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Schlaraffenland war gestern: Wie Netflix & Co aus der Streaming-Krise kommen wollen

Streiks, leere Kassen und gelöschte Inhalte sind im Fernsehbusiness an der Tagesordnung: Eine Dekade nach dem Einläuten des Streaming-Booms steckt die Branche in einer tiefen Krise. War die Idee besser als das Geschäftsmodell? War’s zu viel des Guten? Was jetzt kommen wird.

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Alle waren sie da, wollten es aus der ersten Reihe erleben. Dieses besonders rauschende Fest in einem Berliner Nachtclub, das Glam und große Gesten verhieß, einen echten Rausch der Sinne. Dass zu jeder würdigen Party aber auch ein Morgen danach gehört, der böse Überraschungen bereithalten kann, hatte man geflissentlich verdrängt – bis es zu spät und der Kater da war.

Es ist leider naheliegend, das Setting der Krimiserie „Babylon Berlin“ als Folie für das zu nehmen, was sich in den letzten Wochen in deren Senderheimat Sky Deutschland abgespielt hat. Dort war man soeben aus dem acht Jahre lang verfolgten Traum erwacht, von Deutschland aus jene Art von Prestige-TV zu entwickeln, die man bis dahin vor allem aus den USA kannte: Und so wurde bei dem Anbieter, der auf ein Hybridmodell aus linearem Fernsehen und Streaming-TV setzt, der Versuch, sich inhaltlich mit der internationalen Konkurrenz zu messen, Ende Juni ein für alle Mal für beendet erklärt – und der Geldhahn für eigene Film- und Serienproduktionen abgedreht. Abgesehen von Aushängeschildern wie eben „Babylon Berlin“ und der Wiederaufnahme von „Das Boot“ dürften schlicht zu wenige der vergleichsweise kostspieligen „Sky Originals“ Resonanz gefunden haben. Probe aufs Exempel: „Tender Hearts“ – süßer Snack oder Serie mit Heike Makatsch?

Auf die lokale Produktionslandschaft hat das Versiegen der Sky-Ambitionen gravierende Folgen: Von einem „erheblichen Verlust für den Kreativmarkt in Deutschland“ spricht Nico Hofmann, CEO der Berliner Filmfirma UFA, im Interview mit dem Magazin DWDL.de sowie von einer „Neubewertung von Streaming und Investitionen in Fiktion“ – und zwar „weltweit“. In der Tat kann der Fall Sky Deutschland nicht losgelöst von globalen Entwicklungen betrachtet werden: Alle Player müssen in diesen Tagen eingestehen, dass das Kartenhaus, das sie – von der Streaming-Goldgräberstimmung angespornt – errichtet haben, ökonomisch auf fast leichtsinnig wackligen Beinen steht; so obligatorisch wie das Plus in etlichen entsprechenden Markennamen (Disney+, AppleTV+ etc.) ist nur das Minus auf den Konten. Was ist da bloß schiefgelaufen? Und welche Folgen haben die Entwicklungen in der Branche für die diversen Parteien: die Studios und Services, die Kreativen, die für die Inhalte verantwortlich zeichnen, und die Menschen, die diese konsumieren?

Partei 1: Die Studios und Streamingdienste

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Bau dieses Kartenhauses just mit „House of Cards“ begann – als Netflix am 1. Februar 2013 die erste Staffel jener Serie zur Gänze veröffentlichte. So brach man mit der Tradition der wöchentlichen Episodenausstrahlung und bot die bis dato ungeahnte Möglichkeit, eine neue Reihe in einem Stück zu schauen. Doch der digitale Revolutionär wollte nicht nur die Sehgewohnheiten mit dem Konzept des Binge Watching für immer verändern, er schickte sich auch gleich an, die restlichen Regeln des Spiels neu zu schreiben – mit einer in der TV-Industrie bis dato beispiellosen Inhaltsflut und Ausgabenfreude.

Bis zu 17,5 Milliarden Dollar (Spitzenwert 2021) investierte Netflix-Gründer Reed Hastings fortan jährlich und bewusst global, damit etwa Oscar-Regisseure lang gehegte Herzensprojekte exklusiv für den Streaming-Platzhirsch verwirklichen und A-List-Schauspielerinnen in den teuersten Blockbustern mitwirken konnten, die kaum je ein Kino von innen sehen würden. Der Plan ging auf, Konsumenten nahmen das Angebot weltweit hundertmillionenfach dankbar an. Folglich begannen die etablierten Studios, mitunter zögerlich, ihre Geschäftsmodelle auch auf digitale Füße zu stellen und nun ihrerseits Unsummen in On-Demand-Services zu buttern. Mit dieser Wette auf eine strahlende Streaming-Zukunft gingen Disney, Warner, Paramount und Co freilich sehenden Auges das Risiko ein, ihre bisher verlässlichsten Einnahmequellen (Lizenzen, Kinoauswertung u. a.) versiegen zu lassen – die Panik, vom zu verteilenden Kuchen nichts abzubekommen, war einfach größer als alle Zweifel.

In den letzten beiden Jahren hat sich indes bei allen Akteuren die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieser Kuchen weniger ergiebig ist als der, den man aus der Hand gegeben hat – und dass die Zutaten in Form von Investitionen in immer mehr Stoff für hoffentlich immer mehr Abonnentinnen und Abonnenten mehr kosten, als man am Ende einnehmen kann. Selbst finanzstarken Mitbewerbern wie Apple oder Amazon dürften größere Flops in ihrem TV-Business wehtun – man denke an die Milliarden, die die 2022 begonnene „Herr der Ringe“-Serie auf Prime Video gekostet hat, und den gar geringen Hype, den sie auslösen konnte.

Als sich zum ohnehin fragilen Geschäftsmodell zuletzt auch noch ein Einbruch des ohnehin oft auf Pump finanzierten Wachstums gesellte, wurden auch die Investoren nervös. Und mit ihnen die Anbieter – was zu einer kuriosen Wende des Wettbewerbs um 180 Grad führte. Wo eben noch versucht wurde, sich im Bieten um Stars und Stoffe zu übertrumpfen, geht es nun nur noch darum, am stärksten an der Sparschraube zu drehen, mehr geplante Projekte zu streichen, mehr Serien und Filme aus seinen Bibliotheken zu eliminieren.

Partei 2: Die Kreativen

Aber nicht nur mit diesen Maßnahmen versucht die Branche derzeit verzweifelt, sich zu konsolidieren – die Kostenminimierung wird auch mit Personalkürzungen vorangetrieben: Bei Disney etwa wurden heuer bereits 7000 Menschen freigestellt. Andere Beschäftigte mussten länger schon die Suppe auslöffeln: die übervorteilten Autorinnen und Autoren etwa, die sich deshalb seit Mai im Streik befinden.

Wie schlecht es um die Verteilungsgerechtigkeit im vermeintlich goldenen Streaming-Zeitalter bestellt ist, zeigt ein besonders krasser Fall: jener der offiziell meistgesehenen Originalserie in der Geschichte von Netflix. Selbst für das Unternehmen unerwartet hat sich das südkoreanische „Squid Game“ im Herbst 2021 zu jenem popkulturellen Phänomen entwickelt, hinter dem alle her sind. Nicht zuletzt ob der damit verbundenen Zahlen: Der Wert von Netflix stieg durch den Erfolg der Show um 900 Millionen Dollar. Serienerfinder Hwang Dong-hyuk blieb vom Geldregen aber ausgeschlossen – dank der branchenüblichen Vertragsklausel, auf alle geistigen Eigentumsrechte und zuschauerabhängige Zusatzvergütungen zu verzichten.

Worum es der Writers Guild of America, der Drehbuchgewerkschaft, mit ihrem aktuellen Arbeitskampf (unter anderem) geht, wird an solchen Beispielen deutlich. Die Streikenden fordern eine gerechtere Honorierung ihrer Arbeit an Streaming-Programmen – insbesondere die Einführung einer Residualvergütung, die in Abhängigkeit von den Abrufzahlen auf die Grundvergütung aufgeschlagen wird. Die Kreativen haben also ein Update jener Abmachung im Sinn, die in der alten Fernsehwelt galt: Je mehr Millionen du vor die Schirme lockst, desto mehr Millionen landen auf deinem Konto.

Denn der Streaming-Deal, bei dem Showrunner und Autorinnen für ihre Leistungen bereits im Vorfeld ausreichend entlohnt werden, sodass sie auch bei einem Flop mit einem gewissen Gewinn aussteigen können, hat zwar zweifellos dazu geführt, dass mehr und mutigere Ideen umgesetzt werden und damit auch Personen in Hollywood Fuß fassen können, denen dies früher verwehrt geblieben wäre. Gerade in den Boom-Jahren wurde aber auch übersehen, dass dies viele in der Branche in die finanzielle Tristesse führte.

Partei 3: Die Konsumenten

599: Diese Zahl kann verdeutlichen, warum alles aus dem Ruder laufen musste. Nach einer Zählung von FX Networks handelt es sich dabei um die Gesamtzahl allein der Fiction-Serien für Erwachsene, die Sender und Streamer 2022 auf ihr Publikum losgelassen haben – nur der englischsprachigen Serien wohlgemerkt. Zum Vergleich: 2002 waren es 182; 2012, kurz vor der Netflix-induzierten Content-Schwemme, 288. Bereits 2016 wurde für diese Explosion der Begriff Peak TV geprägt – dem damaligen Gipfel folgten freilich noch weitaus höhere.

Doch nicht nur die Zahl der Shows an sich, auch die Zahl der unverzichtbaren Produktionen ist rasant gestiegen – und damit die Angst, im unüberschaubaren Angebot genau diese eine wendungsreiche Spionageserie, diese eine böse Satire oder dieses eine lebensverändernde Drama zu verpassen. FOMO, fear of missing out: natürlich ein Luxusproblem. Denn selbst wenn man sich durch zwei, drei Rohrkrepierer kämpfen muss, kann man sicher sein, in der schönen neuen Streaming-Welt genügend großartige Filme und Serien zu finden, die es ohne den manischen Wettlauf der Dienste nie gegeben hätte.

Dass man sich im Streaming-Schlaraffenland lange zu wohlfeilen Tarifen überfressen konnte, war ein willkommener Bonus, der inzwischen der Vergangenheit angehört. Die Industrie hat mit lokal unterschiedlicher Intensität begonnen, auch bei ihrem Publikum härter zu kalkulieren. Vorreiter: erneut Netflix, das seine Konditionen kontinuierlich zu Ungunsten der User anpasst. Das betrifft neben Preiserhöhungen auch einst undenkbare Einschnitte. In Kanada bietet das Unternehmen sein günstiges Abo-Modell nur noch werbeunterstützt an, während die Zeiten des Account-Teilens auch in unseren Breitengraden bereits Geschichte sind. Aus Netflix & Chill wurde: Netflix & Extra Bill – Zusatzzahlungen statt TV-Entspannung. Der schlimmste Tabubruch ist derzeit aber das oft überaus kurzfristige Entfernen von Titeln aus den Katalogen. Des einen smarte, steuerschonende Business-Entscheidung ist der anderen ewige Groll über das nie gesehene Finale der zuvor wochenlang verfolgten Lieblingsserie.

Nicht alle Konsumentinnen sind bereit, in Zeiten enger geschnallter Gürtel solche Zumutungen hinzunehmen, wie eine aktuelle Streaming-Studie von Simon-Kucher nahelegt, derzufolge etwa jeder dritte deutsche Nutzer plant, im kommenden Jahr ein TV-Abo zu kündigen. Was wird leichter abbestellt als ein Dienst mit unbeständigem Angebot – sei es wegen spontaner Absetzungen oder auch nahender Versorgungsengpässe durch den Writers’ Strike, zu dem sich mittlerweile ein Ausstand der Schauspieler gesellt hat?

Was bringt die Zukunft?

Aber auch an jenen Streaming-Diensten, die sich mit gut gefüllten Content-Bibliotheken für den Streik gerüstet haben, wird die aktuelle Zäsur nicht spurlos vorüberziehen. Die nächsten Jahre dürften für die gesamte Branche schwierig werden. Jene, deren Taschen noch tief genug sind, werden sich in Zukunft – dann mit hoffentlich fairer vergüteten Schreibkräften – auf weniger Projekte konzentrieren, die auch weniger gewagt, berechenbarer und weniger vielfältig ausfallen dürften als zu den Hochphasen des Peak TV. Die angekündigten Ausschlachtungen der „Harry Potter“- und „Twilight“-Sagen lassen vermuten, dass man auch bei der Konkurrenz zunehmend Gefallen am TV-Blockbuster-Prinzip findet, das vor allem Disney mit seinen „Star Wars“- und Marvel-Shows länger schon mit so gnaden- wie einfallsloser Perfektion betreibt.

Für den weniger liquiden Teil der Branche stehen die Zeichen wohl oder übel auf Restrukturierung: Angeschlagene Anbieter werden verschwinden, fusionieren oder neue Eigentümer finden – Gerüchte über einen Verkauf von Sky Deutschland halten sich beispielsweise hartnäckig. Fachleute gehen davon aus, dass sich mittelfristig eine Handvoll Dienste halten dürfte; aus Sicht der Verbraucher steht zu befürchten, dass weniger Wettbewerb nicht nur mit einer geringeren, tendenziell gleichförmigeren Auswahl, sondern auch mit höheren Abo-Preisen einhergehen wird. Magische Mattscheiben-Momente mit unerwarteten Meisterwerken und überwältigenden Entdeckungen wird es auch weiterhin geben – aber wohl nicht mehr in so großer Zahl, dass man sie lange suchen müssen wird.