Krusten, Kuppen, Kathedralen

Südengland: Erkundung einer Kulturlandschaft in acht Etappen.

Südengland. Erkundung einer Kulturlandschaft in acht Etappen.

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Ein Mann in Kniebundhose und Halstuch steht inmitten einer Wiese. Menschen strömen herbei, zumeist älteren Jahrgangs. Aufregung liegt in der Luft. Hektisches Herumfingern an Mobiltelefonen, die verzweifelte Suche nach der Fotofunktion. Es herrscht Trubel im Garten des beschaulichen Bovey Castle, in den Tiefen des Dartmoor National Park gelegen, rund 40 Autominuten von Exeter entfernt, der Hauptstadt der Grafschaft Devon, Südengland.

Bovey Castle ist ein verschachtelter Gebäudekomplex, der seit 1930 als Hotel dient. Nach wechselvoller Geschichte beherbergt das Haus heute vorwiegend vermögende Klientel. Man vertrödelt hier die Vormittage beim Golfen. Beim Tee auf der Terrasse lässt man die Blicke schweifen. Über sanft-hügelige Kuppen, Kunstteiche und Baumgruppen, die wirken, als hätte jede von ihnen einen eigenen Gärtner. Man fährt schier endlose Serpentinen bis zum Hotelportal mit den Steinsäulen. Auf dem Parkplatz beim Eingang parkt ein schwarzer Jaguar.

An der Hinterseite des Hotels steht der Mann mit roter Halsschleife. Der Trubel dürfte weniger seiner Tweed-Kniehose als seinen animalischen Begleitern geschuldet sein: Boris und Artemis, Hund und Adler. Der Vierbeiner döst in der Sonne, der Greifvogel balanciert auf dem über die linke Hand gestreiften Fäustling, schwingenschlagend, die mattgraue Lederarmbandage entlang trippelnd. „Oh, wie wunderbar“, ruft eine Touristin aus Sydney. Eine Dame in Pastell wagt sich an das Trio heran. „Wir beißen nicht“, beruhigt der Mann. Es ist nicht ganz klar, wen er meint.

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Adler und Hund sind Teil des Spektakels am Spätnachmittag. Erst bei näherem Hinsehen fügen sich Attraktion und Atmosphäre zu einer Geschichte, die viel von Literatur und Kultur, Botanik und Architektur, Alltag und Mentalität des englischen Südens erzählt. Bovey Castle liegt nahe Moretonhampstead. Der Weiler führt den längsten Ortsnamen in England, die Leute im Ort sind stolz darauf. Moretonhampstead klingt wie von Arthur Conan Doyle erfunden, der seinen Schauerroman „Der Hund von Baskerville“ tatsächlich in der Gegend ansiedelte. Seinen wohligen Schrecken hat sich das Hochland bis heute bewahrt. Die Moorlandschaft mit vereinzelten Bäumen, die sich gegen den auch Anfang Mai noch eisigen Wind stemmen, dient als großräumiger Truppenübungsplatz. Nicht selten taucht eine Gruppe Soldaten in Tarnkleidung und mit unförmigem Rückengepäck unversehens hinter Erdbuckeln auf, verloren in dunkelgrün-brauner Weite. Wie aus dem Nichts ragt ein gigantisches Gefängnis in die Landschaft. Schilder weisen darauf hin, dass Fahrzeuge auf den Straßen rund um den Betonblock mit den vergitterten Fenstern nicht stehen bleiben dürfen. Bovey Castle ist schließlich so etwas wie ein vergessenes Kulturzentrum, dessen ehemalige Betreiber für die Literatur Immenses geleistet haben, zumindest indirekt. Um 1906 errichtete hier ein Sohn von William Henry Smith ein Herrenhaus, ein Nachkomme jenes WH Smith, dessen Bücher- und Zeitschriftenkonzern bis heute zu den größten der Insel zählt. Ab 1966 markierte der Grossist seine Produkte mit fortlaufenden Ziffern. Die nummerierten Werke wurden zur Initialzündung der so genannten Standardbuchkennzahl. Das Kürzel ISBN ziert heute weltweit jedes Buch.

Man muss von Moretonhampstead aus nicht der B3212 Richtung Cornwall folgen, den Busladungen mit Feriengästen aus aller Welt hinterher, ins fiktive Liebesschnulzen-Reich von Rosamunde Pilcher, die in zahllosen Romanen Felsküsten, Dörfer und Straßenzüge wie liebliche Miniaturmodelle der Realität aussehen lässt. Auf den Besuch des lieblos präsentierten Steinhaufens Stonehenge, zwei gute Autostunden von London entfernt, lässt sich ebenfalls verzichten. Abseits touristischer Trampelpfade bleibt dennoch viel aufzuspüren. Auf der Entdeckungsreise in die südenglische Kulturlandschaft, in der auch Österreichs Literatur eine (wenn auch winzige) Rolle spielt, muss man sich auf den Anblick von Architektursünden, nackten Waden und einer Galerie skurriler Majestäten gefasst machen. Nichts hat man von Großbritannien gesehen, so ließe sich ein Wort Daniel Defoes modifizieren, wenn man den Süden der Insel nicht gesehen hat.

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Von Moretonhampstead ist es nicht weit an die Küste. Plymouth ist ein Hafen mit erdrückender Tradition. Zahllose Gedenktafeln in unterschiedlichen Grautönen zeugen davon. Ein Spaziergang entlang des Ports ist wie ein Gang durch die Weltgeschichte. Von hier aus stachen die Pilgerväter der „Mayflower“ 1620 in See, James Cook brach mit der „Endeavour“ 1768, Polarforscher Ernest Shackleton 1914 ins Unbekannte auf. Aus Plymouth stammt auch Lady Astor, die 1919 zum ersten weiblichen Parlamentsmitglied des Vereinigten Königreichs gewählt wurde. Die Einheimischen erzählen die Geschichte Lady Astors mit schwarzhumorigem Unterton. Churchill wurde einst, weiß ein Flaneur zu berichten, von Astor attackiert: „Wenn ich Ihre Frau wäre, würde ich Ihnen Gift in den Kaffee schütten.“ Kurze Pause vor Churchills Pointe: „Wenn ich Ihr Mann wäre, würde ich ihn trinken.“ Eher gemächlich geht es dagegen entlang der weiter östlich gelegenen Gestade zu. In Beer beispielsweise, eine ausgiebige Autofahrt von Plymouth entfernt, scheint die Sache klar: „We say nothing. We drink“, verheißt ein Schild an der örtlichen Schankstube: Reden ist Silber, Trinken ist Gold. Trockener Witz auch hier: Das „Anchor Inn“ nahe des herb-idyllischen Strands mit den langen Reihen leerer Liegestühle und den verschiedenfarbigen Fischerbooten warnt vor Dieben: „Gangs operieren in der Gegend. Und sie haben Flügel.“ Gemeint sind die Möwen, die das Ufer bevölkern.

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Weiter in nordöstlicher Richtung, ins Landesinnere, nach Sherborne, einer Kleinstadt im Südwesten Englands, berühmt für das jahrhundertealte Kirchengebäude und den Markt, auf dem Kuchen aus Hafer verkauft werden. Das Montacute House etwas außerhalb der Ortschaft ist eine Art lebendiges Museum – und zugleich Teil des National Trust, einer gemeinnützigen Organisation, die sich auf Denkmalpflege und Naturschutz spezialisiert hat. 400 dicht beschriebene Seiten mit historischen Gebäuden, Gärten und Kirchen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, umfasst der aktuelle Katalog der Trägerschaft. Auf Seite 71 findet sich das Montacute House mit dem Hinweis, dass in dem ehemaligen elisabethanischen Herrenhaus 50 Meisterwerke der Malkunst zu besichtigen seien.
Zuerst steht allerdings Gartenkunst auf dem Programm. Sieben Handrasenmäher auf weitläufiger Grasfläche warten zum Ausprobieren auf Kundschaft. Besucher, viele davon in jenen halblangen Hosen, die Freizeit signalisieren sollen, mähen Streifen ins Gras. Gartenpflege wird in Großbritannien mit seltener Leidenschaft betrieben.

Im Haus selbst steht Dave, ein Namensschild an der Brust, schlohweißes Haar, einer der zahllosen Freiwilligen, die dem National Trust ihre Freizeit opfern und als Fremdenführer arbeiten. Dave weiß eine Menge über das Montacute House. Die schlossähnliche Bleibe ist bis obenhin voll mit Kostbarkeiten, die von den Jungaristokraten im 18. Jahrhundert auf der Grand Tour, der obligaten Reise auf das europäi–sche Festland und in den Nahen Osten, mit Wissen und Verstand gesammelt wurden. Dave stolziert durch die Räume. „Ist das nicht fantastisch?“ Er gerät häufig ins Schwärmen.

Vermutlich wurde 1588 mit dem Bau des Landhauses begonnen, das lange als Familiensitz diente. Montacute House wurde dem National Trust, der mit seinem Programm ausgewählter und akkurat in Schuss gehaltener Besuchsorte die Antithese zum Massentourismus darstellt, von einem Enkel Thomas Cooks, dem Pionier eines Fremdenverkehrs der großen Zahlen, um 1930 übereignet. In Montacute House findet sich die „Long Gallery“, der längste Wandelgang Englands, den einst die Damen des Hauses aus Angst vor stilloser Sonnenbräune beschritten. „Lady Cynthia“ und „Lady Irene“ ist auf einer Klingeltafel im Erdgeschoß zu lesen. Einst läutete die Herrschaft, die Dienerschaft eilte herbei. „Upper crust“ als noch heute gebräuchliches Synonym für die oberen Zehntausend stammt ebenfalls aus jener Zeit: Das frische Brot war für die oberen Stockwerke bestimmt, die angekohlte, häufig mit Steinchen und Staub gespickte Bodenkruste blieb den Dienstboten. Museumsführer Dave verweist auf die Schau im Obergeschoß mit nicht wenig maliziösem Hintersinn. Dort sind Gemälde aus der Nationalgalerie zu sehen, darunter die so genannte „Crooked Eye Group“: Vier historische Herrscher des Landes, die auf den Ölbildern schielenden Auges die Zeit überdauern. „Fabelhaft“, sagt Dave.

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Nimmt man auf der Route nach Salisbury einen Umweg in Kauf, erhebt sich inmitten grüner Natur eine Stadt, die wie eine Abbildung aus dem Katalog eines Kinderspielzeugherstellers wirkt. In Poundbury nahe Dorchester wollte sich Prinz Charles einst einen Traum verwirklichen. Des Thronfolgers Vision sah vor, dass im nostalgischen Reißbrettdorf Poundbury jeder Winkel zu Fuß erreichbar sein sollte, keine Satellitenanlagen die zumeist honigfarbenen Häuser verschandeln dürften, die Straßennamen nach Werken des Literaturklassikers Thomas Hardy benannt werden müssten. Seit 1994 wird an der Umsetzung dieser Utopie gearbeitet. In Poundbury gibt es keine Reklame, keine rastlos blinkenden Ampeln, keine maßregelnden Verkehrsschilder. Man ist froh, die architektonische Einöde, deren Einwohner regelrecht zum Glück verdammt sind, schnell hinter sich lassen zu können.

Freundlich ist der Empfang in der Kathedrale von Salisbury. Beim Eingang stehen Roger und Anna, breite Schärpen um den Bauch, auf denen „Welcomer“ steht, Namensschildchen am Revers. Sie verteilen Prospekte und warmherzige Worte, sie deuten auf die in Heimarbeit hergestellten „Kneelers“, kleine, in bestickte Stoffhüllen eingenähte Schaumstoffziegel, die das Hinknien während der Messen erleichtern sollen. In Salisbury lagert auch nationales Kulturgut, ein frühes Dokument der Bürgerrechte: Von den vier noch existierenden Abschriften der Magna Charta ist im Kapitelhaus mit den mittelalterlichen Fresken ein Exemplar unter Glas ausgestellt. Im Dom zu Salisbury wird das Verstreichen der Zeit nicht nur wegen des auf 1215 datierten Pergaments mit der winzig kleinen Schrift spürbar. Hier ist die älteste noch funktionierende Uhr, Baujahr 1386, in Betrieb. 8760 Säulen tragen den Bau. Eine Säule für jede Stunde des Jahres.

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Gegen Ende der Reise kommt endlich ein österreichischer Autor ins Spiel, der vor der nationalsozialistischen Barbarei 1939 nach England floh. Dem Zielort Bath nähert man sich am besten via Glastonbury, Veranstaltungsort eines alljährlich ausgetragenen Musikfestivals und letzte Ruhestätte von König Artus. Von der ehemaligen Benediktinerabtei, in deren Zentrum die Gebeine der Sagengestalt vermutet werden, ragen nur noch gewaltige Steinwände gegen Himmel. In Glastonbury treffen einander Musik, Mythos und Religion: Der Legende nach soll auch der halbwüchsige Jesus dem Ort einen Besuch abgestattet haben. Vom blühenden Weißdorn in der Mauerruine, der an die hohe Visite erinnert, erhält die Queen jedes Jahr einen Sprössling.

In Bath scheint die Faktenlage dagegen gesichert. Hier befindet sich die einzige, bereits von den Römern genutzte Warmwasserquelle der Insel, als Ort der Sommerfrische ist die Stadt legendär. Sehen und gesehen werden, damals wie heute. In dem 90 Bahnminuten von London entfernten Bath suchten einst Künstler und Dichter Erholung von der Metropole. Lang ist die Liste der prominenten Sommerfrischler: Tagebuchschreiber Samuel Pepys, Dichterin Jane Austen, Maler Thomas Lawrence, Ur-Dandy Beau Brummell. Als Stefan Zweig 1939 auf der Flucht vor den Nazis kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Bath eintraf, war vom frivolen Feiern bereits kein Echo mehr vernehmbar. Zu Beginn seines Exils wohnte Zweig im „Grand Pump Room Hotel“, im Schatten der Kathedrale. Auf einer Leiter klettern Engel, in Stein erstarrt, an der Fassade des Doms himmelwärts. Ein Cherub stürzt ins Bodenlose.

Als vorbereitende Reiselektüre sei der Band „Zwei Wochen England“ (Sonderzahl Verlag) empfohlen, in dem sich elf Autorinnen und Autoren österreichischer Provenienz mit der britischen Insel auseinandersetzen.

Weitere Reise-Reportagen lesen Sie hier.

Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer; die Indien-Visiten von Büchner-Preisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk. Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie und den zwischen 2010 und 2012 publizierten poetischen Spurensuchen - etwa in Tel Aviv, Kopenhagen, Kairo, Los Angeles, Costa Rica, China, Griechenland, Abu Dhabi, Rio de Janeiro und Istanbul - begibt sich profil in einer neuen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat: unter anderem in Island, Sizilien, Kuba, der Ukraine, Südengland, Apulien und im Baltikum.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.