Titelgeschichte

Der Fall Wien Energie: Schutzschildbürger

Wie es bei der Wien Energie zu jener fatalen Fehleinschätzung kam, deretwegen nun die Steuerzahler mit Milliarden aushelfen müssen.

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Wenn die Stadt Wien Geld abheben geht: Am 26. April 2022 hielt die Wiener Stadtwerke GmbH ihre ordentliche Generalversammlung ab. Die hochkarätigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wohnten dem notariell beaufsichtigten Prozedere teils vor Ort in einem Sitzungsraum im

11. Wiener Gemeindebezirk bei, teils über eine Videoschaltung per Microsoft Teams. Als Vertreter der Stadt – und somit der Alleingesellschafterin – fungierte gemäß dem im Firmenbuch hinterlegten Protokoll SPÖ-Finanzstadtrat Peter Hanke persönlich. Einer der gefassten Beschlüsse: Die Stadtwerke sollten ihren gesamten, im jüngsten Jahresabschluss ausgewiesenen Bilanzgewinn von 16 Millionen Euro an die Eigentümerin Stadt Wien ausschütten. Das Geld kann man im Rathausbudget offenbar besser gebrauchen als im Unternehmen – so schien es damals zumindest.

Auf den formellen Part der Sitzung folgten Lob-und Dankesreden. Hanke gab die Richtung für die Zukunft vor. Im Protokoll wurden unter anderem folgende salbungsvollen Worte des Stadtrats dokumentiert: „Das Ziel lautet nun, auf diesem erfolgreichen Weg weiterzugehen und das zu tun, was der Konzern gut macht, nämlich richtig zu investieren und seiner Verantwortung für die Wienerinnen und Wiener auch bei wachsenden Herausforderungen stets gerecht zu werden.“

Der Stadtwerke-Konzern ist zweifelsohne ein Herzstück im wirtschaftspolitischen Gefüge des roten Wien. Zu ihm zählen wesentliche Unternehmensbeteiligungen – etwa die Wiener Linien, aber vor allem auch die Wien Energie, die mehr als zwei Millionen Kundinnen und Kunden mit Strom, Gas und Fernwärme versorgt. Während man Ende April bei der Stadtwerke-Sitzung Freundlichkeiten austauschte und einen zweistelligen Millionenbetrag aus dem Unternehmen abfließen ließ (für das aktuelle und das kommende Geschäftsjahr verzichtet die Stadt übrigens auf eine Dividende), lief im Konzern längst eine Fehlentwicklung, die Ende August beinahe zum wirtschaftlichen GAU führen sollte. Um ein Haar hätte die Wien Energie einer Zahlungsverpflichtung an der Strombörse nicht nachkommen können. Ein „Größter Anzunehmender Unfall“ mit potenziell dramatischen Konsequenzen.

Abgewendet werden konnte die Gefahr nur, weil ab Mitte Juli mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ein Milliarden-Schutzschild über der Wien Energie errichtet worden war. Ein erster Teil von 700 Millionen Euro wurde still und heimlich per Ausnützung einer „Notkompetenz“ durch den Wiener SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig zur Verfügung gestellt. Eine zweite Wiener Tranche von weiteren 700 Millionen Euro folgte Ende August – wieder per „Notkompetenz“. Da dieser erste Schild von insgesamt 1,4 Milliarden Euro zu klein zu werden drohte, musste unter großem öffentlichen Aufsehen dann jedoch auch noch der Bund beispringen. Vergangene Woche sicherte die Regierung der Stadt Wien im Wege der Österreichischen Bundesfinanzierungsagentur eine Kreditlinie von bis zu zwei Milliarden Euro zu, um dem Energieversorger gegebenenfalls unter die Arme greifen zu können.

Seither stehen dringende Fragen im Raum: Was war da eigentlich genau los? Haben sich die Wiener an der Börse verzockt oder sind sie unverschuldet Opfer einer einmaligen, hochgradig verrückten Marktentwicklung geworden? Ist die Versorgungssicherheit oder gar der Bestand der Wien Energie gefährdet? Müssen sich die Steuerzahler von den Hilfsgeldern endgültig verabschieden oder kommen diese am Ende des Tages wieder retour? Haben die anderen österreichischen Energieversorger ähnliche Probleme? Und was heißt das alles für die Kunden? Selten noch war auch für Experten und geübte Beobachter eine unternehmerische Problemlage so schwierig zu durchschauen. Nur nach und nach lichteten sich die Nebel aus Polit-Spin und Finanzmarkt-Sprech. profil hat im Rahmen einer umfassenden Recherche Antworten gesammelt.

Die am Sonntagabend vor einer Woche überraschend bekannt gewordene Notlage bei der Wien Energie hat mit einem auf den ersten Blick überraschenden Faktum zu tun: An den Energiebörsen gibt es Fälle, bei denen zunächst der Verkäufer Geld bezahlen muss – unter Umständen sehr viel Geld. Ihren eigenen Angaben zufolge veräußert die Wien Energie über die Börse große Mengen an Strom für zwei Jahre im Voraus zu einem bereits jetzt festgelegten Preis. Man spricht hier von Termingeschäften, konkret von sogenannten Futures. Die Stromproduzenten können sich auf diesem Weg gegen Preisschwankungen absichern und wissen, mit welchen fixen Erlösen sie zu rechnen haben. Die Stromkäufer sichern sich im Gegenzug eine garantierte Energielieferung. Das ist wichtig für die Versorgungssicherheit. Ohne solche Termingeschäfte könnten Energieversorger ihren Haushaltskunden keine fixen, sondern nur Floater-Tarife anbieten, die je nach Entwicklung des Strompreises – üblich ist monatlich – angepasst werden.

Die Energiebörsen fungieren bei solchen Futures nicht nur als reine Handelsplätze. Sie sind mit Clearingstellen gekoppelt, die dem jeweiligen Käufer und Verkäufer garantieren, dass das Geschäft wie vereinbart stattfindet. Zu diesem Zweck müssen beide Handelspartner bei der Clearingstelle Sicherheiten hinterlegen – sogenannte Margins. Ein Teil dieser Sicherheiten wird täglich neu berechnet. Steigen die Strompreise, muss der Verkäufer Geld nachschießen, sinken sie, trifft die Nachschussverpflichtung den Käufer. Ein solcher Cash-Ausgleich erfolgt bei Futures täglich. Angenommen, ein Produzent bietet eine Stromlieferung für heute in einem Jahr um 100 Euro je Megawattstunde an. Steigt der Strompreis zwischenzeitlich auf 150 Euro, ereilt ihn ein sogenannter Margin Call, und er muss 50 Euro nachzahlen. Sinkt der Preis jedoch auf 50 Euro je Megawattstunde, liegt es am Käufer, 50 Euro nachzuschießen. Damit sind die Geschäftspartner wechselseitig abgesichert. Denn wenn der Produzent zum vereinbarten Termin nicht liefern kann, etwa weil er pleitegegangen ist, müsste der Käufer seinen Strom zum tagesaktuellen Preis von 150 Euro kaufen und könnte ihn nicht wie vereinbart um 100 Euro beziehen. Liegt der tagesaktuelle Preis zum Liefertermin jedoch bei 50 Euro und der Käufer ist nicht in der Lage den Strom abzunehmen und zu bezahlen, müsste der Produzent seine Energie zu dem tieferen Preis einem anderen Abnehmer verkaufen. Die Margins dienen also dazu, dass beim Ausfall eines der beiden Vertragspartner die Börse den jeweils anderen schadlos halten kann. Geht das Geschäft wie ursprünglich geplant über die Bühne, erhalten beide Geschäftspartner ihre eingezahlten Sicherheiten zurück.

Das Milliarden-Problem der Wien Energie: Die Strompreise sind in den vergangenen Monaten nicht nur um die Hälfte gestiegen, sondern um das X-Fache. Grund dafür war zunächst ab Mitte 2021 der Post-Corona-Wirtschaftsaufschwung, danach der Ukraine-Konflikt. Steigende Strompreise führen dazu, dass die Wien Energie als Verkäuferin während der Laufzeit der Terminkontrakte die Preisdifferenz vorübergehend in Form von Cashzahlungen als Sicherheit hinterlegen muss. Die entsprechende Abrechnung der Börsen-Clearingstellen kommt üblicherweise am Morgen nach dem jeweiligen Handelstag. Am Freitag vor eineinhalb Wochen schnalzte der Strompreis enorm in die Höhe, der folgende Margin Call machte für die Wien Energie dann mehr als 1,7 Milliarden Euro aus – der Auslöser für den Canossagang zum Bund.

Zwar bestritt die Wien Energie, insolvenzgefährdet zu sein. Eine Nichtleistung der geforderten Marginzahlung hätte jedoch ungeachtet dessen dramatische Auswirkungen gehabt. Schließlich waren damals bereits gut 1,5 Milliarden Euro an derartigen Sicherheiten bei der Clearingstelle hinterlegt. Diese wären jedenfalls weg gewesen – ein riesiger Verlust.

Eine zentrale Frage ist, ob die Wien Energie früher gegensteuern hätte müssen. Wifo-Experte Michael Böheim meint gegenüber profil: „Offensichtlich wurde seitens der Wien Energie nicht in ausreichendem Ausmaß auf das gestiegene Risiko und die Volatilitäten reagiert, indem die eingegangenen Kontrakte an die erratische Marktentwicklung angepasst wurden. Es sieht von außen betrachtet ganz so aus, als wäre im Risikomanagement einiges schiefgegangen. Da muss man auch Fehler eingestehen und Verantwortung übernehmen können.“

Seitens der Wien Energie wischte man derartige Einschätzungen vergangene Woche als „Ferndiagnosen“ vom Tisch. Geschäftsführer Michael Strebl zeigte sich bei einem ersten ausführlichen Journalistengespräch mehrere Tage nach Bekanntwerden der Problemsituation weiterhin davon überzeugt, dass es richtig gewesen sei, den Strom über Börsenkontrakte zu verkaufen – und nicht etwa an direkte Abnehmer, bei denen keine Margins anfallen würden. Derartige direkte Deals zwischen Verkäufer und Käufer nennt man auch „Over-the-counter“-Geschäfte (OTC-Geschäfte). OTC-Termingeschäfte werden nicht Futures, sondern Forwards genannt, funktionieren aber prinzipiell ähnlich. Allerdings verzichten hier die Geschäftspartner oft darauf, voneinander Sicherheiten zu verlangen. In diesem Fall ist das Ausfallsrisiko freilich nicht abgesichert. Kann einer der Geschäftspartner nicht liefern oder nicht zahlen, hat sein Gegenüber automatisch ein Problem.

Mit diesem Argument verteidigt auch Wien-Energie-Chef Strebl die Tatsache, dass sein Unternehmen trotz der Ukraine-Krise weiterhin laufend und praktisch täglich (Fachausdruck: „rollierend“) langfristige Termingeschäfte an den Börsen abschließt. Außerdem verweist die Wien Energie darauf, dass man insgesamt eine gute Balance zwischen Stromverkauf und Gaskauf über die Börse gefunden habe. Offenbar wollte man daran nicht wirklich rütteln. Strebl sieht in der Preisentwicklung am „Schwarzen Freitag“, wie er den 26. August bezeichnet, einen nicht vorhersehbaren „Tsunami“. Freilich gibt auch Strebl zu, dass man sich bereits vorher auf „ordentlich bewegter See“ befunden habe.

Tatsächlich stiegen die Margin-Verpflichtungen der Wien Energie bereits im Jahr 2021 deutlich an. Im Jahr 2022 setzte sich diese Tendenz fort. Die Wien Energie reagierte darauf jedoch nicht, indem sie ihr Börseportfolio reduzierte. Stattdessen versuchte man, sich mit zusätzlichen liquiden Mitteln einzudecken, um die steigenden Sicherheiten leisten zu können. Strebl bestritt gegenüber Journalisten vehement und wiederholt, dass sich die Wien Energie verspekuliert habe. Spekulation liege dann vor, wenn es „losgelöst vom Grundgeschäft ein weiteres Geschäft gibt“, meint Strebl. Das sei nicht der Fall. Damit zieht der Manager die Finanzmarkt-Definition heran, die ein Finanzinstrument – etwa einen Terminkontrakt – dann als spekulativ einordnen würde, wenn dieser nicht oder nicht vollständig mit einem zugrunde liegenden realen Geschäft verknüpft ist. Laut Wien Energie verkauft man jedoch einfach nur Strom, den man tatsächlich produziert. Spekulation wäre gemäß interner Richtlinien dezidiert verboten.

Es gibt einen Aspekt im Fall Wien Energie, der zwar nicht die Finanzmarktdefinition von Spekulation erfüllt, jedoch zumindest nach landläufigem Verständnis sanft in diese Richtung gedeutet werden könnte. Tatsächlich hatte die Wien Energie einen gewissen wirtschaftlichen Anreiz, trotz zunehmend schwieriger Marktsituation ihren Terminhandel an der Börse nicht einzuschränken: Die Wien Energie verkauft über Terminkontrakte auf der einen Seite Strom und kauft auf der anderen Seite ebenfalls über Termingeschäfte Gas, um diesen Strom zu produzieren. Über die vergangenen Monate hinweg ist der Gaspreis jedoch weniger stark gestiegen als der Strompreis. Dadurch erhöht sich der „Deckungsbeitrag“ der Gaskraftwerke. Mit anderen Worten: Die Wien Energie kann mit einem schönen wirtschaftlichen Ergebnis rechnen, weil man Strom zu hohen Preisen verkauft, den man zu vergleichsweise geringen Preisen produziert. Setzt man den Handel aus, verzichtet man auf diesen Deckungsbeitrag. Aus dem Unternehmen ist zu hören, dass dies durchaus auch ein Grund war, den Handel mit Termingeschäften nicht einzuschränken. Möglicherweise hätte ein früherer Stopp neuer Handelsgeschäfte allerdings dann am „Schwarzen Freitag“ zu einer geringeren Belastung bei den Sicherheiten geführt.

Folgt man dieser Argumentation, dann hätte die Wien Energie – auch mit Blick auf verlockend gute Deckungsbeiträge – darauf spekuliert, dass sie zu jeder Zeit ausreichend Liquidität für Margin-Leistungen auftreiben kann, ohne den Börsenhandel einschränken zu müssen. Ein Irrglaube.

An jenem „Schwarzen Freitag“ war es nämlicher kurioserweise dann zu viel des Guten: Der – eigentlich durchaus begrüßte – Preisabstand zwischen Strom- und Gaspreis ging so weit auseinander, dass die Wien Energie zwar riesige Margins auf ihre Stromverkäufe leisten musste, jedoch nur vergleichsweise geringe Sicherheiten aus ihren Gas-Terminkäufen vereinnahmen konnte. In einem Journalistengespräch legte das Unternehmen offen, dass ein solches Szenario bei keinem der vorangegangenen Stresstests gerechnet worden sei. Zusammengefasst heißt das: Man hat sich möglicherweise im finanztechnischen Sinn nicht verspekuliert – falsch eingeschätzt wurde die Risikosituation jedoch ganz offensichtlich schon.

Ein Grundproblem ist, dass die Margins, die ein Verkäufer bei steigenden Preisen hinterlegen muss, unbegrenzt nach oben gehen können. Finanzexperte Gerald Zmuegg, der sich seit Langem mit Derivatgeschäften und deren Wirkung auseinandersetzt, verweist darauf, dass die Nachschussverpflichtung während der Laufzeit der Kontrakte im Falle steigender Preise unlimitiert ist. Durch sinkende Strompreise sei in der vergangenen Woche zwar zunächst wieder eine Entspannung eingetreten: „Das ist vorbei, wenn die Preise wieder steigen und ein Niveau erreichen, bei dem die jetzt zusätzlich zur Verfügung gestellte Liquidität nicht ausreicht.“

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob ein Geschäftsmodell, dem ein derartiges Risiko innewohnt, als tragfähig anzusehen ist. Selbst wenn ein solcher Preisausschlag wie am 26. August noch nie da gewesen ist – dass die Märkte verrückt spielen, war wohl auch vorher schon bekannt. Ein kleines Privatunternehmen, das einen entscheidenden Grundparameter seiner Geschäftstätigkeit falsch einschätzt – und sei es völlig unverschuldet –, würde kaum mit Geld der Steuerzahler vor den Konsequenzen bewahrt werden.

Bei der Wien Energie zeigt sich freilich ein Phänomen, das in Zusammenhang mit Staatshilfen für Unternehmen generell eine große Rolle spielt: Als Konzern mit zwei Millionen Kunden ist die Wien Energie letztlich „too big to fail“ – zu groß, um scheitern zu können.

Zwar sieht die österreichische Gesetzeslage vor, dass Kunden beim Zusammenbruch eines Energieversorgers auf andere Anbieter aufgeteilt werden. Ein Praxistest in dieser Größenordnung ist freilich bislang unterblieben. profil fragte diesbezüglich bei der Regulierungsbehörde E-Control nach. Diese ließ wissen: Im Falle einer Insolvenz eines Energieversorgers weist die Behörde in einem genau geregelten Verfahren die Kunden per Los einem neuen Energielieferanten zu. Der neue Lieferant muss die Betroffenen über den neuen Preis und die Vertragsbedingungen informieren. Betrifft die Pleite jedoch ein Unternehmen mit zwei Millionen Kunden, würden diese Mechanismen wohl nicht greifen können. „Das müsste dann auf politischer Ebene entschieden werden, ob in so einem Fall eventuell eine Auffanggesellschaft gegründet werden müsste, die dann die Kunden versorgen würde“, heißt es aus der E-Control. Aber das müsste man sich im konkreten Fall genau anschauen.

Gebetsmühlenartig hieß es in den vergangenen Tagen, andere heimische Energieversorger hätten derzeit keine Probleme. Ein genauerer Blick auf die Landesenergieversorger zeigt jedoch eine teils durchaus angespannte Situation.

Im Jahresabschluss der Energie Steiermark zum 31. Dezember 2021 heißt es etwa, dass die rasanten Steigerungen der Energiepreise auf den Großhandelsmärkten „die Resilienz des Unternehmens im Kerngeschäft schwer getestet und vor große Herausforderungen gestellt“ hätten. Eine Erhöhung der Rohstoffpreise bei Gas und Strom um (lediglich) zehn Prozent hätte zum damaligen Stand bereits zu einem Sinken der Vermögenswerte und einem Anstieg der Verbindlichkeiten aus Derivaten im Ausmaß von jeweils zwei- beziehungsweise dreistelligen Millionenbeträgen geführt. profil-Informationen zufolge ereilte den steirischen Energieversorger bereits im Frühjahr ein Margin Call – also die Aufforderung, Geld nachzuschießen – in Höhe von rund 400 Millionen Euro. „Im Börsenhandel sind für die Energie Steiermark täglich Margins und Sicherheitsleistungen zu verbuchen. Parallel dazu erfolgen täglich entsprechende Auflösungen und Rückerstattungen. Aber Details werden von uns generell nicht kommuniziert“, sagt Konzernsprecher Urs Harnik-Lauris gegenüber profil.

Ganz so alltäglich dürfte der Vorgang nicht gewesen sein. Tatsächlich hat es im März die gesamte Branche ordentlich durchgerüttelt und ziemlich kalt erwischt. Kurz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine erreichten die Energiepreise erste Rekordspitzen, an den Terminmärkten mussten exorbitant gestiegene Sicherheitsleistungen erbracht werden. „Die extremen Verwerfungen der Energiemärkte stellen im Moment alle Energieunternehmen vor eine nie da gewesene, herausfordernde Situation. Für die an den Börsen zu hinterlegenden Sicherheitsleistungen hat sich die Energie Steiermark mit hinreichender Liquidität bei nationalen und internationalen Banken eingedeckt. Dies ohne Garantien der Eigentümer“, sagt Harnik-Lauris. Auch auf eine Verschärfung der Entwicklungen sei man vorbereitet.

„Die dynamische Entwicklung auf den internationalen Großhandelsmärkten erhöht jedenfalls die Anforderung an die Unternehmensliquidität für den kommenden Winter“, sagt Stefan Zach, Sprecher der EVN. Der niederösterreichische Energiekonzern schließe unterschiedliche Arten von Geschäften auf Termin ab, vor allem Forwards, Swaps und Futures. Diese Geschäfte würden ausschließlich zur Stabilisierung, Risikoreduktion und Planbarkeit des operativen Geschäfts abgeschlossen, beteuert Zach. In Summe habe es bei den Margin-Zahlungen bisher keine Abflüsse gegeben.

Die teilstaatliche Verbund AG lässt wissen, dass man die „hohen Verwerfungen auf den europäischen Großhandelsmärkten für Strom und Gas“ in den vergangenen Tagen „gut gemeistert“ habe. Die Salzburg AG gibt an, vermehrt auf OTC-Geschäfte zu setzen: Nur rund ein Viertel der Geschäfte werde über die Börse gehandelt. Auch die Vorarlberger Illwerke vkw AG wickelt – eigenen Angaben zufolge – lediglich einen kleinen Teil ihrer Handelsgeschäfte über die Strombörse ab. Die Tiroler Tiwag handelt sowohl an den Börsen als auch Over-the-Counter, will jedoch mit Verweis auf das Geschäftsgeheimnis keine näheren Details zur Entwicklung der Termingeschäfte seit Jahresbeginn 2022 preisgeben. Aus den Rückmeldungen von Kärntner Kelag und Burgenland Energie AG wiederum lässt sich schließen, dass diese ihre Energiehandelsgeschäfte ausschließlich über bilaterale Verträge mit Handelspartnern abschließen und nicht über die Börse.

Aus der oberösterreichischen Energie AG heißt es, dass man regelmäßig Stresstests durchführe, um die Liquiditätserfordernisse abschätzen zu können – „wobei die Ableitung von realistischen Szenarien im Eindruck der Verwerfungen herausfordernd ist“, wie Sprecher Michael Frostel formuliert. Als Nettokäufer von Strom und Gas habe die Energie AG bis zum heutigen Tag einen Zufluss an Margins zum Ausgleich der Preisanstiege verzeichnet. Aktuell sei der Konzern in der Lage, seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. „Aber“, so meint Frostel, „das Aufrechterhalten der bestehenden Absicherungspositionen könnte für eine Reihe von Marktteilnehmern schwierig werden.“ Die Unterstützung der öffentlichen Hand könne in solchen Fällen helfen und generell marktstabilisierend wirken, sagt Frostel und verweist auf Unterstützungsprogramme in Deutschland.

Denn die steigenden Preise plagen nicht nur österreichische Versorger. Europaweit sind Energiekonzerne schwer unter Druck. Die deutsche Regierung hat bereits im Mai ein Maßnahmenpaket zur „Unterstützung vom Ukraine-Krieg betroffener Unternehmen“ auf den Weg gebracht. Teil davon ist ein Kreditprogramm, das über die Staatsbank KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) abgewickelt wird. Deren Fördervolumen hat sich im ersten Halbjahr 2022 auf 95,1 Milliarden Euro fast verdoppelt. Ein Grund dafür ist, dass die Bank Energieversorgungsunternehmen im Auftrag des Bundes stützt – mit 33,4 Milliarden Euro. Rund neun Milliarden Euro gingen in die Rettung des Energiekonzerns Uniper. Diesen Kreditrahmen hat das Unternehmen bereits vollständig in Anspruch genommen. Vergangene Woche erklärte Uniper, weitere vier Milliarden Euro zu benötigen, um Gas einkaufen zu können. Auch der Leipziger Energieversorger VNG hat sich milliardenschwere Kreditlinien gesichert.

Das deutsche „Margining-Finanzierungsinstrument“ greift Unternehmen unter die Arme, die an den Terminbörsen mit Strom, Erdgas und Emissionszertifikaten handeln. Es soll den Zugang zu ausreichender Liquidität sicherstellen, wenn Nachschussverpflichtungen, wie im Falle der Wien Energie – schlagend werden. Hundert Milliarden Euro stehen dafür zur Verfügung, abgesichert durch eine Bundesgarantie.

In Finnland verhandelt der Uniper-Mutterkonzern Fortum aktuell über Staatshilfe. Auch ihn belasten die erforderlichen, stark gestiegenen Sicherheitsleistungen. Anders als von der Wien Energie dargestellt, sind hier aber bis dato keine Gelder geflossen.

In der Schweiz hat der Bundesrat im Mai einen Gesetzesvorschlag zu einem Rettungsschirm für systemkritische Stromfirmen vorgeschlagen. Im Krisenfall sollen Liquiditätshilfen bis zu zehn Milliarden Franken zur Verfügung stehen. In Kraft treten kann das Gesetzespaket frühestens im Herbst.

Alles in allem handelt es sich um ein Problem, dessen – potenziell dramatische – Auswirkungen seit Monaten bekannt sind und das international in der Energiebranche längst diskutiert wurde. Dass ein aufgrund seiner Geschäftsstruktur besonders stark betroffenes Unternehmen wie die Wien Energie nicht rechtzeitig an allen möglichen Schrauben gedreht hat, um die Gefahr zu bannen, wirft Fragen auf. Dass sich Politik, Regulierungsbehörde und Branchenvertreter nicht ebenfalls schon vor Monaten um eine gezielte Lösung gekümmert haben, ebenso. Es zeigt sich ein Muster, das in staatsnahen Wirtschaftsbereichen in Krisensituationen gerne zutage tritt und weit über die Energieversorgung hinausreicht: Solange es noch irgendwie geht, macht man weiter wie gehabt. Dann kommt der große Knall und – wie das Amen im Gebet – ein Schutzschild mit dem Geld der Steuerzahler. 

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

war bis September 2024 Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast.