatz brauchen.“
Der Forder-Katalog der Stadtregierung
Der „Fokus auf die deutsche Sprache“ ist auch im rot-pinken Regierungsprogramm breit verankert. Doch wo sonst sollte der Fokus liegen im deutschsprachigen Wien?
Am deutlichsten lesbar ist die pinke Handschrift beim „Fördern und Fordern“. Eine gängige Plattitüde in Regierungsprogrammen. Doch die Neos bleiben nicht abstrakt. So müssen außerordentliche Schüler ab 2026 verpflichtend zwei Wochen die Sommerschule besuchen; im Kindergarten sind für Kinder mit Sprachproblemen mindestens 30 Stunden pro Woche Pflicht; Eltern, die im Kindergarten oder in der Schule vorgeladen werden und hartnäckig nicht erscheinen, fassen Verwaltungsstrafen aus.
Doch reicht das, um das soziale wie kulturelle Auseinanderdriften an Wiener Schulen zu stoppen? Bei Klassen mit überwiegend muslimischen oder arabisch-sprachigen Kindern? Von einer besseren „Durchmischung“, wie sie Integrationsexperten einmahnen, kann dort längst keine Rede mehr sein. Das Wort „Durchmischung“ findet sich bewusst nicht im Programm. „Wie viele Syrer, Muslime oder Katholiken in einer Klasse sind, sagt per se noch nichts aus. Das wäre eine Pauschalisierung. Es geht nicht um Herkunft oder Religion. Sondern um die Sprachkenntnisse.“
„Definitiv“ für das Kopftuchverbot bis 14
Ja, es gebe kulturelle Probleme bis hin zur Radikalisierung. Deswegen führe Minister Wiederkehr das neue Pflichtfach „Werte in einer Demokratie“ ein, sagt die Vize-Bürgermeisterin. Auch hinter dem von der Regierung geplanten Kopftuchverbot bis 14 stehe sie „definitiv“. Weil sie glaubt, dass die Mehrheit der potenziell betroffenen Mädchen den Hijab nicht freiwillig trage. Doch Emmerling ist strikt dagegen, Kinder zwecks besserer Durchmischung „in der Stadt herumzuschicken“ und per Quote bestimmten Standorten zuzuweisen. „Wir halten die freie Schulwahl hoch.“ Hält sie damit nicht auch an gewachsenen Strukturen im roten Wien fest, in denen die Integrationsprobleme von heute gediehen?
Emmerling will Schulen „in besonders herausfordernder Lage“, vulgo Brennpunktschulen, gezielt aufwerten. Im Stadtbudget sind dafür 7,5 Millionen Euro veranschlagt. Für einen Turnaround, wie er im London der 2000er-Jahre durch die „London School Challenge“ gelang, bräuchte es ein Vielfaches dieser Summe. Aus den schwierigsten Schulen der britischen Hauptstadt wurden damals mitunter die besten.
Sparen bei der Sozialhilfe, aber wie?
Doch Emmerling muss derzeit in den Verhandlungen mit der SPÖ um jeden Euro kämpfen. Man merkt das bei ihrer Haltung in der Frage der Sozialhilfe – einem zentralen Kostenfaktor. Der Wiener Schuldenberg könnte heuer auf über 15 Milliarden Euro wachsen. Ein Plus von fast 100 Prozent im Vergleich zu 2020.
Zur Debatte über jene syrische Großfamilie, die in Wien rund 9000 Euro Beihilfen pro Monat erhält, sagt sie: „Jedes Kind ist gleich viel wert, kostet aber nicht gleich viel. Ich setze mich definitiv für sinkende Beiträge pro Kind ein, weil es hier auch um eine Frage der Fairness gegenüber Familien geht, die von Arbeitseinkommen leben.“ Ein potenzieller Konflikt mit dem Koalitionspartner. Im vergangenen Jahr hatte SPÖ-Sozialstadtrat Peter Hacker sehr klar gemacht, dass er es für „unerträglichen Zynismus“ hält, von Familien zu verlangen, das „abgetragene Gewand“ an die Jüngeren weiterzugeben.
Hacker ist politisch alteingesessen und geht, wie das gesamte SPÖ-Team mit Ausnahme der neuen Finanzstadträtin Barbara Novak, in seine zweite Regierungsperiode. Ein Startvorteil im Vergleich zum Regierungsneuling Emmerling. Doch die Neos-Politikerin zeigt sich davon wenig beeindruckt. Ihr Politikfeld, das vom Kindergarten in Favoriten über die Mittelschule in Ottakring bis zur Jugend-WG in der Brigittenau reicht, war ihr noch zu klein. Sie zog zusätzlich auch noch sämtliche Wiener Märkte in ihren Einflussbereich.
Zumindest am Döblinger Sonnbergmarkt hat sie Heimvorteil.