Julian Popov
Interview

Julian Popov: „Ich hoffe, dass nie wieder russisches Gas nach Europa gelangt“

Aus mehreren Lecks der Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 strömt Gas, einige europäische Staaten sprechen von Sabotage. Warum Russland dahinter stecken könnte, erklärt der frühere bulgarische Umweltminister und Energieexperte Julian Popov.

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Jetzt wird es ernst: Der Winter rückt unweigerlich näher, die Heizungen werden angeworfen und der Gasverbrauch steigt. Monatelang wurden die Speicherstände akribisch beobachtet und die Lager so gut wie möglich aufgefüllt. In Österreich liegen sie derzeit bei 76 Prozent. Werden wir damit durch den Winter kommen? Von den Pipelines Nord Stream 1 und 2 sind diesen Winter keine Lieferungen mehr zu erwarten. Nach einem Lieferstopp wegen technischer Probleme im August, wurden nun Anfang der Woche Lecks an den Gasleitungen entdeckt. EU-Politiker sprechen von Sabotage, Seismologen verzeichneten Erschütterungen nahe der Lecks. Der Kreml wies Spekulationen über eine russische Beteiligung als „dumm und absurd“ zurück. Welche Argumente dafür sprechen und wieso wir schneller von Gas unabhängig werden als gedacht, darüber hat profil mit dem Energieexperten und früheren bulgarischen Umweltminister Julian Popov gesprochen. 

Herr Popov, Anfang der Woche wurde bekannt, dass die Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 lecken. Die EU vermutet Sabotage. Was denken Sie?
Popov
Dass Russland dafür verantwortlich ist, ist durchaus möglich. Aus mehreren Gründen: Es ist denkbar, dass Russland damit rechtliche Schritte seitens der EU wegen der reduzierten Gaslieferungen und des damit verbundenen Vertragsbruchs verhindern wollte. Dass man den Europäern zeigen wollte, passt auf, das kann auch mit anderer Infrastruktur passieren, etwa mit den Gasleitungen aus Norwegen oder Algerien. Da gibt es auch ein interessantes zeitliches Zusammentreffen mit der Inbetriebnahme der Ostseepipeline aus Norwegen. Möglicherweise ist es auch das Ergebnis interner Meinungsverschiedenheiten in Russland zwischen eher kommerziell orientierten Playern und militärischen Extremisten. Aber all das ist Spekulation. Es ist wichtig, dass die EU - nicht nur in diesem Fall, sondern auch in allen anderen früheren Fällen, in denen Russland technische Fehler geltend gemacht hat, die zu einer Verringerung der Gaslieferungen geführt haben - eine sehr ernsthafte Untersuchung und rechtliche Schritte gegen Gazprom einleitet.
Wie wird der Winter? Werden wir alle frieren, weil das Gas knapp ist?
Popov
Nein. Der Gaspreis ist als Reaktion auf die bekannt gewordenen Lecks angestiegen. Der Markt ist nervös, weil er fürchtet, Russland könnte noch eine Pipeline in die Luft jagen. Aber ich bin mir sicher, der Preis wird wieder sinken. Dieser Markt besteht ja nicht aus ein paar bösen Menschen, die nur Geld scheffeln wollen, sondern aus Millionen Analysten. Und die gehen nicht davon aus, dass wir frieren werden. Weil sie nämlich wissen, dass wir Alternativen haben und außerdem über mehr Gas verfügen, als wir tatsächlich brauchen. Wenn wir also das Gas, welches wir aus Russland beziehen, teilweise durch andere Lieferanten ersetzen, wird das ausreichen, um nicht zu frieren.

Kein Höhenflug nach Pipeline-Leck

„Wir verfügen über mehr Gas als wir brauchen.“

Aber wie kann die europäische Energieversorgung in diesem Winter gewährleistet werden und wie in Zukunft?
Popov
Ich glaube nicht, dass Russland seine Gaslieferungen komplett einstellen wird. Und selbst wenn: gut die Hälfte davon kann ersetzt werden. Durch Flüssiggas, durch verstärkte Lieferungen aus Algerien, Norwegen und der Türkei. Wichtig ist zudem, Energie zu sparen und auf Energieeffizienz zu achten. Ganz einfach wird das freilich nicht. Es wird wohl zu einem Bieterkrieg kommen, aber das Angebot ist vorhanden. Außerdem gibt es im Winter viel Wind. Das wird auch helfen.
Wind ist aber keine sehr zuverlässige Energiequelle.
Popov
Nein, aber wenn man Wind an vielen unterschiedlichen Orten hat und ihn mit Sonnenenergie kombiniert, dann ergänzt sich das sehr gut.
Wie sind Sie mit dem aktuellen Krisenmanagement der EU zufrieden?
Popov
Europa hat unglaublich spät reagiert. Schon vergangenes Jahr war klar, dass Russland die Gaslieferungen und Preise manipulierte. Zudem gab es jede Menge Geheimdienstinformationen über einen möglichen Krieg. Wir haben es nicht geglaubt. Aber auch wenn das Risiko eines Krieges als gering eingeschätzt wurde, hätte man doch Vorkehrungen treffen müssen. Aber das passierte nicht. Auch als der Krieg dann tatsächlich begann, wurde kein Plan entwickelt. Und jetzt liegt der Schwerpunkt noch immer auf der Angebotsseite. Es geht hauptsächlich darum neue Gasterminals zu bauen. Auf der Nachfrageseite wurde überhaupt nicht reagiert. Wir hätten seit März eine Menge erledigen können: Gebäude isolieren, ein Dachbodendämm-Programm für ganz Europa starten, alte Gaskessel und Thermostate umstellen. Ein Maßnahmenpaket, das man innerhalb eines Jahres umsetzen kann. Wir hätten den Gasverbrauch um 20 Prozent senken können. Das bedeutet bares Geld, das in Europa geblieben wäre.
Warum ist das nicht geschehen?
Popov
Weil wir selbstgefällig sind und den Krieg weiterhin verleugnen. Wir wollen nicht, dass sich unser tägliches Leben ändert. Wenn Politiker sagen, dass wir den Energieverbrauch reduzieren müssen, ist die instinktive Reaktion: Das schränkt meine Rechte ein. Meine Menschenrechte, mein Recht auf Komfort. Die Politiker fürchten die Reaktion der Menschen. Bevor es die sozialen Medien gab, hat es Tage gedauert, bis die Zeitungen über politische Entscheidungen berichteten. Und dann haben die Leute im Wirtshaus abgelästert. Wenn ein Politiker jetzt etwas sagt, ist Facebook drei Minuten später voll mit dummen Kommentaren. Deshalb sind Politiker sehr vorsichtig. Der andere Grund ist, dass die Idee der Nachfragereduktion als die langweilige Seite der Gleichung angesehen wird.

Im Sinkflug

In Österreich wurde heuer weniger Gas verbraucht als im Jahr vor Beginn der Pandemie „Der Gasverbrauch ist wegen der hohen Preise zurückgegangen.“ Mit einem gedeckelten Strompreis entfalle der Anreiz zu sparen. 

Befinden wir uns in einer Kriegswirtschaft?
Popov
Natürlich befinden wir uns in einer Kriegswirtschaft. Denn das bedeutet ja nicht, dass in Wien geschossen wird. Ein wichtiger Energielieferant und eine wichtige Energieroute sind Schauplatz des Krieges. Auch aus wirtschaftlicher Sicht: Es gibt einen Krieg und dieser Krieg betrifft uns.
War Europa generell zu blauäugig, was Russland betrifft?
Popov
Europa war sehr naiv und sehr anfällig für Druck und Korruption aus Russland. Da sprechen wir nicht notwendigerweise von braunen Geldkuverts, die unter dem Tisch gereicht werden. Sondern von den Engagements diverser Ex-Politiker in russischen Unternehmen. Wie etwa Deutschlands früherer Kanzler Gerhard Schröder. Russland ist ein kriminelles Land. Dennoch hat sich Europa immer abhängiger gemacht. Deutschland ganz massiv, Österreich auch. Und die falsche Annahme, dass Gas unvermeidlich ist, hat der Sache geholfen.
Bis wir ausreichend Kapazitäten für Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen haben, werden wir auf Gas wohl nicht verzichten können.
Popov
Die Industrie hat Gas als unvermeidliche Brückentechnologie dargestellt. Aber das war eine reine PR-Kampagne. Die Daten der letzten zehn Jahre zeigen, dass Kohle nicht durch Gas, sondern durch erneuerbare Energien ersetzt wird. Wenn wir Gas nur als Ausgleich für Spitzenlasten verwendet hätten, dann wäre unser Verbrauch viel niedriger gewesen. Dann hätten wir russisches Gas stoppen können, bevor die Russen es für uns stoppen.
Allerdings wird jetzt wieder über die Reaktivierung von Kohlekraftwerken sowie die Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken nachgedacht.
Popov
Ich weiß, in Deutschland und Österreich ist das eine hitzige Debatte, aber ich denke, dass die Verlängerung der AKW-Laufzeiten aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll ist. Neue Kernkraftwerke zu errichten, ergibt jedoch wirtschaftlich keinen Sinn. Geschlossene Kohlekraftwerke lassen sich nicht so schnell wieder hochfahren. Wir sehen aber, dass die Kohlekraftwerke jetzt mit voller Kapazität arbeiten.  Das bereitet mir aber keine Sorgen, weil sie im Moment nur eine Lücke füllen und ihre Produktion im nächsten Jahr wieder zurückgehen wird.
In Österreich wird derzeit das Fracking von Gas diskutiert. Ist das eine Lösung?
Popov
Nein. Denn da würde es massiven lokalen Widerstand geben. Das wird nicht passieren. Es ist reine Zeitverschwendung, darüber zu diskutieren.
Fürchten Sie, dass die Energiekrise die Klimakrise in den Hintergrund drängt?
Popov
Wir reden zwar alle über Gas, aber während wir das tun, wird erneuerbare Energie installiert. Im heurigen Sommer beispielsweise wurde in der EU so viel Sonnenstrom wie noch nie erzeugt. Im Vergleich zum Jahr davor ein Plus von fast 30 Prozent. Dadurch konnten wir 20 Milliarden Kilowattstunden Gas einsparen.

Solar gewinnt

In Europa wurde diesen Sommer weitaus mehr Solarenergie produziert als in den Jahren davor.  Der Wind gleicht aus, wenn die Sonne im Winter schwächelt. 

Braucht es stärkere Eingriffe in den Energiemarkt oder gar einen grundlegenden Wandel?
Popov
Nein. Man kann den Markt nicht grundlegend ändern und durch einen Nicht-Markt ersetzen. Ich habe 30 Jahre in so einem System gelebt, das war nicht so toll. Aber wir müssen den Markt anpassen. Wenn beispielsweise Lebensmittelstandards eingeführt werden, wird dadurch der Markt auch nicht grundlegend verändert, aber die Konsumenten werden geschützt. Da wir uns in einer Kriegswirtschaft befinden, müssen wir die Konsumenten vor jemanden schützen, der sie ökonomisch umbringen will. Und da sollte es einige vorübergehende Maßnahmen geben.
Etwa eine Übergewinnsteuer? Einige Energieunternehmen verzeichneten in den vergangenen Monaten Rekordgewinne.
Popov
Das ist eine ideologisch ziemlich aufgeheizte Debatte. Ich versuche, pragmatisch darüber nachzudenken. Bei Energieunternehmen im Staatsbesitz sollte die Regierung entscheiden, auf welche Weise diese Einnahmen zu verteilen sind. Ich wäre mit einer Übergewinnsteuer sehr vorsichtig, weil man damit die Anreize für Investoren herunterfährt. Die gehen ja deswegen Risiken ein, weil die Chance auf einen späteren Gewinn besteht. Das sollte man nicht komplett zerstören. Ich bin sehr für steuerliche Anreize, welche die Unternehmen dazu bringen, diese Gewinne in die Energiewende zu investieren. Also in erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Digitalisierung.
Braucht es eine Strompreisbremse?
Popov
Nein, denn die Preise spiegeln die Knappheit wider. Der Gasverbrauch ist wegen der hohen Preise zurückgegangen. Auf der anderen Seite wird vermehrt in den Ausbau von Solar- und Windenergie investiert. Der Markt funktioniert also. Hält man die Preise künstlich niedrig, hat das unerwünschte Effekte. Zum einen entfällt damit der Anreiz zu sparen. Zum anderen werden damit Menschen subventioniert, die einen hohen Stromverbrauch haben und das sind eben die ohnehin wohlhabenden. Wer sich fünf Häuser und mehrere Swimmingpools leisten kann, braucht keine Strompreisbremse. Es muss jenen geholfen werden, die von ihrer Energierechnung finanziell hart getroffen werden.

Öde Nachfrage

Es sei „die langweilige Seite der Geschichte“, aber dafür umso wichtiger: Europa hätte seit März ein Maßnahmenprogramm starten sollen – etwa Gebäude isolieren, Dachboden dämmen, alte Gaskessel umstellen. „Wir hätten den Gasverbrauch um 20 Prozent senken können.“

In Bulgarien ist das passiert, wovor ganz Europa Angst hat. Seit April erhält das Land kein Gas mehr aus Russland. Wie kommt es damit zurecht?
Popov
Bulgarien importierte zwar 90 Prozent seines Gases aus Russland, aber das macht nur einen kleinen Teil des Energiemixes aus. Weder wird mit Gas Strom erzeugt, noch heizen die Haushalte damit. Die großen Unternehmen, die Gas verwenden, können zumindest vorübergehend auf Schweröl umsteigen. Bulgarien profitiert sogar von der Situation, weil es ein Energieexporteur ist. Die Kohle- und Atomkraftunternehmen, die noch vergangenes Jahr am Rande des Ruins standen, drucken jetzt Geld.  Und die Regierung schüttet dieses Geld großzügig an die Bürger aus. Bulgarien kommt mit den aktuellen Energiepreisen fantastisch zurecht.
Wie wird der europäische Energiemarkt beziehungsweise die Versorgung in fünf Jahren aussehen?
Popov
Zunächst hoffe ich, dass nie wieder russisches Gas nach Europa gelangen wird. Und das ist absolut möglich. Es braucht eine Diversifizierung der Lieferanten. Aber der Gasverbrauch wird ohnehin zurückgehen. Viel schneller, als wir bisher gedacht haben. Im Gebäudesektor, wo der größte Teil des Gases verbraucht wird, haben wir mit Energieeffizienz und Wärmepumpen bereits eine sehr klare Lösung. Sehen Sie sich die Zahlen an: Der Wärmepumpenmarkt wächst exponentiell. In drei bis vier Jahren werden wir hier die Ergebnisse sehen. Generell braucht es eine Elektrifizierung des Systems. Wir werden mehr Strom brauchen und dazu ein Stromnetz, das eine größere Zahl von Ländern verbindet. Wir werden also mehr Leitungen nach Großbritannien, Irland, Island, in die Ukraine,die Türkei, über das Mittelmeer nach Afrika, Israel und an verschiedene andere Orte legen. Dafür gibt es Pläne bis zum Jahr 2030. Und ich hoffe sehr, dass wir eine starke Infrastruktur für den Import von Ökostrom aus der Ukraine nach Europa entwickeln werden. Dort gibt es ein enormes Potenzial für Windkraft.
Sie sehen die energetische Zukunft also positiv?
Popov
Absolut. Der Gasverbrauch wird rapide zurückgehen, bis die erneuerbaren Energien ihn eingeholt haben. Da wird sich der gesunde Menschenverstand durchsetzen.

Zur Person

Julian Popov (63), der frühere bulgarische Umweltminister, ist heute Leiter des Building Performance Institute Europe (BPIE), einer internationalen Denkfabrik für Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Der internationale Energieexperte ist unter anderem Mitglied der European Climate Foundation und des Europäischen Rat für Auswärtige Beziehungen. Nach seiner Zeit im Ministeramt beriet er den bulgarischen Präsidenten zu Energie- und Klimapolitik. profil hat mit ihm im Rahmen einer hochkarätig besetzten Konferenz des Forum Journalismus und Medien (fjum) gesprochen, die sich den im Winter bevorstehenden Herausforderungen Europas in Sachen Politik, Wirtschaft und Energie widmete.

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

ist Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast (@profil_Klima).

Clara Peterlik

Clara Peterlik

ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.