Verkehr

Öffi-Ausbau: Wie Wien Auto-Pendler für die Bahn motivieren will

Drei von vier Pendlern überqueren die Wiener Stadtgrenze im Auto. Der Umstieg auf die Bahn würde Verkehr und Umwelt entlasten. Wie die Hauptstadt den Berufsverkehr in den Griff bekommen könnte, erklären Verkehrsspezialisten im profil-Gespräch.

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Der Stau im Wiener Frühverkehr ist beinahe schon ein morgendliches Ritual: Die Radios melden Verkehrsbehinderungen am Gürtel, auf der Triester Straße und der A23, österreichweit bekannt als Südosttangente.

Kein Wunder: 600.000 Menschen überqueren täglich die Stadtgrenze nach Wien, etwa die Hälfte davon sind Erwerbspendler. Anhand der jährlichen Kordonerhebung wird die Verkehrsbewegung im und um den Ballungsraum gemessen. Im diesjährigen Bericht setzt sich ein Trend fort: Zwar wächst der Anteil des öffentlichen Verkehrs, doch macht dieser erst knapp ein Viertel des gesamten Verkehrsaufkommens aus.

Die Stadt will die Pendlerinnen und Pendler zum Umsteigen motivieren. Wie kann das gelingen?

Verkehrspolitik über die Stadtgrenze hinweg

Matthias Nagler beobachtet den Berufsverkehr täglich von seinem Büro des Verkehrsclubs ÖAMTC. Von der A23 drängt die Autokolonne in die Park&Ride Anlage in Wien-Erdberg. Die Garage ist unter Pendlern beliebt, da die U-Bahn direkt angebunden ist. Die Öffi-Intervalle sind in der Hauptstadt deutlich dichter als in Niederösterreich, wird seitens des traditionell automobil-freundliche Verbands kritisiert. Möchte die Stadt die Pendler schon vor der Stadtgrenze abfangen, müsse sie sich darum kümmern, dass das Angebot auch dementsprechend außerhalb der Stadt attraktiv sei, meint Nagler.

„Die Stadt Wien hat anspruchsvolle Ziele, was den grenzüberschreitenden Verkehr anlangt. Aber wir brauchen dafür auch die Unterstützung Anderer”, erwidert der Wiener Planungsdirektor Thomas Madreiter. Soll heißen: Auch Niederösterreich und das Burgenland müssen sich aus Sicht der Wiener engagieren. Kooperationen sind gefragt und werden durch gemeinsame Projekte wie die Planungsgemeinschaft Ost oder den Verkehrsverbund Ost erledigt.

Aktuell tüftelt die Stadt daran, ihre bestehenden Linien nach Vorbild der Badner-Bahn ans Wiener Umland anzuschließen. Im Schwechater Einzugsgebiet leben rund 20.000 Menschen. Mit der Erweiterung der Linie 72 sollen werktags bis zu 4500 Fahrgäste mit der Bim nach Wien gelangen.

Mit der Anbindung der Tram von Kaltenleutgeben-Perchtoldsdorf nach Liesing soll der Autoverkehr aus dem südwestlichen Umland eingebremst werden. Der Großteil des Pendlerverkehrs kommt aus dem Speckgürtel. Trotz solcher Initiativen könne Wien das Verkehrsproblem alleine nicht lösen, so Madreiter, „es gibt grundlegende Mechanismen des Verkehrsverhaltens, die wir nicht direkt beeinflussen können, etwa Bundesgesetze oder -förderungen”.

Die ökosoziale NGO Verkehrsclub Österreich (VCÖ) ortet das Problem vielmehr bei der Infrastruktur der Bundesländer selbst. „Eine falsche Siedlungsentwicklung verursacht Verkehrsprobleme wie Staus und macht die Menschen abhängig vom Auto. Das erhöht die Mobilitätskosten”, sagt der VCÖ-Sprecher Christian Gratzer. Die Siedlungspolitik habe in den letzten Jahrzehnten falsche Anreize gesetzt. Zersiedelung ermögliche zwar den Traum vom Eigenheim zu erschwinglichen Preisen. Aber unter der Voraussetzung, jegliches Fortkommen mit dem PKW bestreiten zu müssen. 

Überregionaler Ausbau

Bahnstrecken sind das Ideal jedes Verkehrsplaners. Sie sind schnell, effizient und zu Staus kommt es quasi nie. „Der Korridor St. Pölten-Wien (Weststrecke) zeigt, dass ein Umstieg auf die Bahn möglich ist”, sagt der VCÖ, ähnlich argumentiert auch der ÖAMTC. Für viele Menschen sei es inzwischen selbstverständlich, die Weststrecke mit der Bahn zu bereisen. Verkehrsexperten sehen die Zeitersparnis als das stärkste Argument, den Pendelverkehr auf die Schienen zu bringen. 

Das größte Potenzial für die Umpolung des motorisierten Individualverkehrs zu Öffis schlummert auf der Südstrecke: Mehr als die Hälfte des Wiener Pendlerverkehrs kommt aus der Region südlich der Bundeshauptstadt, aus dem niederösterreichischen Industrieviertel. Der Flaschenhals der Bahnstrecke liegt zwischen Mödling und Meidling, wo sich Fern- und Nahverkehr um die Schienenhoheit streiten. Um gegenüber dem PKW einen Zeitvorteil zu gewinnen, erweitern die ÖBB die Strecke von zwei auf vier Gleise. Damit soll es gelingen, S-Bahnen von den Regional- und Fernzügen zu entkoppeln. Für Pendler bedeutet das: schnellere Verbindungen und, laut dem Versprechen der ÖBB, Zehnminuten-Intervalle zwischen Mödling und Meidling. 

Dadurch könnten doppelt so viele Einpendler mit den Öffis befördert werden wie bisher.

Innerstädtische Ausbau

Nicht nur beim Weg von den Bundesländern in die Hauptstadt gibt es zu wenig Öffi-Kapazitäten. Wer es an die Stadtgrenze geschafft hat, brauche oft mehrere Umstiege, bis er letztlich seinen Arbeitsplatz erreiche: „Selbst innerhalb der Stadt habe ich das Problem, dass ich viele Verbindungen von Außenbezirk zu Außenbezirk nicht habe”, kritisiert Nagler vom ÖAMTC. Für ihn sei die grundlegende Frage daher aus Sicht eines Verkehrsteilnehmers: „Welche Alternativen habe ich?” Stimme das Öffi-Angebot nicht, wäre die Parkplatzsuche attraktiver. 

Die Lösung: Tangentiale Verbindungen, um Randbezirke zu verbinden, anstelle über die Innenstadt umsteigen zu müssen. Nagler lobt die neuen Bemühungen der Stadt, endlich einen umfassenden S-Bahn-Ring in Wien zu schaffen, der die S45 über den Handels- und Praterkai mit der S80 verbindet - die Pläne lägen schon seit 20 Jahren als Entwurf vor. Ende des Vorjahres bekam die Idee neuen Schwung, als das Rathaus und die ÖBB eine Machbarkeitsstudie zum S-Bahn-Ring präsentierten. Das Bauvorhaben ist verkehrspolitisch sinnvoll, aber benötige den Schienenausbau zwischen Wien Hütteldorf und Penzing. Ob der politische Wille besteht, das Projekt in die Zielsetzung der Bahninfrastruktur 2040 aufzunehmen, wird sich im Laufe des Jahres zeigen. Falls sich die politischen Entscheidungsträger dafür entschieden, rechne die ÖBB mit einer Umsetzbarkeit ab dem Jahr 2032.

Verkehrspolitik wirkt eben nur sehr langfristig.

An anderer Stelle beweist die Stadt Wien, dass sie baufreudig ist. In zwei Jahren sollen die ersten Garnituren entlang der neuen Linie U5 rauschen. Die aktuell größte Baustelle ist im Bahnbereich die sogenannte Stammstrecke zwischen Floridsdorf im Norden und Meidling im Süden. Sie stößt nämlich an ihre Kapazitätsgrenzen und soll daher modernisiert werden, damit längere Garnituren in einer häufigeren Taktung fahren können. 

Betriebliche Benefits

Aus Sicht der Verkehrsclubs haben Betriebe einen starken Einfluss darauf, wie ihre Beschäftigten zum Arbeitsplatz anreisen. Mit einem Parkplatz vor der Firmenzentrale oder einem gut bestückten Fuhrpark überzeuge man heutzutage nur noch die wenigsten Fachkräfte. Was sich viele Spitzenkräfte wünschen, ist auch ohne PKW die Betriebsstätte erreichen zu können - dafür sollte der Arbeitsplatz auch an die Öffis angeschlossen sein.

„Es geht zum Beispiel darum, dass Beschäftigte einen Zuschuss zum Klimaticket oder ein Jobrad bekommen, das steuerlich begünstigt ist, damit die Zahl der Parkplätze reduziert werden kann”, sagt VCÖ-Sprecher Gratzer. Firmenparkplätze würden viel Geld kosten, gleichzeitig schränke man sich als Arbeitgeber ein, nur jene Arbeitskräfte mit einem PKW anzusprechen, weshalb Verkehrskonzepte in die Unternehmen immer mehr Einzug halten, so Gratzer: „Mobilitätsmanagement ist eine kurzfristig wirksame Maßnahme, die man sehr rasch implementieren kann.”

Anreize oder Sanktionen

Von Maßnahmen, die das Autofahren sanktionieren, halten beide Verkehrsclubs recht wenig. Betroffene zu verärgern und ihnen gleichzeitig kein adäquates Angebot anzubieten, helfe letztlich niemandem. „Sie fahren am Rückweg noch Einkaufen oder bringen die Kinder in die Schule oder holen sie vom Sport ab. Das sind die Punkte, warum die Leute keine Lust haben, sich in den vollgestopften Zug zu drängen und lieber auf der A23 im Stau stehen”, sagt Nagler vom ÖAMTC.

Er dämpft die Hoffnungen auf allzu viele Umsteiger: Den Autofahrer, der nie mit der Bahn fährt, werde man nicht überzeugen können: „Das ist ein Komfort, den sie sich leisten, damit sie mit dem Auto fahren können und eben nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen sind.”

Neben der Öffi-Offensive baut Wien aber auch neue Straßen, kritisiert der VCÖ: So hält die Stadt Wien an ihren Plänen für den Lobautunnel fest, um den Transitverkehr durch die Stadt umzulenken. Immerhin macht dieser ein Viertel des städtischen Verkehrsaufkommens aus. Der Verkehrsclub: Je weiter das Straßennetz ausgebaut werde, desto attraktiver wird es für Verkehrsteilnehmer diese auch zu nutzen.

Fest steht: Die Stadt braucht ihre Pendler. Laut Wirtschaftskammer tragen sie 24 Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung der Stadt bei. Klar ist aber auch, Wien möchte den Pendelverkehr von der Straße auf die Schiene verlagern.

Ob sie sich überzeugen lassen?

Kevin Yang

schreibt im Rahmen des 360° JournalistInnen-Traineeship für profil.