Corona-Impfstraße am Gelände der Grazer Messe

Warum Vordrängeln bei der Corona-Impfung so leicht ist

Ohne zentrales Impfmanagement lässt sich leicht die Abkürzung zum ersehnten Stich nehmen.

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Montag, 8. März: 13.30 Uhr, Neunkirchen in Niederösterreich. Zeit und Ort ihrer ersten CoronaImpfung wird Tina Lubec nie vergessen. "Ich konnte gar nicht weinen, so glücklich war ich." Lubec ist 46 Jahre alt. Mit Diabetes und weiteren Erkrankungen zählt sie zur Risikogruppe. Seit Jänner kämpfte sie in Wien um den ersehnten Stich - mit vielen Mails, Stunden in der Warteschleife, Tränenausbrüchen in der Hotline. Doch Wien gab Hochrisikopatienten in Spitalsbehandlung, Menschen über 80 Jahren und dem Krankenhaus- und Pflegepersonal den Vortritt. Danach kamen Lehrer und Kindergärtner an die Reihe - bis hin zu Schulwarten und Putzfrauen. Ende Februar ließ sich Lubec vom Patientenombudsmann der Wiener Ärztekammer, Franz Bittner, bescheinigen: "Sie sollten selbstverständlich vor diesen Gruppen drankommen." Doch auch das half nicht. Die Wienerin überlegte bereits einen Impftrip nach Dubai, landete dann aber im Nachbarbundesland. Sie klickte sich auf Anraten einer Verwandten durch die niederösterreichische Impfplattform und ergatterte schon beim zweiten Arzt einen Termin. Ihr Wiener Wohnsitz spielte am Impftag in Neunkirchen keine Rolle. Spritztouren in die Nachbarbundesländer sind in der föderalen Impflandschaft eigentlich nicht vorgesehen - aber offenbar möglich.

Am Beginn der Vorwoche wurde im Durchschnitt alle vier Sekunden ein Nadelstich gegen Covid-19 gesetzt, am Ende der Woche waren es 3,5 Sekunden. 667.570 Menschen sind geimpft, immer mehr Impfstraßen eröffnen. Anders als Dänemark, Norwegen und Island setzt Österreich weiterhin auf den Impfstoff von AstraZeneca, seit Donnerstag ist das Serum von Johnson&Johnson zugelassen. Je breitflächiger geimpft wird, desto deutlicher zeigt sich nun, wie viele Österreicher bereits die Abkürzung zum ersehnten Stich nahmen. Wie lasch die Kontrollen sind. Und wie viele ältere und kranke Menschen noch sehnsüchtig auf die Impfung warten.

Dienstag, 9. März. Seit zwei Wochen werden in der Bundeshauptstadt 40.000 Beschäftigte in Schulen und Kindergärten geimpft. Im Wiener Stadtschulrat erzählt der Sprecher von Bildungsdirektor Heinrich Himmer von einer internen Vorgabe. Nur jene, die tatsächlich in die Klassen gehen, sollten sich immunisieren lassen. Nicht aber jene, die in Karenz sind oder ausschließlich in der Bildungsdirektion arbeiten. Es ist ein moralischer Appell. Wer ihn nicht befolgt, hat keine Konsequenzen zu befürchten. An der Impfstation reicht eine Bestätigung des Arbeitgebers, die kaum kontrolliert wird, wie Lokalaugenscheine zeigen. Schon gar nicht wird geprüft, ob eine Person daheim in Karenz oder in der Verwaltung tätig ist. "Wo zieht man die Grenze?", sagt der Sprecher von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker. Eine umfassende Kontrolle sei angesichts des Andrangs nicht möglich.

In allen Bundesländern sind niedergelassene Ärzte samt Personal bereits immunisiert. Geimpfte Ehepartner, das soll in den besten Arztfamilien vorgekommen sein. "Ich musste mich fast rechtfertigen, warum ich meine Frau nicht mitgeimpft habe", sagt ein Arzt aus Wien-Umgebung zu profil.

Kontrollen gab es auch hier kaum, ganz abgesehen von Sanktionen. "Eine Strafbarkeit ist weder für impfende Ärzte noch Vordrängler anzunehmen. Der Plan des Gesundheitsministeriums, wann welche Gruppe zu impfen sei, ist bloß eine Empfehlung", sagt Verfassungsrechtler Heinz Mayer.
 

Von der Website des orthopädischen Krankenhauses Wien-Speising ist über Nacht ein Facebook-Eintrag vom Jänner verschwunden. Er zeigte einen ehemaligen Primar bei der Impfung im Spital. Er ist seit acht Jahren in Pension. profil hatte tags zuvor um eine Stellungnahme gebeten: "Es war eine bewusste Entscheidung, ihn und einen weiteren Ex-Mitarbeiter zu impfen. Sie fungierten als Testimonials, um jene zu motivieren, die der Impfung skeptisch gegenüberstanden", sagt der Krankenhaussprecher. In mancher Arztpraxis ergab sich der Extraspielraum auch dadurch, dass geübtes Personal aus einem Impfstoff-Fläschchen ein bis zwei Dosen mehr ziehen konnte als vorgesehen. In Niederösterreich wunderte sich so mancher Stammpatient außerhalb der Zielgruppe, warum er vom Hausarzt en passant zum Impfen eingeladen wurde.

Mit dem Mangel an Impfstoffen kam die Gerechtigkeitsdebatte. "Impfvordränger Peter Koch?" So meldet sich der Bürgermeister von Bruck an der Mur am Telefon. Er stand als einer von vielen Bürgermeistern, die sich in örtlichen Seniorenheimen impfen ließen, am Pranger. Er habe damals noch extra einen Zeitungsredakteur angerufen, um die Impfbereitschaft im Pflegepersonal zu heben, erinnert er sich. Nach dem Shitstorm habe er sich geniert.

Eine Kontrolle des Impfgeschehens durch die Volksanwaltschaft hätten sich die NEOS gewünscht. "Sonst zahlen jene drauf, die keine guten Kontakte haben", sagt Sozialsprecher Gerald Loacker. "Je mehr geimpft wird, desto schwieriger wird es, nachzuvollziehen, ob die Verteilung gerecht ist. Es fehlt die Transparenz", sagt auch Volksanwalt Bernhard Achitz. Die Übertragung des Impfmanagements durch die Bundesregierung an die Bundesländer hat die faire Verteilung nicht gerade begünstigt. Laut Patientenanwaltschaft führen unterschiedliche Regeln der Bundesländer sogar dazu, dass Angehörige von Risikopatienten teils früher immunisiert sind als diese selbst. Das Impfmanagement hätte zentral gesteuert werden müssen. Loacker meint: "Wozu hat man die Sozialversicherung mühsam zusammengelegt, wenn man sie nun nicht in der größten Gesundheitskrise nutzt? Sie hat alle relevanten Daten."Auch Volksanwalt Achitz fragt sich, warum man "eines der besten Sozialversicherungssysteme der Welt nicht von Beginn an fürs Durchimpfen der Bevölkerung heranzog." Nicht in allen Bundesländern seien die Servicestellen der Österreichischen Gesundheitskassen (ÖGK) optimal eingebunden worden.
 

Mittwoch, 10. März. Bei niedergelassenen Ärzten in Niederösterreich geht es rund, Nerven liegen blank. Das Land hat die Bevölkerung informiert, dass nun alle Hochrisikopatienten an der Reihe sind. Dafür braucht es ein Covid-19-Risiko-Attest. Und das wollen nicht nur jene haben, die zu dieser Gruppe zählen. Auch diese Etappe im Impfplan wirkt eher improvisiert als von langer Hand geplant.

10.00 Uhr, Gaaden bei Mödling. Bürgermeister Rainer Schramm tippt mit fünf Kollegen die Daten von älteren Dorfbewohnern in die Impfplattform ein. Ein Assistenzeinsatz für jene Senioren, die bisher an der Online-Vergabe scheiterten und nicht zum Zug kamen. Dieses Mal hat es geklappt. Alle sechs Gaadner haben ihren Termin. Einziger Wermutstropfen für den Bürgermeister: AstraZeneca. "Manche sind verunsichert, weil der Impfstoff erst seit ein paar Tagen für über 65-Jährige zugelassen ist. Dazu kommen die negativen Schlagzeilen." Schramm schließt nicht aus, dass der eine oder andere den Impftermin deswegen verstreichen lassen könnte. "Wenn etwas übrig bleibt, impfen wir die Feuerwehr", baut Schramm schon vor.
 

Donnerstag, 11. März. Die Existenz eines Bundesamtes für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) war bisher nur Feinspitzen bekannt. Das Amt ist für die Zulassung, Prüfung und Beobachtung von Arzneimitteln zuständig und führt Buch über Nebenwirkungen der Covid-19-Impfstoffe. Nach dem Todesfall einer 49-jährigen Krankenschwester des Landesklinikums Zwettl, die nach einer AstraZeneca-Impfung an schweren Gerinnungsstörungen starb, laufen die Telefone beim BASG heiß. "Von bisher 43 Todesfällen in zeitlicher Nähe zu einer Impfung handelte es sich in 42 Fällen um BioNTech/Pfizer und nur in einem Fall um AstraZeneca", wundert sich der Pressesprecher über die Versteifung auf AstraZeneca. "Je mehr Menschen geimpft sind, desto eher treten Todesfälle in zeitlicher, aber zufälliger Nähe zur Impfung auf." Bisher sei kein einziger Todesfall kausal auf eine Impfung zurückgeführt worden.

Freitag, 12. März: In einer steirischen Handelsakademie schickt eine Schulärztin ein internes Mail an die Lehrer aus. Thema: "Die natürlich hohe Unsicherheit der Corona-Schutzimpfung mit AstraZeneca." Nächste Woche ist Termin in der Impfstraße. Die Ärztin verweist auf die schwerwiegenden Folgen, die nach einer Covid-Erkrankung drohen, und stellt sie den Einzelberichten über Todesfälle nach Impfungen gegenüber. Kein einziger sei bisher auf die Impfung zurückgeführt worden. Da ohne AstraZeneca ein Covid-19-Schutz des Personals länger nicht möglich und gleichzeitig die britische Mutation deutlich ansteckender sei, rät sie trotz aller Bedenken zur Impfung.

Am Nachmittag kündigt Bundeskanzler Sebastian Kurz an, sich mit AstraZeneca impfen zu lassen, sobald er an der Reihe ist. Er will das Vertrauen in den Impfstoff stärken. Kurz darauf meldet die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA), AstraZeneca könne allergische Reaktionen auslösen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont jedenfalls, dass es keinen Grund gebe, AstraZeneca nicht zu verwenden. 

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.