Aus der Wiener Perspektiv’

Israel: Tel Aviv ist eine der weltoffensten Metropolen des Nahen Ostens

Tel Aviv. Tel Aviv ist eine der modernsten und weltoffensten Metropolen des Nahen Ostens

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Tel Aviv, so analysierte einst der israelische Schriftsteller Amos Oz, sei nicht einfach ein beliebiger Ort auf der Landkarte, für den man einen Busfahrschein löse. „Über Tel Aviv sprach man bei uns in Jerusalem mit Neid und Hochmut, Bewunderung und Geheimnistuerei.“ Tel Aviv, so Oz weiter, sei ein „anderer Kontinent“.

Die Stadt mit ihren Einwohnern und Einwanderern aus über 140 verschiedenen Ländern feierte im Vorjahr ihr 100-jähriges Bestehen. Gemeinsam mit dem südlich gelegenen Jaffa bildet die Metropole, in der rund 390.000 Menschen leben, eine Doppelstadt, die sich über 15 Kilometer entlang der Mittelmeerküste erstreckt. Tel Aviv bildet das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Israels; im pittoresken Hafenort Jaffa trat Jona, folgt man dem Alten Testament, seine Reise an, die ihn im Bauch des Wals landen ließ. Den über 4000 Bauhaus-Gebäuden, einst von Architekten errichtet, die vor den Nazis nach Palästina flohen, verdankt die Stadt ihren Ruhm als Unesco-Weltkulturerbe.

Stillstand herrscht an diesem Ort der verschärften Gegensätze kaum je. Das Leben hier: ein Tanz auf dem Vulkan. Der Alltag: eine Unruhezone. Zehntausende Nachtschwärmer bevölkern die Bars, Clubs und Restaurants nach Sonnenuntergang. In Anlehnung an den „Big Apple“ New York nennt sich Tel Aviv selbstironisch gern „Big Orange“.

Ein Tanzlokal in Strandnähe trägt den Namen „Nightmare“, am Eingang der Hinweis: „Betreten auf eigene Gefahr“. Die Zeichnung eines mannshohen, von Stofffetzen verhüllten Sensenmanns verleiht der Warnung Nachdruck. Ebenfalls in zentraler Lage, auf der pulsierenden Shenkin-Straße, ist das Künstlercafé Tamar zu finden, eine der ältesten noch existierenden Lokalitäten des urbanen Großraums. Mobiliar und Ausstattung haben sich hier seit 50 Jahren kaum verändert, an den Wänden des Lokals nikotingelb umrahmte Schatten von Bildern und Plakaten; die Speisekarte ist angesichts der Touristenströme vom Rothschild Boulevard, der angrenzenden Luxuseinkaufsmeile, bewusst karg gehalten. Sarah Stern, silbrig gefärbte Haare, schwarzes Kajal um die Augen, finsterer Blick, ist seit Jahrzehnten die Eigentümerin und Seele der Institution. Lakonisch kontert die Thekenregentin die Frage, ob im Café denn Fotos gemacht werden dürften: „Jeder mache, was er will.“

Uzis am Rücken. Scheinwerfer tauchen die Beachvolleyball-Gelände entlang der Küste in grelles Licht, Spaziergänger und Schwimmer bevölkern noch weit nach Mitternacht das Meeresufer. Untertags verwandelt sich der kilometerlange, über eine verkehrsreiche Promenade leicht erreichbare Strand in touristisches Aufmarschgebiet. Bodybuilder lassen an einer der zahlreichen Fitness-Stationen ihre Muskeln in der Sonne glänzen, zwei junge Männer mit Kippa am Kopf schlendern Richtung Meer. Das Voranschreiten der Zeit korreliert mit der sukzessiven Höhenabnahme der gestapelten, frühmorgens noch beträchtlichen Liegestuhlberge und der Zahl der im Minutentakt aufgeklappten, je nach Strandabschnitt farblich variierenden Sonnenschirme.

Eine Gruppe junger Männer in grünen T-Shirts, Helm am Kopf und Flip-Flops an den Füßen, bewegt sich auf Mountainbikes den Korso entlang. Am Rücken der radelnden Frühsportler baumeln Uzis, kompakte, mattschwarze Maschinenpistolen. Ein Trupp Soldaten in olivgrünen Uniformen, MGs mit langem Lauf umgeschnallt, stellt sich derweil für ein Eis an. In regelmäßigen Abständen knattern Militärhubschrauber die Küste entlang.

Michael Rendi ist mit den zahlreichen Widersprüchen der israelischen Gesellschaft tagtäglich hautnah konfrontiert. Wer dem österreichischen Botschafter in Israel einen Besuch abstatten will, muss Richtung Ramat Gan aufbrechen, im Grunde eine eigene Stadt, die durch die rasante Expansion Tel Avivs jedoch untrennbar mit der Hafenmetropole verwachsen ist. Rendi, 45, residiert im sechsten Stock des Beit Crystal, eines schmucklosen, in der Sonne schimmernden Turms, der zudem die Botschaften Belgiens und Ghanas sowie Rechtsanwaltsbüros und IT-Firmen beherbergt. Das Tragen von Feuerwaffen sei verboten, teilt ein Schild bei der Portiersloge mit, das Büro des Diplomaten ist durch zentimeterdickes Glas geschützt. In einem der Vorzimmer steht ein Karl-Kraus-Zitat hinter Glas auf einem Schreibtisch: „In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.“

Äußerst kompliziert. Hoch über den Dächern Tel Avivs findet sich eine Österreich-Enklave. Peter Roseggers „Schriften des Waldschulmeisters“ stehen im Buchregal, eine Videokassette des Films „Hallo Dienstmann“ thront auf einem Kasten. Es gibt Meinl-Kaffee, der Kopf Jörg Haiders prangt groß auf einer lokalen Zeitung. In den Computern der Behörde sind die Namen von 6000 Österreichern gespeichert, die in Israel leben und arbeiten; 1500 davon sind vor 1939 geboren, sie zählen zu den Überlebenden der Shoa.

Botschafter Rendi, als gelernter Diplomat ohnehin ein Mann vorsichtiger Worte und langer Redepausen, versucht, das bisweilen Verwirrende der nationalen Politik und Gesellschaft zu erörtern. „Ein Besuch in Israel erfordert einiges an vorbereitender Lektüre. Man liest viel über Land und Leute, informiert sich über historische Hintergründe und aktuelle Entwicklungen – und versucht, sich auf diese Art ein vermeintlich sicheres Bild der Lage zu zimmern“, so der Delegationschef. „Jeder Besuch lässt einen dennoch auch etwas ratlos zurück: Gerade in Israel sollte man mit vorschnellen Urteilen vorsichtig sein. Für jede Erklärung findet sich hier ein Gegenbeweis, jede These erzeugt eine Antithese. Was heute als gesichert gilt und in den Zeitungen steht, kann morgen jeder faktischen Grundlage entbehren. Die tagespolitischen Realitäten sind äußerst kompliziert, die Konflikte kaum messbar. Israel besteht seit 62 Jahren. Man sollte nie vergessen, dass hier alles in Bewegung ist.“

In Israel, so der weit gereiste Diplomat abschließend, sei eben alles Politik, der Friedensprozess Hemmschuh und Motor zugleich.

Rendi erhebt sich von seinem Sessel, er blickt aus den Fenstern des halbkreisförmigen Büros. Es scheint fast, als ob er die architektonische Einfachheit der angrenzenden Gebäude und das zumindest von oben übersichtliche Netz der Durchzugsstraßen genieße.

Es fällt hier leicht, den Überblick zu verlieren. Vielleicht nähern sich deshalb gleich mehrere österreichische Autoren in ihren Büchern der Stadt aus der Vogelperspektive. Der Protagonist in „Andernorts“, dem jüngsten Roman des 1961 in Tel Aviv geborenen, seit Jahrzehnten in Wien wohnhaften Essayisten und Schriftstellers Doron Rabinovici, sitzt zu Beginn der Erzählung mit seiner Freundin Noah in einer Linienmaschine, die Kurs auf den Flughafen Ben Gurion nimmt. „Im Meer nächtlicher Finsternis tauchte die Stadt auf. Tel Aviv leuchtete ihnen entgegen“, schreibt Rabinovici in dem satirisch überzeichneten Stadtporträt. „Jerusalem möge sie nicht, sagte Noah, aber die Stadt da unten. Ha-bua, die Blase: Das Schimpfwort für Tel Aviv sei ein Ehrentitel. Sie schwebe wie eine luftig leichte Schaumkugel über Krieg und Konflikt, liege jenseits von Religion und Regionalismen, sei schillernd und vielfältig.“

Im Alltag gelangt in Tel Aviv oft folgende Arbeitshypothese zur Anwendung: Im Fall größerer, auf ein bestimmtes Ziel gerichteter Menschenansammlungen sind möglichst viele der Wartenden zu umgehen, ohne sich beim Vordrängeln allzu große Blöße zu geben. Ein Teil der Israelis, so lautet ein gängiges Klischee, benehme sich rüpelhaft und egoistisch, der andere leide darunter. Hat man hier eine Autopanne, so kommt es vor, dass Fahrer stehen bleiben und Hilfe leisten. Danach wird man beim Spurwechsel wieder aggressiv geschnitten. In „Andernorts“ schreibt Rabinovici: „Wo hast du sonst noch das Gefühl, jeder renne, wenn er nur zum Parkplatz eilt oder Geld abheben will, um sein nacktes Leben. Jede Geste wird ausgeführt, als ginge es um einen Notfall. Alle greifen und grapschen zu, als müssten sie dauernd eine Reißleine ziehen. Sie glauben sich im Absturz. Immerzu.“

Primadonna. In Tel Aviv leben und arbeiten gegenwärtig nur wenige Schriftsteller und Dramatiker österreichischer Abstammung. Eine Erklärung dafür ist womöglich in der Geschichte vor und nach dem Holocaust zu finden. Die Neuankömmlinge galten lange Zeit als eher unerwünscht, der Kampf ums schiere Überleben prägte die Biografien vieler Israel-Emigranten österreichischer Provenienz. Einer Anekdote zufolge sollen sich seinerzeit beim Straßenbau Dialoge wie folgt abgespielt haben: „Bitte sehr, Herr Doktor, der nächste Ziegel.“ – „Vielen Dank, Herr Kommerzialrat.“

Von einer tatsächlichen Begebenheit, in der ein österreichischer Schriftsteller die zentrale Rolle einnimmt, berichtet die ehemalige Diplomatin und Autorin Barbara Taufar in ihrer Autobiografie „Die Rose von Jericho“, ein weiteres Buch, an dessen Beginn die Ankunft in Tel Aviv mit fliegendem Verkehrsmittel steht. Anfang der siebziger Jahre überredete Taufar, die heute in einer kleinen, im Biedermeierstil möblierten Wohnung in einem Kibbuz nahe der libanesischen Grenze lebt, den Dichter Peter Handke zur israelischen Premiere seines Stücks „Kaspar“ gemeinsam mit Tochter Amina anzureisen. „Die Fahrt nach Tel Aviv war ungemütlich, und ich wunderte mich, weshalb dieser Mann sich aufführte wie eine launische Primadonna“, schreibt die damals im diplomatischen Dienst tätige Autorin. „Der Lärm des Orients erschreckte ihn wohl.“ Offene Feindseligkeit bricht zwischen Poet und Beamtin aus, als es darum geht, die offene Reiserechnung zu begleichen; Taufar berichtet von Schreiduellen auf Hotelfluren und Verbalattacken bei Abendessen. In Handkes Journal „Das Gewicht der Welt“ (1977) findet sich ein spätes Echo des verunglückten Tel-Aviv-Trips: „Die Frau mit der Siamkatze und den Fotos der Katze überall in der Wohnung“, charakterisiert der Autor darin die Diplomatin. „Sie hat im Gespräch mit Leuten dieses jähe, gemachte Grimassenlächeln – es ergreift schlagartig das ganze Gesicht –, das manche zeigen, wenn sie mit Tieren oder ganz kleinen Kindern reden, und das vor allem erkennbar ist an den Falten der Nase, Stütze fürs Lächeln (kalte, kalte Welt).“ Kurz nach Veröffentlichung der Sottise erhielt Barbara Taufar ermutigende Post von ihrem damaligen Dienstherrn. „Und im Übrigen nehmen Sie sich Handke nicht zu Herzen“, schrieb Bruno Kreisky. „Trösten Sie sich damit, dass ich Sie anders beurteile.“

Andernorts erinnern Werke österreichischer Autoren an eine dunkle Zeit. Eine gute Autostunde von Tel Aviv entfernt, einige Kilometer vor den Toren der Jerusalemer Altstadt, liegt die Gedenk- und Dokumentationsstätte Yad Vashem für die sechs Millionen Opfer der NS-Judenvernichtung. Das unterirdisch angelegte Museum teilt sich in neun Galerien, die von einem schlauchförmigen, durch Exponate verstellten Mittelgang abzweigen. Station eins bildet ein literarisches Mahnmal: Zur Erinnerung an die Büchervernichtung sind zeitgenössische, auf den von den Nationalsozialisten errichteten Scheiterhaufen verbrannte Werke von Stefan Zweig und Arthur Schnitzler, Jakob Wassermann und Sigmund Freud mit grobem Bindfaden zu Bündeln gebunden. Ein Film dokumentiert, wie Buchpakete 1933 ins Feuer geworfen wurden.

Aufs Ärgste gefasst. Die 1910 in Wien geborene Jüdin Anny Robert hatte Glück. Sie wanderte bereits 1934 auf einem Schiff nach Palästina aus, wo sich die gelernte Schneidermeisterin eine neue Existenz aufbaute; bis zu ihrem Tod im Dezember 2003 lebte Robert in einem kleinen Zimmer im Anita-Mueller-Cohen-Haus, dem so genannten Österreicherinnenheim nahe Tel Aviv. In kurzen, launigen Kapiteln berichtet Robert, die erst mit 56 zu schreiben begann, in ihrem 2006 publizierten Memoirenband „Herrlich ist’s in Tel Aviv – aus der Wiener Perspektiv’“ vom Alltag der Emigranten in den dreißiger Jahren, von der Lebens- und Leidensgeschichte der österreichisch-jüdischen Exilgemeinschaft – etwa von einem Kinobesuch mit ihrem Mann: „Kam manchmal unversehens die Ringstraße ins Bild, fing ich an zu heulen.“ Ihr Ehemann, der als ortsansässiger Generalvertreter eines Präservativherstellers die existenzielle Basis der Heimatvertriebenen sicherte, reagierte darauf mit einem Wutanfall: „Wäre dir lieber, wenn man dich in Wien mit, Saujüdin‘ beschimpfen würde?“

Eine Kapitelüberschrift aus „Herrlich ist’s in Tel Aviv“ lautet: „Ich war auf das Ärgste gefasst.“ Die Stadt barg für Anny Robert jedoch bereits Anfang der dreißiger Jahre Überraschendes: „Ganz Tel Aviv mutete kulissenhaft an. Natürlich bewundernswert, was man auf diesem sandigen Boden gebaut hatte! Eine Stadt, die man ganz einfach in die Wüste gestellt hatte. Wie gesagt, Asien, halb Orient, ein bissl europäisch, vor allem aber eben Levante.“

Über dreißig Jahre sollte es dauern, bis Anny Robert, die in ihren Erinnerungen erstaunlich offen über Sexualität, Seitensprünge und Sui-zidwünsche erzählt, ihrer Heimatstadt einen Besuch abstattete. Wehmütigkeit war ihre Sache nicht, mit galligem Humor reagierte sie auf die Wiener Verhältnisse: „Die Tragikomödie beginnt beim Sacher /, Fußgängerzone‘, das kost’ mich an Lacher“, reimte sie in einem ihrer zahlreichen Poeme. „Man hat der alten Kärntner Straße / ein Kleid angepasst nach modernem Maße / und hat sie damit ganz ungeniert / zu einer Art Heurigen degradiert.“

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.