„Stadt der verwischten Grenzen“

Ukraine: Galizien und die Bukowina als Zentren der Melancholie

Ukraine. Galizien und die Bukowina als Zentren der Melancholie

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Frau Ivanova ist eine beeindruckende Erscheinung. In gebatiktem Hemd, als wäre sie Montserrat Caballé im Hippie-Ornat, schwirrt sie durch die Oper von Lemberg und erzählt Anekdoten. „Warum war die Loge des Kaisers nicht gegenüber der Bühne angebracht, sondern im Zuschauerraum rechts?“, fragt sie. Kunstpause. „Weil seine Majestät so direkten Zugang zum WC hatte!“ Tamara Ivanova ist Lehrerin im Ruhestand. Welche Funktion sie in den weitläufigen Hallen des Musiktheaters genau erfüllt, ist unklar. Herumirrende Besucher führt sie, so spontan wie beherzt, durch das prunkvolle Gebäude, in einer Mischung aus Russisch, Ukrainisch und radebrechendem Englisch plaudert sie dabei fröhlich los.

Frau Ivanova fügt sich perfekt in Lembergs gelebte Multikulturalität, die historisch begründet ist: „Stadt der verwischten Grenzen“, so nannte Joseph Roth den Ort mit der wechselvollen Geschichte, der heute nahe der polnischen Grenze in der Westukraine liegt. Lemberg ist etwas über eine Stunde Flugzeit von Wien entfernt – scheint von Mitteleuropa jedoch eine halbe Welt weit weg zu sein.

Zu den auffälligsten Wesenszügen der Stadt, die seit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie unter zahllosen politischen Machtwechseln – Stalin-Diktatur, NS-Terror, Sowjet-Regime – zu leiden hatte, zählt die kaiserlich-königliche Nostalgie: Franz Joseph und Elisabeth sind auf Wandmalereien in Restaurants zu sehen, die monarchischen Paradefiguren sind als Nippes allenthalben erhältlich. Bereits 1879 beschrieb Leopold von Sacher-Masoch, einer der großen Söhne der Stadt, seine Rückkehr nach zehnjähriger Abwesenheit von Lemberg als eine Reise in tiefe Vergangenheit: „Es war wie im Märchen, wo nach tausendjährigem Schlaf Alles genau so erwacht, wie es vordem war. Da war noch die vergilbte Lotterietafel neben dem Thore, die alte Treppe und oben die alten geblümten Möbel

Anfang oder Ende
Es lässt sich heute schwer sagen, ob sich bestimmte Orte und Gebäude in Lemberg gerade erst im Entstehen oder bereits im Zustand des Wegdämmerns befinden. So sollen die Fundamente der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Synagoge demnächst erneuert präsentiert werden; die Hinweistafeln, auf denen das Unterfangen angekündigt ist, sind ebenso vergilbt wie das historische Glücksspielschild in Sacher-Masochs Geburtshaus. Kürzlich wurde zumindest die Jesuitenkirche nach Jahrzehnten wieder eröffnet, wenn auch alles andere als glanzvoll: Nach wie vor ziehen sich gewaltige Fehlstellen über Deckenfresken und Wände, es bröckelt der Putz.

Die Besucher des düsteren Gotteshauses scheinen sich daran nicht zu stören. Es herrscht reges Kommen und Gehen, besonders an Sonntagvormittagen, an denen sich die Stadt förmlich in einen gigantischen Freiluftdom zu verwandeln scheint. Durch die Straßen hallen Glockenläuten, Gebete, Predigten, Gesänge. „Sakrales selbst wird hier populär. Die großen alten Kirchen treten aus der Reserve ihres heiligen Zwecks und mischen sich unter das Volk. Und das Volk ist gläubig“, protokollierte bereits Joseph Roth.

Der Schriftsteller wurde 1894 nahe Lemberg geboren. Wassilij Striltschuk, der hünenhafte Chef des Heimatmuseums in der Kleinstadt Brody, führt Interessierte stolz durch den Ort, der sich sichtlich im Umbruch befindet, hin zu jener Schule, die Roth einst besuchte, an der heute eine Gedenktafel angebracht ist. In „Radetzkymarsch“, seinem wohl bekanntesten Werk, stellt Roth die Lebensumstände in Brody alles andere als pittoresk dar: „Von den zehntausend Einwohnern der Stadt ernährte sich ungefähr ein Drittel von Handwerk aller Art. Ein zweites Drittel lebte kümmerlich von seinem kargen Grundbesitz. Und der Rest beschäftigte sich mit einer Art von Handel. Wir sagen: eine Art von Handel – denn weder die Ware noch die geschäftlichen Bräuche entsprachen den Vorstellungen, die man sich in der zivilisierten Welt vom Handel gemacht hat.“

Mit der Geschichte der Stadt pflegt man in Brody inzwischen einen selbstironischen Umgang. Heimatkundler Striltschuk erzählt mit hintergründigem Lächeln, auch Balzac sei von dem Ort und dem Hotel, in dem er einst nächtigte, nicht gerade angetan gewesen. Als architektonisches Juwel hat man sich dagegen die Synagoge vorzustellen – als diese noch stand. Seit Jahrzehnten dämmert der skelettierte Gebäudekomplex zwischen Plattenbauungetümen vor sich hin. Zum Wiederaufbau fehlt das Geld.

Die jüdische Bevölkerung auf dem Gebiet der heutigen Westukraine wurde von den nationalsozialistischen und stalinistischen Regimen nahezu vollständig vertrieben und ermordet. Es sind Geschichten, die von der Armut und den Leiden in jenen jüdischen Vierteln erzählen, die später zu Ghettos werden sollten, von Deportationen und unvorstellbaren Gräueltaten.

Hermann Blumenthal beispielsweise wuchs in Lemberg auf und studierte in Wien. 1944 wurde der Schriftsteller in Auschwitz ermordet. Im Roman „Knabenalter“ beschreibt Blumenthal die Armut des jüdischen Viertels in Lemberg, die Tristesse eines Markttags: „Was in der Stadt morsch und unbrauchbar geworden ist, wird hierhergebracht, und kein Ding ist so schlecht, dass es hier nicht seinen Käufer findet.“

Dass viele der in Galizien und der Bukowina geborenen deutschsprachigen Autoren – Paul Celan, Rose Ausländer, Soma Morgenstern, Gregor von Rezzori, Manès Sperber – in der Ukraine heute wieder bekannt sind, verdankt sich engagierten Intellektuellen wie Petro Rychlo. Der Germanist lehrt an der Universität von Czernowitz, seit Jahrzehnten übersetzt er aus dem Deutschen ins Ukrainische, zuletzt den Briefwechsel von Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Als Treffpunkt wählt Rychlo ein kleines Café in der Nähe seines Arbeitsplatzes. Das Lokal wird von einem Verleger betrieben, der sich ebenfalls auf übersetzte deutschsprachige Bücher spezialisiert hat: eine Literaturdrehscheibe für Studierende, Lehrende und Autoren, nicht zuletzt zum Zweck der gastronomischen Querfinanzierung.
Noch vor wenigen Jahrzehnten interessierte sich hier kaum jemand für die deutschsprachigen Autoren der k.u.k.-Zeit. Im Kommunismus habe man bestenfalls DDR-Literatur zum Lesen bekommen, erinnert sich Petro Rychlo; erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte der Wissenschafter ins Ausland reisen und Gedichtbände westlicher Literaten besorgen. „Ich war bereits damals überzeugt davon, dass in erster Linie jene ausländischen Autoren ins Ukrainische übersetzt gehören, deren Leben und Werk Bezüge zu Galizien und der Bukowina aufweisen.“ Spricht Rychlo über Literatur, so ist die Leidenschaft, die er für seine Disziplin noch immer empfindet, deutlich zu spüren. „Der Schriftsteller Gregor von Rezzori besitzt ein überaus reiches Vokabular, er ist ein glänzender Stilist, auf einem Niveau mit Thomas Mann. Rezzoris Sprache ist zusammengesetzt aus Wörtern aller möglicher Sprachen: russisch, rumänisch, englisch.“ Rezzori (1914–1998), der in Wien, Deutschland und Italien lebte und arbeitete, widmete Czernowitz seinen melancholisch grundierten Roman „Ein Hermelin in Tschernopol“: „Wenn wir in späteren Jahren an unsere Kindheit zurückdachten“, schreibt der Autor, „so kam uns das, was wir von ihr behalten haben, die schmerzliche Erinnerung an ihren Reichtum und ihre Würde, wie eine erschlichene Erbschaft vor.“

Blitzblau, Knallorange, Zitronengelb, Minzgrün
In Lemberg und Czernowitz begegnet man buchstäblich auf Schritt und Tritt auch prominenten Beispielen von k.u.k.-Architektur: Das Czernowitzer Stadttheater erbaute 1905 das Wiener Architektenduo Fellner & Helmer, und der Rathausplatz könnte in einer Kleinstadt des heutigen Österreich liegen. Karl Emil Franzos, 1848 in Galizien geborener und später nach Österreich emigrierter Publizist, schrieb über das historische Zentrum von Czernowitz: „So etwa sieht es in den Vierteln Geidorf oder Leonhard zu Graz aus.“ Andere Gegenden der Stadt, die sich über mehrere Hügel erstreckt, erinnerten Franzos nicht zu Unrecht an den Schwarzwald, an Byzanz, an die USA und England. Eines fällt an diesem Ort sofort auf: die farbenfrohen Gebäude in Blitzblau, Knallorange, Zitronengelb, Minzgrün. Viele Bauwerke wirken wie frisch in Farbe getaucht, ähnlich den zahllosen Kirchen, die den Weg von Czernowitz nach Lemberg säumen. Im Gegensatz zu vielen anderen Häusern in Lemberg befinden sich die ukrainisch-orthodoxen Bauwerke mit ihrer pinkfarbenen Fassade und den goldglänzenden Zwiebeltürmen in gutem Zustand, ebenso die russisch-orthodoxen Kleinarchitekturen in Himmelblau mit ihren silbernen Dächern.
Lemberg und Czernowitz liegen gut 300 Kilometer voneinander entfernt. Der Wiener Musikwissenschafter und Ö1-Moderator Otto Brusatti beklagte bereits vor mehr als zehn Jahren in seinem Buch „Apropos Czernowitz“ nicht nur die ständigen Versuche der Vergangenheitsverklärung, sondern auch den Umstand, dass man für die Autofahrt von Lemberg nach Czernowitz fünf Stunden benötige. Inzwischen ist man bei acht Stunden angelangt. Der desaströse Zustand der Straßen lässt eine Geschwindigkeit von über 30 Kilometer in der Stunde geradezu halsbrecherisch erscheinen, die Vielfalt der unterschiedlichen Beschädigungen des Straßenbelags lässt sich mit „Schlaglöchern“ nur unzureichend beschreiben. Es sind geradezu Gräben, über die Autos und LKWs zu klettern gezwungen sind. Am Wegesrand: hässliche Großgebäude mit möglichst vielen Spitzgiebeln. Frauen mit Kopftüchern bieten Reisigbesen feil, dazu menschenleere Busstationen in der Einöde, Madonnen neben Gartentüren, nachts beleuchtet. Aber auch gepflegte kleine Häuser mit Veranden aus Holz und Bauernanwesen mit mehreren Wirtschaftsgebäuden. Männer sind auf Pferdefuhrwerken unterwegs. Hühner und Gänse kreuzen den Weg. Geld ist hier knapp. Platz dagegen nicht. Viele Menschen des Landstrichs besitzen Gärten, in denen sie Obst und Gemüse anbauen und Kleingetier züchten. Was in den urbanen Gefilden Westeuropas hippe Bobo-Beschäftigung ist, zählt hier zur Überlebensstrategie. Während man in vielen europäischen Ländern die Anhebung des realen Pensionsantrittsalters diskutiert, arbeiten die Leute hier oft bis über ihr 80. Lebensjahr hinaus.

Tobias Vogel, der in Lemberg Deutsch unterrichtet, weiß von solchen Fälle zu berichten. „Viele ältere Universitätsangehörige versuchen, sich entweder selbstständig zu machen oder für Firmen zu arbeiten. Dozenten arbeiten in Callcentern, weil sie dort das Doppelte verdienen.“ Öffentliches Engagement zählt daneben zur ungeschriebenen Bürgerpflicht. „Gerade im Westen des Landes sind die Leute weniger passiv“, so Vogel. „Sozialer Zusammenhalt ist enorm wichtig, man geht auch auf die Straße, um zu protestieren.“

Die postsowjetischen Härten des Alltags meistert man in der Westukraine mit erstaunlicher Flexibilität. Studierte Juristen verdingen sich als Kleinhändler und Fahrer, weil sie die Korruption in ihren einstigen Jobs nicht mehr mitzutragen gewillt sind. Alleinerziehende berufstätige Frauen erhalten ihre Kinder und Eltern. Und pensionierte Lehrerinnen, die als Soubretten durchgehen würden, bieten Touristen Führungen gegen Trinkgeld an – Nostalgie-Faktor inklusive.

Reiches Land, arme Leute
Die Westukraine in der deutschsprachigen Literatur.

Den wohl besten Einstieg in die deutschsprachige Literatur über die westliche Ukraine bieten die drei Bände aus der Serie „Europa erlesen“ über Lemberg, Czernowitz und Galizien und der Sammelband „Das reiche Land der armen Leute“ von Martin Pollack und Karl-Markus Gauß (alle: Wieser Verlag) sowie das Buch „Heimkehr. Anthologie der deutschsprachigen Literatur Galiziens und der Bukowina“ (Surma Verlag). Zur weiteren Annäherung an Land und Leute empfehlen sich neben Leopold von Sacher-Masochs „Souvenirs. Autobiografische Schriften 1“ (Belleville) auch Joseph Roths „Radetzkymarsch“ (Insel), dessen Handlung teils in Brody angesiedelt ist, sowie dessen Erzählung „Das falsche Gewicht“ (Reclam). Eine ironische Charakterisierung von Czernowitz findet sich in Gregor von Rezzoris „Ein Hermelin in Tschernopol“ (Berlin Verlag). Publikationen jüngeren Datums: Martin Pollacks historischer Reiseführer „Galizien“ (Insel) und der so kritische wie liebevolle Czernowitz-Essay Otto Brusattis, illustriert mit Arbeiten des Fotografen Christoph Lingg („Apropos Czernowitz“, Böhlau).

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Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer; die Indien-Visiten von Büchner-Preisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk. Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie und den zwischen 2010 und 2012 publizierten poetischen Spurensuchen - etwa in Tel Aviv, Kopenhagen, Kairo, Los Angeles, Costa Rica, China, Griechenland, Abu Dhabi, Rio de Janeiro und Istanbul - begibt sich profil in einer neuen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat: unter anderem in Island, Sizilien, Kuba, der Ukraine, Südengland, Apulien und im Baltikum.

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer