Ingmar Hoerr: „Die Corona-Pandemie war der Prüfstein“

Ingmar Hoerr, Pionier der mRNA-Technologie, über ein neues Zeitalter der Medizin und die Erfahrung, als Spinner betrachtet zu werden.

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Viele Forscher sprechen vom Anbruch einer neuen Ära der Medizin: Mit den beiden bereits zugelassenen Impfstoffen auf mRNA-Basis kamen erstmals Präparate auf den Markt, die auf der Nutzung von Boten-Ribonukleinsäure (messenger- RNA) beruhen. mRNA stellt eine Art Arbeitskopie genetischer Information dar und kann – tatsächlich gleichsam als Bote – die Bauanleitung für Proteine in Körperzellen einschleusen. Die Zellen stellen anschließend selbst bestimmte gewünschte Eiweiße her, zum Beispiel das Spike-Protein des Coronavirus. Derart wird das Immunsystem geschult und ist bei Virenkontakt gewappnet. Es sind viele weitere Anwendungen der mRNA-Technologie geplant, etwa gegen schwere Immunleiden und Krebs.

Kürzlich porträtierte profil die ungarischstämmige Forscherin Katalin Karikó, die schon in den 1970er-Jahren Grundlagen der mRNA-Technologie erforschte, und auf deren Arbeiten die Covid-Impfstoffe von BioNTech und Moderna beruhen (profil Nr. 8/2021, erschienen am 20. Februar 2021). Zu den Pionieren auf diesem Gebiet zählt auch der deutsche Biologe Ingmar Hoerr, dessen Entdeckungen zur Gründung des Tübinger Unternehmens CureVac führten – und zur Entwicklung des dritten Covid-Impfstoffs auf mRNA-Basis.

profil: Zwei Impfstoffe auf mRNA-Basis sind bereits im Einsatz. CureVac hat mit der Entwicklung ebenfalls sehr früh begonnen, ist aber mit seiner Vakzine noch nicht am Markt. Wo stehen Sie gerade?
Hoerr: Derzeit läuft die Phase III der Studien. Genaueres kann ich dazu nicht sagen. Ich bin zwar Gründer und natürlich in ständigem Austausch mit dem Unternehmen, im Moment aber nicht Mitglied im Management. Ich kann allerdings sagen, dass CureVac teilweise andere Prioritäten bei der Impfstoffentwicklung gesetzt hat als die Mitbewerber.

profil: Können Sie ein Beispiel nennen?
Hoerr: Bei RNA war wegen ihrer Instabilität eine zentrale Frage, wie wir stabile Impfstoffe entwickeln können. Impfstoffe, die auf zweistellige Minusgrade gekühlt werden müssen, kann man nicht weltweit verwenden. Man muss aber auch an Länder in Afrika oder Asien denken. Deshalb zielten wir von vornherein darauf ab, den Impfstoff zumindest bei Kühlschranktemperaturen lagern zu können. BioNTech und Moderna hingegen haben, was völlig legitim ist, primär auf Tempo gesetzt. Das ist ein wichtiger Parameter, aber nicht der einzige.

profil: Ich dachte, es sei eine Grundeigenschaft von mRNA, dass sie so instabil ist, dass nur tiefe Temperaturen für eine gewisse Zeit Haltbarkeit garantieren?
Hoerr: Das kommt auf den Ansatz an. Ich habe schon in meiner Doktorarbeit vor mehr als 20 Jahren gezeigt, dass man mRNA durch Sequenzmodulation stabilisieren kann. Wir waren die Ersten überhaupt, die mit nackter, unbearbeiteter mRNA eine zelluläre Immunantwort nachweisen konnten. Unser Verfahren war in der Lage, Antikörper und T-Zellen zu induzieren, die optimierte RNA war dafür stabil genug. Das war mein persönlicher Heureka-Moment.

profil: Worin unterscheidet sich Ihr Ansatz?
Hoerr: Anders als die Biochemikerin Katalin Karikó, die RNA chemisch modifiziert, um zu starke Immunantworten zu vermeiden, verwendet CureVac ausschließlich natürliche Bausteine. Die Immunantworten, die unsere Technologie hervorruft, sind ausgewogen, auch ohne chemische Modifikation.

profil: Was machen Sie stattdessen?
Hoerr: CureVac hat viele RNA-Konstrukte auf ihre Stabilität geprüft und Faktoren erkannt, die diese Stabilität auf natürliche Weise verstärken. Diese Faktoren bewirken nicht nur Stabilität, sondern verhindern zugleich überschießende Immunreaktionen. Man nennt das Codon-Optimierung. Vereinfacht kann man sagen, die Ansteuerung und Auslösung der Immunantwort erfolgt sequenzspezifisch, nicht chemisch.

profil: Hat die Coronaviruspandemie der mRNA-Forschung generell einen Schub verliehen?
Hoerr: Ich würde sagen, es war der Durchbruch einer Technologie, die Pandemie war der Prüfstein. Aber die Technologie als solche war bereits so weit gediehen, dass man rasch in die klinische Entwicklung gehen und Präparate bis zur Zulassung bringen konnte. Bei aller Tragik der Pandemie muss man sagen: Die mRNA-Technologie hat nun den Proof of concept 
erbracht. Es wird ein neues Zeitalter der Medizin anbrechen, und es wird nicht nur die drei Unternehmen geben, die momentan Impfstoffe zur Verfügung stellen, sondern viel mehr.

profil: Katalin Karikó hat kürzlich berichtet, dass ihre Arbeit jahrzehntelang als sinnlos und nicht zielführend bewertet wurde. Welche Erfahrungen haben Sie in der Vergangenheit gemacht?
Hoerr: Ganz ähnliche. Die meisten haben es die längste Zeit nicht verstanden, ich wurde nicht selten als Spinner abgetan. Aber ich musste nur zusammenrechnen, was ich an Forschungsergebnissen sehe, um das Potenzial zu verstehen. Ich bin ja Wissenschafter, kein Hexenmeister. Ich habe allerdings das Glück gehabt, schließlich mit Investoren in Kontakt zu kommen, die nicht nur Daten sehen wollten, sondern auch an eine Vision geglaubt haben. Einige haben ein Leuchten in den Augen bekommen, als wir ihnen die Möglichkeiten erklärt haben. Sie sagten, wenn das alles nur halbwegs stimmt, ist es eine Weltrevolution.

profil: Was sind Ihrer Ansicht nach die interessanten Einsatzmöglichkeiten von mRNA in Zukunft?
Hoerr: Ein wichtiges Gebiet wird sicher die Krebsbehandlung. Bisher gibt es dazu nur sehr unspezifische Verfahren, gleichsam Holzhammermethoden. Allerdings ist die Tumortherapie vergleichsweise kompliziert. Ein Virus ist letztlich ein dummes Objekt, Krebs hingegen ist kompliziert, weil Krebszellen andauernd mutieren und sich höchst wirksam tarnen. Unsere Idee ist es, eine Art mRNA-Bibliothek zu erstellen. Darin wären verschiedene Antigene gespeichert, zum Beispiel Oberflächenmoleküle von Krebszellen, die wiederum einen Anker für das Immunsystem darstellen können.

profil: Das wäre Basis für eine Impfung gegen Krebs?
Hoerr: Sozusagen. Jede Krebszelle beherbergt Antigene, die sie charakterisieren. Das sind die Ankerpunkte. Einzelne Antigene von Krebszellen werden definiert und in mRNA kodiert. Nach der Verabreichung geben sie das Signal für den Einsatz von Immunzellen, der Körperpolizei. Die Vision ist, Zugang zu den ganz individuellen Krebszellen eines Patienten zu bekommen, um die Therapie vollständig individuell gestalten zu können. Das Prozedere wäre, personalisierte mRNA zu schreiben, zu mixen und zu applizieren.

profil: Sind Krebsbehandlungen die nächsten Anwendungen, die den Markt erreichen?
Hoerr: Das kann zumindest gut sein. Allerdings ist die Durchführung von Studien nicht ganz einfach. Man kann nur bereits austherapierte Patienten für klinische Studien gewinnen, weil man allen anderen aus ethischen Gründen nicht die schon zugelassenen Therapien vorenthalten darf, um etwas Neues zu erproben. Wir müssten aber, um das Potenzial der mRNA-Methode zu demonstrieren, mit Patienten arbeiten dürfen, bei denen der Krebs erst entsteht oder sich in einem frühen Stadium befindet. Wir hatten zum Beispiel einen Rückschlag bei Studien an Patienten mit Prostatakrebs in einem späten Stadium. Die Studien sind fehlgeschlagen, weil wir keine ausreichende Immunantwort mehr hervorrufen konnten. Unserer Ansicht nach müsste man in einem früheren Stadium der Erkrankung intervenieren.

profil: Kommt mRNA gegen jede Krebsart infrage?
Hoerr: Verschiedene Krebsarten sind verschieden aggressiv und unterscheiden sich auch sonst fundamental. Bei Hautkrebs gibt es viele Antigene, die man ansteuern müsste. Außerdem kann es schon zu spät sein, wenn Hautkrebs erkannt wird. Bei Lungenkrebs dagegen ist man fast immer mit denselben Antigenen konfrontiert, das müsste die Therapie grundsätzlich aussichtsreicher machen. Allerdings ist auch hier die Früherkennung entscheidend.

profil: Welche Einsatzgebiete gäbe es noch?
Hoerr: mRNA ist immer dann sinnvoll, wenn das Immunsystem aktiviert werden soll. Aber der Einsatzbereich ist sehr breit. Auch Diabetes und Enzymdefekte wären mögliche Felder.

profil: Klingt alles fast zu schön, um wahr zu sein. Gibt es denn keine Nachteile von mRNA-Therapien?
Hoerr: Der Nachteil ist, dass praktisch noch nichts zugelassen ist. Das muss sich ändern.

profil: Aber schädliche Effekte oder Nebenwirkungen fallen Ihnen nicht ein?
Hoerr: Der Punkt ist: Die Halbwertszeit von mRNA ist klar definiert, sie zerfällt nach wenigen Stunden im Körper. Selbst wenn eine Person negativ reagieren sollte, dann nur zeitlich begrenzt: solange das Immunsystem aktiviert ist. Nach wenigen Tagen ist die mRNA aber rückstandslos abgebaut.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft