Wirtschaft

Ihr Kinderlein, kommet: Der Boom bei Betriebskindergärten

Österreich hinkt in Sachen Kinderbetreuung hinterher. Immer mehr Unternehmen greifen deshalb zur Selbsthilfe und errichten eigene Kindergärten.

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Ein Sanitärbetrieb, ein Fitnessstudio, ein modernes Bürogebäude, ein paar Gewerbehallen: Die Industriestraße außerhalb von St. Johann in Pongau unterscheidet sich kaum von den Rändern anderer österreichischer Bezirksstädte – ein typisches Konglomerat von Betriebsansiedlungen, die in den Ortskernen keine geeigneten Flächen vorfinden. Doch wenn Georg Hinterleitner morgens zur Arbeit kommt, trifft er – anders als die meisten anderen Arbeitgeber – nicht nur auf seine Mitarbeiter, sondern auch auf eine ganze Schar Kleinkinder. Vor fünf Jahren eröffnete er auf dem Gelände seiner Baufirma Spiluttini einen Betriebskindergarten. „Der Wunsch gärte schon viel länger, tatsächlich hatte ich die Idee bereits vor Jahrzehnten“, erzählt der Bauunternehmer. Was mit einer Kindergartengruppe begann, hat sich mittlerweile zu einer Einrichtung mit vier Gruppen für rund 40 Kinder im Alter zwischen einem und sechs Jahren entwickelt, die nach den Grundsätzen der Montessori-Pädagogik betreut werden. „Für unsere Mitarbeiter ist eine flexible Betreuung wichtig. Die Nachfrage, auch von außen, ist so hoch, dass wir doppelt so groß sein könnten“, sagt Hinterleitner.

Österreich hinkt in Sachen Kinderbetreuung hinterher. Ganz besonders, was die Betreuungsquote der unter Dreijährigen betrifft. Während sich vor allem nordeuropäische und skandinavische Staaten hier an der Spitze platzieren, liegt Österreich im unteren Drittel. So werden etwa in Dänemark und den Niederlanden mehr als sieben von zehn Kindern außer Haus betreut, in Österreich trifft das nur auf jedes dritte Kleinkind zu. In Zeiten des akuten Arbeits- und Fachkräftemangels wird das Thema nun besonders virulent. Und die geplanten Änderungen bei der Elternkarenz könnten die Situation noch verschärfen. Auch deshalb greifen immer mehr Unternehmen zur Selbsthilfe.

Spiluttini-Chef Georg Hinterleitner

Der Bauunternehmer errichtete auf dem Firmengelände einen Montessori-Kindergarten, im Herbst folgt eine Schule.

„Anfangs haben sich hauptsächlich Eltern an uns gewandt, die auf der Suche nach Betreuungsplätzen für ihre Kinder waren. Seit einem Dreivierteljahr beobachten wir einen enormen Anstieg des Interesses bei den Arbeitgebern“, sagt Rafael Paulischin-Hovdar. Er berät beim Arbeitsmedizinischen Dienst (AMD) in Salzburg Betriebe zum Thema Kinderbetreuung. Die von Arbeiterkammer und Wirtschaftskammer finanzierte Beratungsstelle gibt es seit rund drei Jahren. Mittlerweile habe man Kontakt zu über 100 Unternehmen gehabt, 50 davon hätten strukturierte Beratungsangebote in Anspruch genommen, mehrere Projekte seien derzeit in der Umsetzung, erzählt der ausgebildete Elementarpädagoge.

Lückenbüßer

Die Unternehmen versuchen so eine Lücke zu füllen, bei deren Beseitigung die öffentliche Hand seit Jahrzehnten versagt. Der Europäische Rat legte 2002 in den sogenannten Barcelona-Zielen fest, dass sich bis 2010 33 Prozent der Kinder unter drei Jahren und 90 Prozent der Kinder zwischen drei und fünf Jahren in formeller Kinderbetreuung befinden sollen. Während diese Vorgabe bei den älteren Kindern erreicht wird, liegt die Betreuungsquote bei den unter Dreijährigen laut Daten der Statistik Austria aktuell bei 29,9 Prozent. Damit ist das Ziel auch 20 Jahre nach dem Beschluss noch nicht erreicht. Hauptgrund der EU war es, den Müttern die Teilnahme am Arbeitsmarkt zu erleichtern. Zu diesem Zweck hat sie im Vorjahr die Vorgaben noch erhöht: Diesen zufolge sollen ab 2030 45 Prozent der Kinder unter drei Jahren an frühkindlicher Betreuung teilnehmen. Der zuständige ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek erklärte bereits, dass dies unrealistisch sei. „Das Problem der mangelnden Kinderbetreuung muss dringend gelöst werden. Das ist Aufgabe des Staates“, sagt Monika Köppl-Turyna, Direktorin des Wirtschaftsforschungsinstituts Eco Austria. Ausgaben in diesem Bereich hätten einen positiven Einfluss auf die Gesamtwirtschaft. Betriebskindergärten seien zwar eine sehr gute Ergänzung des öffentlichen Angebots, seien aber nicht geeignet, um die Löcher zu stopfen.

Laut Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria arbeitete im Vorjahr jede zweite erwerbstätige Frau – und damit so viele wie nie zuvor – auf Teilzeitbasis. 40 Prozent davon aufgrund von Betreuungspflichten. In den meisten Bundesländern gibt es zu wenige öffentliche Kindergärten und Schulen, die einen Vollzeitjob überhaupt ermöglichen. Viele Einrichtungen schließen schon zu Mittag; die Betreuung und Bespaßung der Kleinen am Nachmittag muss dann privat organisiert werden. „Die Arbeitszeiten der Eltern und die Öffnungszeiten der Kindergärten passen nicht zusammen“, weiß auch Rafael Paulischin-Hovdar. Betriebskindergärten können da Abhilfe schaffen, weil sie flexibler auf die Bedürfnisse der Familien eingehen können.

Auch bei der Voestalpine hat man einen steigenden Bedarf an Kinderbetreuung geortet. Schon im Mai wurden die Plätze in der neu errichteten vivo Kinderwelt für die Krabbelgruppe und den Kindergarten auf 200 verdoppelt. Die regulären Öffnungszeiten können je nach Bedarf der Mitarbeiter im Zeitraum von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends ausgeweitet werden. Da kann kein öffentlich betriebener Kindergarten mithalten. Im September startet der Stahlkonzern am Standort Linz sogar mit einer 24-Stunden-Betreuung. Bis zu acht Kinder können dort gemeinsam mit zwei Betreuerinnen übernachten. „Wir haben den Bedarf abgefragt und starten das Pilotprojekt bewusst mit einer kleineren Anzahl. Sollte sich dieser erhöhen, kann die Rund-um-Uhr-Betreuung erweitert werden“, heißt es vonseiten des Unternehmens gegenüber profil. Das Angebot richtet sich ausschließlich an Eltern, die im Schichtbetrieb arbeiten und gilt nicht nur für die jüngsten, sondern für Kinder bis zwölf Jahre. „Hochqualifizierte und topmotivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ein wichtiger Erfolgsfaktor. Eine zunehmende Rolle spielt dabei auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, sagt Voestalpine-Chef Herbert Eibensteiner.

Voestalpine-Chef Eibensteiner mit Pädagoginnen und Kindern

In der neu errichteten vivo Kinderwelt können die Kleinen künftig auch übernachten.

Unbekannte Größe

Wie viele Betriebskindergärten in Österreich tatsächlich betrieben werden, liegt im Dunkeln. Kinderbetreuung ist Gemeinde- und Ländersache, die Kindertagesheimstatistik der Statistik Austria unterscheidet zwar nach öffentlichem und privatem Erhalter, Betriebskindergärten werden jedoch nicht gesondert ausgewiesen. Und weder Bildungsministerium noch Wirtschaftskammer haben dazu Daten.

Annäherungswerte gibt es jedoch: Der Österreichische Integrationsfonds erhob 2010 in einer Unternehmensbefragung, dass der Anteil der betrieblichen Kinderbetreuung damals bei rund zwei Prozent lag. Damals gab es österreichweit 158 Betriebskindergärten, rund ein Drittel davon in Wien. Im Rahmen einer Studie der L&R Sozialforschung aus dem Jahr 2013 gaben bei einer repräsentativen Umfrage von unselbstständig Beschäftigten im privatwirtschaftlichen Bereich sieben Prozent an, dass die Möglichkeit eines Betriebskindergartens besteht. „In den vergangenen Jahren sind sicher noch Angebote dazugekommen, aber die Verfügbarkeit hält sich nach wie vor in Grenzen“, meint Eco-Austria-Chefin Köppl-Turyna.

Der Bedarf könnte aber noch weiter steigen. Vorvergangene Woche endete die Begutachtungsfrist für die geplanten Änderungen bei der Elternkarenz. Darin vorgesehen ist unter anderem, dass die volle Bezugszeit von 24 Monaten künftig nur dann genutzt werden kann, wenn der zweite Elternteil zumindest zwei Monate in Karenz geht. Das erntete heftige Kritik: Der Gemeindebund etwa monierte, dass sich überall dort eine Lücke in der Kinderbetreuung auftun werde, wo Kinder erst mit zwei Jahren in den Kindergarten gehen können – vor allem dann, wenn der Vater „schlicht nicht die Möglichkeit“ habe, in Karenz zu gehen. Auch der Gewerkschaftsbund fürchtet eine Verschärfung der Betreuungsprobleme, vor allem im ländlichen Raum, wo es an entsprechenden Einrichtungen mangelt.

Genau dort könnten Betriebskindergärten ansetzen. „Im urbanen Bereich ist es ungleich schwieriger. Es braucht die entsprechenden Flächen, die müssen für die Kinder adaptiert werden“, erklärt Paulischin-Hovdar. Zudem seien in Salzburg wie in anderen Bundesländern je nach Kinderanzahl auch Außenflächen vorgeschrieben. Generell seien die bürokratischen Hürden und Vorgaben nicht zu unterschätzen. „Wir können die Unternehmen jedoch auf dem gesamten Weg begleiten“, sagt Paulischin-Hovdar. Von der Bedarfsevaluierung über Behördenwege, Förderansuchen, Bewilligungsverfahren bis hin zur Kalkulation der personellen Ausstattung und des Gehalts.

Niedrigere Fluktuation

Einen solchen Prozess hat der Feuerwehrausrüster Rosenbauer bereits vor einigen Jahren durchlaufen. Zwei Jahre dauerte die Planung, 2015 eröffnete der Konzern auf einem Grundstück neben der Zentrale im oberösterreichischen Leonding die betriebsübergreifende Krabbelstube Villa RoSiPez. „Das war die erste Kinderbetreuungseinrichtung dieser Art in Österreich“, sagt Rosenbauer-Personalchef Andreas Berger. Die Vorteile liegen für ihn – besonders in Zeiten des Fachkräftemangels – auf der Hand: „Das Angebot beschleunigt die Rückkehr junger Eltern aus der Karenz, die Fluktuation ist niedriger, und es stärkt unsere Positionierung als frauen- und familienfreundlicher Betrieb.“ Viel Unterstützung habe man von Kompass, dem Kompetenzzentrum für Karenz und Karriere der Standortagentur Business Upper Austria, bekommen. „Kompass hat uns auch mit unseren Firmenpartnern zusammengebracht“, so Berger. Heute teilen sich Rosenbauer, der Brillenhersteller Silhouette und der Lebensmittelproduzent PEZ/Haas Plätze und Kosten – rund 11.000 Euro pro Kind und Jahr – der Einrichtung. Die Mitarbeiter zahlen den gleichen Beitrag, den sie auch in einer öffentlichen Krabbelstube zu entrichten hätten.

„Das Angebot beschleunigt die Rückkehr junger Eltern aus der Karenz, die Fluktuation ist niedriger, und es stärkt unsere Positionierung als frauen- und familienfreundlicher Betrieb.“

Andreas Berger

Rosenbauer-Personalchef

Vergangene Woche meldete sich die Wirtschaftskammer mit einem Stufenplan zum Ausbau der Kinderbetreuung zu Wort. Das Ziel: eine Erhöhung der Betreuungsquote der unter 3-Jährigen auf 45 Prozent. Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer wunderte sich, dass es nicht „längst einen großen Aufschrei“ gebe. Die Schärfe, mit der Mahrer seine Forderungen formulierte, ist einigermaßen erstaunlich, richtet sie sich doch in erster Linie an seine eigene Partei, die ÖVP. Als sich im Juni 2016 der damalige SPÖ-Kanzler Christian Kern und der damalige ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner darauf verständigt hatten, die damalige Bankenabgabe für den Ausbau der Kinderbetreuung zu verwenden, schrieb ein gewisser Thomas Schmid an den damaligen Außenminister Sebastian Kurz: „Wir müssen bei Banken aufpassen, die wollen das am Montag weiter besprechen und entscheiden – HBK und HVK (Anm.: Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler) und Mahrer (Anm.: Harald Mahrer, damals Staatssekretär im Wirtschaftsministerium) und Co! Ziel – 1,2 Mrd. für Nachmittagsbetreuung mit Rechtsanspruch und Vereinbarungen Bund, Gemeinden ohne Länder! Mega Sprengstoff!“ Der völlig unzuständige Kurz erwiderte: „Gar nicht gut!!!“ und fragte: „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“

Der große Wurf in Sachen Kinderbetreuung blieb bislang bekanntlich aus. Und so sind es immer öfter engagierte Unternehmer wie Georg Hinterleitner, die in die Bresche springen. „Andere halten sich eine Yacht oder eine Jagd. Ich habe eine Bildungseinrichtung“, sagt der Spiluttini-Chef. Im September sperrt er auch eine Montessori-Schule auf, die im Endausbau Platz für 240 Schülerinnen und Schüler bieten soll.

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

ist Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast (@profil_Klima).