Interview

Piketty: "Inflation ist eine Steuer für die Armen"

Der französische Ökonom Thomas Piketty über die Rendite der Reichen und warum er findet, dass Eigentumsrechte nicht in Stein gemeißelt sind.

Drucken

Schriftgröße

Herr Piketty, soll es reiche Menschen geben, und wie reich darf man Ihrer Ansicht nach sein?
Thomas Piketty
Das ist eine sehr komplizierte Frage. In den vergangenen 15 Jahren haben ich und meine Wissenschafterkolleginnen und -kollegen auf der ganzen Welt Daten gesammelt, um die Entwicklung der Ungleichheit seit dem 19. Jahrhundert zu untersuchen und Länder und Gesellschaften miteinander zu vergleichen. Und wir haben uns angesehen, wie das mit dem Wirtschaftswachstum korreliert. Meine Erkenntnis ist: Wir wollen keine völlige Gleichheit, aber eine Verringerung der Vermögensunterschiede (in den EU-Ländern entfällt rund ein Drittel des gesamten Vermögens auf die obersten zehn Prozent, Anm.). Sehen wir uns die Top-Milliardäre weltweit an: etwa Elon Musk, der über mehr als 200 Milliarden US-Dollar verfügt. Im Vergleich zu ihm war Bill Gates, der vormals reichste Mann der Welt, vor zehn Jahren mit damals 30 oder 40 Milliarden US-Dollar ein armer Mann. Wo soll diese Entwicklung hinführen? 
Und das geeignete Mittel, um der Ungleichheit entgegenzuwirken, sind Steuern?
Thomas Piketty
Es gab in der Geschichte viele geeignete Mittel: Landreformen etwa. Man kann aber auch Obergrenzen für Einkommen in Unternehmen einziehen. Steuern können nämlich auch vermieden werden, deshalb ist ein Mix aus unterschiedlichen Maßnahmen zielführender. Man kann auch Arbeitnehmer mit mehr Mitspracherechten und Sitzen in den Management-Boards ausstatten. Also mehr Verteilungsmechanismen in privaten Unternehmen. Oder man beteiligt Arbeitnehmer am Unternehmen selbst. 
Wir haben in Österreich weder Vermögen-, noch Erbschaftsteuern. Es gibt aber einen aktuellen Vorschlag der SPÖ für eine Vermögensteuer. Deren Modell sieht Einnahmen von fünf bis sechs Milliarden Euro jährlich vor, bei einem Gesamtsteueraufkommen von 195 Milliarden Euro. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag?
Thomas Piketty
Gemessen am hiesigen Bruttoinlandsprodukt ist das schon eine ordentliche Summe. Man kann damit einige Krankenhäuser oder Schulen finanzieren.
Ihr Ziel ist aber, die Ungleichheit zu senken. Kann das mit dieser Vermögensteuer gelingen?
Thomas Piketty
Na ja, im Vergleich zu einem System, in dem Sie gar keine vermögensbezogenen Steuern haben, wäre das meiner Ansicht nach immerhin ein Fortschritt. Ich bin der Meinung, wir brauchen progressivere Steuermodelle. Wir haben heute eine relativ hohe regressive Steuer – die Inflation. Zehn Prozent Inflation bedeuten, dass Sie auf Ihre Ersparnisse fast zehn Prozent pro Jahr abgeben. Gleichzeitig bekommen Millionäre oder Milliardäre, die ihr Geld in Aktienportfolios angelegt haben, sehr gute Renditen und zahlen diese „Inflationssteuer“ nicht. Und die Europäische Zentralbank hat mit ihrer ultralockeren Geldpolitik genau diese Entwicklung gefördert. Aktienanlagen und Immobilien haben (wegen sehr niedriger Zinsen, Anm.) massiv an Wert gewonnen. Ich finde es absolut legitim, gegen progressive Vermögensteuern zu sein. Aber wenn die Kritik vor allem von Menschen kommt, die sich dank ihrer Vermögensentwicklung der letzten Jahre sehr gut mit der hohen Inflation arrangiert haben, dann ist das etwas heuchlerisch.
Wie hoch muss eine progressive Vermögensteuer aus Ihrer Sicht denn sein, um die Einkommensungleichheit zwischen dem niedrigsten und höchsten Einkommensdezil zu reduzieren?
Thomas Piketty
Es gibt nicht die eine, richtige Antwort auf Ihre Frage. In den letzten zehn bis 15 Jahren sind die Top-Vermögen, also jene in den Milliardärsrankings, um sieben bis  acht Prozent pro Jahr gestiegen – abzüglich der Inflation. Das gibt Ihnen vielleicht einen Hinweis darauf, wie hoch eine Vermögensteuer sein könnte. Und: Was wollen wir damit erreichen? Wollen wir die Vermögensunterschiede auf dem Iststand einfrieren, oder wollen wir sie senken? Ein oder zwei Prozent Vermögensbesteuerung werden da nicht reichen. Und ich bin nicht der Einzige, der das fordert. Bernie Sanders und Elizabeth Warren, Vorwahlkandidaten der Demokraten bei der Präsidentschaftswahl 2020, forderten ebenfalls höhere Vermögensteuern und haben zusammen fast so viele Stimmen bekommen wie Joe Biden. Und sie waren bei jungen Wählern ganz stark. Sie forderten einen Höchststeuersatz auf Vermögen von sechs bis sieben Prozent, und ich denke, das wäre angemessen. Wenn wir umverteilen und auf das Ungleichheitsniveau von 1980 zurückkehren wollen, muss es mehr sein. Zu einer Zeit, in der Krankenhäuser, Medienhäuser und andere Institutionen um Zuwendungen von Reichen betteln müssen, sollten wir uns vielleicht die Frage stellen: Ist das wirklich das Beste, das wir als Gesellschaft zustandebringen?
Sie schlagen auch als ausgleichende Gerechtigkeit eine Art virtuelle, staatlich finanzierte Erbschaft von 120.000 Euro vor, die jeder Bürger zum 25. Geburtstag bekommen soll. In Ihrem Buch „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“ bekommt man allerdings den Eindruck, dass man das Geld nicht bar auf die Hand, sondern zweckgebunden ausbezahlt bekommt. 
Thomas Piketty
Nein, ich gehe damit auf den Vorwurf ein, dass arme Kinder das Geld für Blödsinn ausgeben könnten. Ja, man könnte die Erbschaft an gewisse Bedingungen knüpfen, aber dann müsste man auch reichen Kindern vorschreiben, was sie mit ihrem Erbe tun sollen.
Aber wieso? Das ist privates Vermögen, und jeder darf damit tun, was er oder sie will.
Thomas Piketty
Das ist eine interessante Behauptung, die aber wenig mit der Menschheitsgeschichte des letzten Jahrhunderts zu tun hat. Was als privates Eigentum gilt und was man damit tun darf, hat sich über die Zeit stark verändert. Nur weil Sie eine Wohnung vermieten, bedeutet das nicht, dass Sie den Mietzins von heute auf morgen erhöhen oder Ihre Mieter einfach so vor die Tür setzen dürfen. Vor 100 Jahren war das überhaupt kein Problem. Eigentumsrechte sind kein Sakrileg.  Unsere moderne europäische Gesellschaft fußt darauf, dass man über die Zeit gewisse Eigentumsrechte eingeschränkt hat und andere Stakeholder dafür mit mehr Mitsprache und Rechten ausgestattet hat. Das hat uns gleicher und wohlhabender gemacht. Wir sind nicht am Ende der Geschichte angelangt.

„Ich glaube, die goldene Ära des Neoliberalismus ist vorbei. Aber wir wissen noch nicht, was jetzt kommt.“

Thomas Piketty

Ihrem Nachweis für den Anstieg der Ungleichheit in den letzten drei Jahrzehnten liegt die Annahme zugrunde, dass die Kapitalrendite konstant höher war als das Wirtschaftswachstum, was auch umstritten ist. Und man könnte sagen, dass Rendite Investitionen in anderen Bereichen auslöst und damit zu mehr Wachstum führt. Warum soll der Staat ein besserer Verteiler von Wohlstand sein als der Markt? 
Thomas Piketty
Das Problem ist, dass die Kapitalrendite nicht für alle Bürgerinnen und Bürger gleich ist. Man braucht einen gewissen Grad an Ungleichheit, um Anreize für Menschen zu schaffen. Aber eine so hohe Vermögenskonzentration in einer sehr kleinen Gruppe und so wenig in breiten Teilen der Bevölkerung ist einfach keine gute Idee. Wir leben in einer sehr gebildeten Gesellschaft, Millionen von Menschen studieren. Deshalb brauchen wir ein demokratischeres Wirtschaftssystem, in dem mehr Menschen die wirtschaftliche Möglichkeit haben, Firmen zu gründen oder politisch relevante Entscheidungen zu treffen. 
Sie sind sehr populär, schreiben Bestseller, man nennt Sie den Rockstar der Ökonomie. Sehen Sie irgendwo Anzeichen, dass Ihre Ideen politisch ankommen? Sie haben Bernie Sanders angesprochen, aber er ist in der Vorwahl unterlegen. Und auch in Europa reißt sich niemand, der in politischer Verantwortung ist, um höhere Vermögensteuern. 
Thomas Piketty
Ich glaube, die goldene Ära des Neoliberalismus ist vorbei. Aber wir wissen noch nicht, was jetzt kommt. Diese goldene Ära hat mit dem Ende der Sowjetunion 1990 begonnen. Ich war damals auch viel marktfreundlicher. Aber irgendwann haben wir gesehen, dass ein Laissez-faire-Kapitalismus auch zu massiven Finanzkrisen führen kann. Und dann waren die großen Unternehmen und Banken sehr froh darüber, auf Zentralbanken und Steuergeld zählen zu dürfen, die sie vor der Pleite retten. Auch während der Corona-Pandemie waren wir alle froh, dass man mit Steuergeld eine schmerzhafte Rezession vermieden hat. Also was kommt als Nächstes? Jetzt haben wir weltweit eine hohe Inflation, welche die hohe öffentliche Verschuldung ein Stück weit automatisch senkt. Die Wirtschaftsgeschichte hat uns zwei Möglichkeiten zum Abbau von öffentlichen Schulden aufgezeigt: Man hat eine Vermögensteuer für Arme, die Inflation heißt. Oder man hebt eine Reichensteuer ein. Man muss sich entscheiden, was man haben will. Und es hat sich schon viel verändert. Die OECD hat sich auf eine globale Mindeststeuer für Unternehmen geeinigt. Die EU hat zur Bewältigung der Coronakrise erstmals gemeinsame Schulden aufgenommen. All das war vor einigen Jahren noch völlig undenkbar. 

Zur Person

Thomas Piketty (52) ist ein französischer Ökonom und Professor an der Pariser Eliteuniversität „École des hautes études en sciences sociales“. Er ist Co-Direktor des „World Inequality Lab“ und der „World Inequality Database“, die sich auf die weltweite Entwicklung von Ungleichheit spezialisiert haben. Sein viel beachtetes und in Ökonomen-Kreisen teils umstrittenes Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ brachte ihm den Spitznamen „neuer Marx“ ein. Vergangenen Mittwoch wurde Piketty in Wien mit der Oskar-Morgenstern-Medaille der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Wien ausgezeichnet.

Marina  Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur