Ist die Herdenimmunität noch zu erreichen?

Israel ist durch das rasante Impftempo einer Herdenimmunität nah wie kein Land sonst. Doch nun stellen sich Mutationen quer.

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Die Totenstadt

Die Immunologin Ester Sabino begab sich im vergangenen Jahr mehrmals ins Epizentrum der Pandemie: Das Coronavirus hatte Manaus, die brasilianische Stadt im Herzen des Amazonas, zwei Mal mit voller Wucht getroffen. Im Mai und im Oktober war das Gesundheitssystem kollabiert, die Friedhöfe hatten sich mit Toten gefüllt. Sabino nahm zahllose Blutproben und stellte nach der zweiten Welle fest: 76 Prozent der Einwohner hatten eine Infektion durchgemacht und Antikörper entwickelt. Lange hatte es geheißen: Ab einer Immunitätsrate zwischen 60 und 70 Prozent könne man von Herdenimmunität sprechen – die nicht Immunisierten wären demnach mitgeschützt. Die Menschen sahen die über Brasilien schwappende dritte Welle im Jänner 2021 wohl auch deshalb relativ entspannt. 

Ein fataler Trugschluss, wie sich herausstellen sollte. Das Virus war mutiert, die Variante P.1 brach  über Manaus herein, und wieder erreichten die Zahlen der Infizierten Rekordmarken.

Sollte Sabino die Immunität überschätzt haben, wie einige Kollegen vermuten, so macht Manaus trotzdem klar: Eine durchgemachte Covid-Infektion schützt nicht automatisch vor der Ansteckung mit einer neuen Variante. „Auch Genesene müssen weiter vorsichtig bleiben“, so das Fazit von Ester Sabino. In Österreich spielt die brasilianische Variante P.1 derzeit keine Rolle. Wohl aber eine ihrer Mutationen namens E484K, die nun auch in Tirol gefunden wurde.

Der Wettlauf mit den Mutationen

Im Labor des Wiener Virologen Andreas Bergthaler am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wird nach Mutanten gefahndet. Ein Virus sammelt pro Monat ein bis Mutationen an, also ist es für Bergthaler nicht verwunderlich, dass die britische Variante B 1.1.7 heute nicht mehr exakt dieselbe ist wie im Jänner.

Manche Mutationen machen das Virus ansteckender, manche ermöglichen ein Verstecken vor der Immunantwort, manche wiederum schwächen das Virus. Viele sind wahrscheinlich bedeutungslos. „Von den meisten Mutationen wissen wir nicht, was sie bewirken“, so Bergthaler. Doch das wäre essenziell, um die Impfstoffe anzupassen.

Erst die Erfahrung und die weltweite Vernetzung zeigen, was eine einzelne Mutante kann. Bergthaler und seine Kollegen am CeMM sowie am Schwesterninstitut IMBA erkannten E484K, weil sie bereits in Brasilien, Südafrika und weiteren Varianten aufgetaucht war. Sie macht das Virus resistenter gegen Antikörper – und reduziert möglicherweise die Wirkung der Impfung. Weil sie früh erkannt wurde, lässt sich die veränderte britische Variante in Tirol wahrscheinlich einfangen. Mit anderen Mutationen wird das schwerer gelingen, sagt Bergthaler: Schon in Österreich ist es nicht leicht, die Folgen einer Mutation nachzuvollziehen – weil die Krankenakten noch nicht mit den Daten des Epidemiologischen Meldesystems des Bundes verbunden sind, wo die veränderten Varianten eingetragen werden. Noch aussichtsloser ist das in Staaten mit maroden Gesundheitssystemen, in denen gar nicht nach Varianten gefahndet wird.

Die Illusion von der Insel

In Israel haben mehr als 60 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis erhalten – das ist viel, aber bei Weitem nicht genug. Ein Grund: Die Impfungen sind erst ab 16 Jahren zugelassen. Nun sind Kinder und Jugendliche ein wesentlicher Teil der Pandemie, weil sie das Virus weitergeben (auch wenn sie selbst weniger erkranken). Zwar testen die meisten Hersteller ihre Vakzine an Kindern, doch bis es neue Alterslimits gibt, wird es noch dauern. Dazu kommt: Je ansteckender eine Variante, desto höher muss der Prozentsatz der Immunisierten sein. Beim Wildtyp des Virus ging man von einer Herdenimmunität bei einem Durchimpfungsgrad von 63 Prozent aus.

Für die aktuell in Österreich dominierende, fast doppelt so infektiöse britische Variante B 1.1.7 müsste sie bereits bei 78 Prozent liegen, wie der Impfexperte Herwig Kollaritsch vergangenen Montag vorrechnete. Das sei ohne Kinder und Jugendliche nicht zu erreichen, so Kollaritsch.

Seit Mitte März hapert es in Israel zudem mit der Impfbereitschaft. Und während die Behörden versuchen, die Menschen mit Gratis-Bier zu den Impfstationen zu locken, kommt ein weiteres Problem zum Vorschein: Israel ist umgeben von Ländern, in denen wenig oder gar nicht geimpft wird. Mit immer wieder aufflammenden, eingeschleppten Clustern ist also zu rechnen – und das freilich nicht nur in Israel. Seit Beginn der Pandemie warnen Virologen davor, auf ärmere Staaten zu vergessen. „Da schlummert eine Gefahr, die uns zeitverzögert einholen wird“, sagt Andreas Bergthaler. Modellrechnungen zufolge könnte es bis 2023 oder länger dauern, bis überall auf der Welt geimpft werden kann.

Impfen, impfen, impfen

Die Chance, das Virus mittels Herdenimmunität auszulöschen, haben wir verpasst. Eine perfekt koordinierte, globale Impfkampagne hätte das theoretisch vermocht, sagt etwa der Epidemiologe Matt Ferrari von der Pennsylvania State University in „Nature“. Doch davon sind wir meilenweit entfernt. Also müsse nun gelten: Je mehr und je schneller wir impfen, desto besser. Dann wird eine neue Normalität, mit regelmäßigen Auffrischungsimpfungen, wohl möglich sein.

Die Vakzine sind und bleiben unser größter Trumpf im Wettlauf mit den Mutationen, sagt auch Virologe Bergthaler. „Wenn die Impfungen das Anstecken anderer auch nicht völlig verhindern, so reduzieren sie es doch massiv.“ 

Umso bitterer, dass Indien und Südafrika im März mit ihrem Vorschlag abblitzten: Sie wollten bei der Welthandelsorganisation erreichen, die Patente auf die Impfstoffe für den Zeitraum der Pandemie auszusetzen. Das hätte mehr Herstellern ermöglicht, Impfstoffe zu produzieren. Doch die westlichen Industrienationen lehnten fast einhellig ab. Anfang Juni wird noch einmal verhandelt.

 

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.