„Island ist klein, Island ist groߔ

Island-Reise: „Island ist klein, Island ist groߔ

Island. Die Einwohner Islands definieren sich seit alters her über Sprache und Kultur, Sagen und Legenden

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"Butterfass" bannt die Besucher. Andächtig stehen Touristen um das kniehoch umzäunte Areal, grüne Warnschilder mit dem Hinweis "80-100 Grad Celsius“ sollen ebenfalls Distanz zu "Butterfass“ wahren, dem derzeit einzigen aktiven Geysir Islands. Die Kapuzen bis auf schmale Gucklöcher zugeschnürt, die Hightech-Kleidung in den beißend kalten Wind gestemmt, warten die Besucher auf den Ausbruch der Springquelle, Handys und Kompaktkameras im Anschlag. Es scheint fast so, als ob die um das Naturphänomen versammelten Beobachter erstarrt seien, Fotogerätschaften in ballonartig behandschuhten Händen, eine Armlänge von sich gestreckt. Es ist in Zeiten des Massentourismus, der Mensch und Material rasant über Landes- und Datumsgrenzen jagt, ein rares Bild. Vergangenes Jahr besuchten rund 650.000 Urlauber die von 320.000 Einheimischen bevölkerte Insel am Rande des Polarkreises, das Gros der Touristen stattete auch dem von der Hauptstadt Reykjavík eine gute Autostunde entfernten Geysir-Gebiet eine Kurzvisite ab, wo "Butterfass“ - isländisch "Strokkur“ - in gleichmäßigen Abständen haushohe Wasserfontänen spuckt, das professionalisierte Gewerbe des Reisens für Minuten zum Beinahestillstand bringt. Hier versammeln sich Touristen, die schweigsam vor einer sacht blubbernden Wasserlake verharren, inmitten einer Duftwolke, die das Odeur fauler Eier verströmt. "Butterfass“ erhebt sich, schießt gen Himmel. Das Klicken von Fotoapparaten, auf Handydisplays werden die Bilder vom Spektakel kontrolliert. Der Tross zieht weiter.

Island stellt in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme auf dem Radar der weltweit beliebtesten Reisedestinationen dar. Auf der Insel finden sich Enge und Weite, Alt und Neu, Weltvergessenheit und Vergnügungsmeile auf vom Nordatlantik umspültem Terrain vereint, das nicht nur aufgrund der Gegensätze, die hier zusammenprallen, in Bewegung scheint, sondern durch die tektonische Plattendrift tatsächlich ein Unruhegebiet darstellt.

Nahe dem Geysir-Park widmet sich ein Museum dem fortgesetzten Beben der Erde. Auf Schautafeln, die wie aus der Zeit gefallen wirken, sind jene Jahreszahlen vermerkt, die hier jedes Kind kennt: Um 200 - Ausbruch des Snæfellsjökull, jener Bergformation, an der Jules Verne seine Reise zum Mittelpunkt der Erde starten lässt; 1973 - Vulkaneruption auf den Westmännerinseln; 1998 - Grímsvötn-Katastrophe; 2012 - die Aschenwolke des Vulkans Eyjafjallajökull legt weite Teile des europäischen Flugverkehrs lahm. Man bewegt sich in der Sammlung der geologischen Schrecken förmlich auf wankendem Grund. Durch einen Betonschlauch gelangt man in den ersten Stock der Ausstellung; rötlich schimmern die Treppenstufen, zahllose Lampen unter Plexiglas imitieren glühendes, zähflüssiges Gestein. Zuweilen liegen in Island, dessen Gesamtfläche etwas mehr als die Größe Österreichs umfasst, auch Kitsch und Katastrophe nah beisammen.

Gletscher, Vulkanseen, Fjorde, Wasserfälle, Geysire, Hochlandwüsten prägen die Landschaft. Die Straßen legen sich wie ein weitmaschiges Netz über das Eiland, die so genannte "Ringstraße“ zieht sich 1400 Kilometer die Küste entlang. Auto fahren in Island bedeutet, ausgenommen die Zeit der touristischen Hochsaison von Juni bis August: überschaubarer Gegenverkehr, selten vorausfahrende Fahrzeuge, ein Fortbewegen in vielfältigem Licht und Wetter. Wie hingewürfelt wirken die verstreuten Anwesen, deren sattfarbene Fassaden aus dem moosigen Braungrün der Gegend hervorstechen, kleine Häuschen mit roten Dächern, die sich unter dem Wind ducken. Statistisch betrachtet beträgt die Bevölkerungsdichte drei Einwohner pro Quadratkilometer, in und um Reykjavík, der nördlichsten Hauptstadt der Welt, die sich bei Anbruch der Nacht in eine beliebte Großraumpartyzone verwandelt, wohnen und arbeiten mehr als die Hälfte aller Isländer. In die Anonymität der Masse lässt sich hier schwer abtauchen. Man pflegt einen legeren Umgang miteinander, Nachnamen sind zweitrangig, das Telefonbuch ist alphabetisch nach Vornamen sortiert, jeder duzt jeden, ob Chef oder Kollegen.

"Hallo, ich bin Snorri“, sagt Snorri Valsson, 50, Musiker, Fremdenführer, Teilzeitjournalist, Hobbymeteorologe und ausgewiesener Freizeitgeologe. Valsson studierte in Wien Trompete, er kann enthusiastische Monologe über Windstärken und Nordlichter, Vulkankegel und Kraterseen halten. Mit der in Reykjavík geborenen Musikerin Björk hat Valsson Alben eingespielt, mit Hallgrímur Helgason, dem derzeit bekanntesten zeitgenössischen Autor Islands, ist er weitschichtig verwandt. Ahnenforschung ist neben den endlosen Gesprächen übers Wetter ohnehin eine Lieblingsbeschäftigung vieler Isländer. Valsson beispielsweise kann die Verästelungen seines Stammbaums mehr als 25 Generationen zurückverfolgen. "Ich bin ein direkter Nachkomme der ersten Siedler“, lacht er. "Wie Tausende andere auch.“

In der Tradition des Landes sind daneben Sprache und Kultur fest verankert, in eigentümlichem Nebeneinander: "Unsere Kulturschätze liegen in der Sprache“, sagt Snorri Valsson. "Vielleicht mit Ausnahme der Hallgrímskirkja, der während Jahrzehnten erbauten Kirche in Reykjavík, haben wir keine Gebäude, aus denen wir irgendwie geartetes Nationalbewusstsein beziehen.“ Es ist in Island alles andere als ungewöhnlich, dass Berufsfischer ihre Lebenserinnerungen im Selbstverlag publizieren und Bauern Bücher mit Naturgedichten herausgeben. Zugleich versuchen die Isländer ihre Muttersprache möglichst unverfälscht zu bewahren, die Skepsis gegenüber dem geplanten EU-Beitritt ist groß. Der lange nicht mehr gebräuchliche Begriff "Sími“ wurde eigens für "Handy“ reaktiviert, wörtlich "langes Seil“. Computer heißt "Tölva“, eine bildhafte Wortzusammensetzung, die sich behelfsmäßig mit "Zukunft, durch Zahlen prophezeit“ übersetzen ließe.

"Island ist klein, Island ist groߓ, staunt auch der Ich-Erzähler Behrend in "Island-Passion“ über sein zeitweiliges insulares Dasein als Zeitungskorrespondent, der 1972 von Wien nach Reykjavík entsandt wird. Der oberösterreichische Schriftsteller Rudolf Habringer bereitete in seinem 2008 veröffentlichten Roman ein bis dahin verdrängtes Kapitel österreichischer Musikgeschichte auf - und fügte der isländischen Historie eine nicht minder wichtige Fußnote hinzu. Habringer rekonstruierte, literarisch leicht verfremdet, die Lebensgeschichte des Wiener Komponisten Victor Urbancic (1903-1958), der 1938 vor Hitler nach Island emigriert war und als Tonrevolutionär und unermüdlicher Arrangeur traditionellen Liedguts enormen Einfluss auf das zeitgenössische isländische Musikgeschehen ausgeübt hatte. Zentrale Abschnitte des Romans handeln ferner von jenem historischen Moment, in dem Island - wie später erneut beim Gipfeltreffen von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Reykjavík - ins Zentrum der Weltöffentlichkeit rückte. Beim "Match des Jahrhunderts“ traf US-Schachexzentriker Bobby Fischer, der 2008 als isländischer Staatsbürger starb, 1972 auf den damals regierenden russischen Weltmeister Boris Spasski, ein Stellvertreterkampf vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs, ausgetragen in einer Arena, die heute als Handballhalle dient.

Rudolf Habringers Roman datiert bis 2004, der tiefe Fall des Landes kommt darin nicht vor. Island war eines der ersten Länder, in denen die Finanzkrise infolge des Lehman-Bankrotts verheerende Auswirkungen zeitigte. An Island lässt sich der Modellfall eines kleinen Markts mit eigener Währung studieren, der in die Wirrnisse einer Weltwirtschaftsmisere gerät: Anfang Oktober 2008 gingen drei systemrelevante isländische Banken pleite, die Inflation kletterte auf eine Höchstmarke von 20 Prozent, das Land, nahe am Staatsbankrott, sah sich mit dem Phänomen massenhafter Arbeitslosigkeit konfrontiert. Bis heute erhebt sich bei der Einfahrt in den Finanzdistrikt Reykjavíks ein verwaistes Hochhaus, das wie ein gigantischer schwarzer Block aus Stahl und Glas wirkt, wie ein Krisendenkmal mit toten Fenstern. Selbst Krise und Konsolidierung liegen hier indes nah beieinander: Island war das erste Land, das abgestürzt ist, und es ist das erste, das mit seiner ökonomischen Trias aus Fischerei, Aluminiumabbau und Fremdenverkehr allmählich wieder hochkommt.

"Ich bin in einer anderen Welt“, protokolliert Brettturnier-Berichterstatter Behrend in "Island-Passion“. Später wird sein Dasein in die "Festland- und die Islandjahre“ zerfallen, fasziniert von der Landschaft der zerklüfteten Vulkaninsel. ■

Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer; die Indien-Visiten von Büchner-Preisträger Josef Winkler finden sich als vielfältiges literarisches Echo in dessen Werk. Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie und den zwischen 2010 und 2012 publizierten poetischen Spurensuchen - etwa in Tel Aviv, Kopenhagen, Kairo, Los Angeles, Costa Rica, China, Griechenland, Abu Dhabi, Rio de Janeiro und Istanbul - begibt sich profil in einer neuen mehrteiligen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat: unter anderem in Island, Sizilien, Kuba, Argentinien und der Ukraine.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.