Titelgeschichte

Sport, Diäten, Jo-Jo-Effekt: Österreichs Jugend wird immer dicker

Was sind die Ursachen des Übergewichts bei Jugendlichen, und was kann man dagegen tun?

Drucken

Schriftgröße

Mit elf Jahren machte Endrit Xhemaili seine erste Diät. Bei einer Größe von 1,51 Metern wog er damals mit 78 Kilogramm schon deutlich zu viel. Er liebte Fettes, Süßes und trank gerne klebrige Limonade. Zudem nutzte der Bub aus Wien jede Gelegenheit für eine Extraportion: Er war häufig bei seinem Onkel zu Besuch und aß dort auch stets. Wenn er heimkehrte und mit Eltern und Geschwistern am Tisch saß, behauptete er immer, noch nichts gegessen zu haben. „Ich war von klein auf dick und hungrig, ich kann mich an kein anderes Körpergefühl erinnern“, sagt der heute 19-Jährige. 

Mit elf war die Scham über den eigenen Körper so groß geworden, dass er beschloss, eine Diät zu versuchen. Mit einer Hungerkur – täglich zwei Shakes, dazu Vitamintabletten und eine kleine Mahlzeit – nahm der Mittelschüler innerhalb eines Monats elf Kilo ab. Anfangs war er sehr stolz. Doch der ständige Hunger war nicht lange auszuhalten. Seine Mutter unterstützte Xhemaili, wo sie konnte, doch zwischen Job, Haushalt und Familie neigte sie selbst dazu, zu schnell und zu viel zu essen. Die Versuchung lauerte überall. So schlichen sich die Fressattacken zurück in das Leben des Buben, bis er wieder bei FastFood-Menüs, Cola und Gummibären landete. „Es dauerte nicht lange, und ich wog mehr als vor der Diät“, sagt Endrit Xhemaili.

Wie ihm geht es vielen jungen Menschen in Österreich – und es sind heute deutlich mehr als noch vor 15 Jahren. Lisa Gensthaler, Gerhard Prager und ihr Team von der Medizinischen Universität Wien lieferten nun den bisher umfassendsten Nachweis, dass die Österreicher immer dicker werden. Sie analysierten das Gewicht, die Größe und den Body-Mass-Index (BMI) aller jungen Männer, die sich zwischen 2003 und 2018 zur Stellung beim Bundesheer einfanden. Insgesamt sammelten sie die Daten von 850.000 18-Jährigen.

Das Ergebnis ist alarmierend: Der Anteil der Fettleibigen unter den jungen Männern hat sich in den vergangenen 15 Jahren von 5,8 Prozent auf 10,4 Prozent verdoppelt. Auch der Prozentsatz der Übergewichtigen ist von 15,3 auf 20,4 deutlich angestiegen. (Erwachsene gelten ab einem BMI von 25 als übergewichtig, ab einem BMI von 30 als adipös, siehe Tabelle Seite 54). Insgesamt ist heute knapp ein Drittel der jungen, männlichen Erwachsenen zu dick. Bei den jungen Frauen verlaufe die Entwicklung ähnlich, sagen die Studienautoren Gensthaler und Prager. Und: Die Corona-Pandemie hat den Trend in den vergangenen zwei Jahren weiter befeuert. 

Was sind die Ursachen für das stetig steigende Übergewicht unter den Jugendlichen? Ab wann ist ein Kind zu dick, und was können die Eltern dagegen tun? Welche Folgen haben die überflüssigen Kilos im späteren Leben? profil hat bei Expertinnen und Experten nachgefragt.

Übergewicht ist ein Bildungsproblem

Die womöglich wichtigste Erkenntnis aus den Daten des Bundesheeres: Übergewicht und Bildungsgrad hängen eng zusammen. Unter den dicken 18-Jährigen waren signifikant mehr Schulabbrecher, dementsprechend landeten weniger in höheren Schulen oder schafften die Matura. Je mehr Gewicht die Waage anzeigte, desto geringer waren ihre Chancen in der Schule: Von den Normalgewichtigen hatte ein Drittel die Matura, von den Übergewichtigen 25 Prozent, von den fettleibigen Jugendlichen (Adipositas Grad III) hatten nur 14 Prozent den höchsten Schulabschluss in der Tasche.

Diese Zahlen decken sich mit den Ergebnissen internationaler Studien. „Übergewicht trifft häufiger sozial schwächere Familien und Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad“, sagt Medizinerin Lisa Gensthaler. Oft fehle das Wissen über gesunde Ernährung oder schlicht die Zeit, sich damit zu befassen. 

Sind beide Eltern dick, haben ihre Kinder kaum mehr eine Chance: Ihr Risiko, ebenfalls übergewichtig zu werden, liegt bei 70 Prozent. Die Gründe dafür sind nicht nur genetisch. „Kinder ahmen nach, was ihnen die Eltern vorleben“, sagt Studienautor Gerhard Prager, der die Adipositas-Ambulanz im Allgemeinen Krankenhaus Wien (AKH) leitet. Wenn die Erwachsenen große Bissen machen, ihre Mahlzeiten nebenbei hinunterschlingen, viel Süßes und Limonade verdrücken, nehmen sich die Kinder das zum Vorbild.  

Burger und Limonade: die Rolle der Ernährung

Endrit Xhemailis Familie war im Jahr 2000, also vor seiner Geburt, aus dem Kosovo nach Wien geflüchtet. Die Eltern mussten erst Fuß fassen in ihrer neuen Heimat. Als Endrit in die Schule kam, begann seine Mutter wieder zu arbeiten. Damit fielen die geregelten Essenszeiten weg. Mittags war der Bub allein zu Hause und machte sich Wurstsemmeln, Schinken-Käse-Toast oder Eier, dazu trank er Limonade. Als Nachspeise gab es Schokolade und Gummibären.

Ab einem BMI von 30 gilt Übergewicht als eine Krankheit.

Lisa Gensthaler

Chirurgin

Ein aufmerksamer Lehrer weckte Endrit Xhemailis Bewusstsein für gesunde Ernährung. Er war etwa zwölf Jahre alt, als er und seine Klassenkameraden ein Spiel erfanden. In den Pausen stürmten sie zum Getränkeautomaten, holten sich mehrere Flaschen Cola und tranken sie hintereinander aus. Wer die braune Brause am schnellsten hinunterstürzen konnte, hatte gewonnen. Als der Klassenvorstand das mitbekam, widmete er dem Thema Ernährung mehrere Unterrichtsstunden. Er zeigte den Kindern den Film „Super Size Me“, in dem sich der Regisseur Morgan Spurlock einem radikalen Selbstversuch aussetzte. Er aß 30 Tage lang ausschließlich die Supersized-Menüs von McDonald’s und dokumentierte die stetige Gewichtszunahme seines Körpers. 

Dann machte die Klasse selbst ein Experiment. Die Hälfte der Schülerinnen und Schüler aß eine ungesunde Jause, die andere Hälfte eine gesunde. Danach mussten die beiden Gruppen Rätsel lösen. Jene Schüler, die Obst, Vollkorn und Mineralwasser zu sich genommen hatten, schnitten besser ab. „Da hat es bei mir Klick gemacht. Ich habe kein Cola, kein Fanta, keinen Eistee mehr getrunken, sondern nur noch Mineralwasser“, sagt Endrit Xhemaili. Er verdankt sein Wissen einem engagierten Lehrer, der bewusst hinschaute und Themen abseits des Lehrplans angeschnitten hat. Das ist freilich eher die Ausnahme als die Regel. 

Wer von zu Hause nicht das nötige Bewusstsein mitbekommt, sollte es wenigstens in der Schule lernen. Mediziner Gerhard Prager ist überzeugt: Mehr Chancengerechtigkeit, etwa durch die Einführung einer flächendeckenden Ganztagsschule samt Ernährungsunterricht und täglicher Bewegungsstunde, wäre ein wichtiges Mittel der Prävention. Wer um die Gefahren von Fast Food weiß, kann sich besser selber helfen.

Mehr Bildschirmzeit, mehr Kilo

Die überschüssigen Kilo wurde Xhemaili trotz seines Erweckungserlebnisses in der Schule nicht los. Er ersetzte seine Sucht nach Süßgetränken durch Videospiele und Schokolade: „So begannen meine Zockerjahre.“ Bis er 16 war, verbrachte er den Großteil seiner Freizeit vor dem Computer. Als Kind hatte er sich gerne bewegt, doch das änderte sich nun. Immer häufiger schwänzte der Teenager den Turnunterricht, weil die Knie schmerzten und er ständig nach Luft ringen musste: „Es war mir unangenehm.“
Die Bildschirmzeit korreliert stark mit dem Körpergewicht, wie  deutsche Wissenschafter herausfanden. „Im Vergleich zu Kindern, die weniger als eine Stunde pro Tag fernsehen oder am Computer spielen dürfen, haben Kinder, die dort beispielsweise drei Stunden verbringen, ein um 80 Prozent erhöhtes Risiko für Übergewicht“, sagt Manfred Müller vom Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde in Kiel. 

Neben der ungesunden Ernährung ist die seit den 1980er-Jahren stetig wachsende Bildschirmzeit der Hauptgrund für das steigende Übergewicht. „Damals gab es Fernsehen, jetzt sitzen die Kinder noch länger vor Smartphone, Laptop oder PlayStation und knabbern nebenbei Chips und Kekse“, sagt Susanne Greber-Platzer, die Leiterin der Uniklinik für Kinder- und Jugendheilkunde von MedUni und AKH Wien. Die Stunden, in denen Kinder und Jugendliche sich kaum bewegen, haben sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Corona hat das Problem noch verschärft: Es sei eine Illusion, zu erwarten, die Kinder würden automatisch zu ihrem Bewegungspensum von vor der Pandemie zurückkehren, sagt  Greber-Platzer. Die tägliche Turnstunde, die lange gefordert, aber an den österreichischen Schulen dann doch nie eingeführt wurde, „wäre jetzt Gold wert“. 

Endrit Xhemaili hatte mit 16 Jahren ausgespielt. Das Zocken interessierte ihn nach vier intensiven Jahren vor dem Computer einfach nicht mehr. Er setzte sich selbst das Ziel, 10.000 Schritte am Tag zu machen. Er ging viel spazieren und schaffte das Pensum sowohl an Schultagen als auch am Wochenende. In dieser Zeit beschloss er, nach dem Abschluss der Handelsschule noch die HAK-Matura anzuhängen.

„Kinder ahmen nach, was ihnen die Eltern vorleben.“

Gerhard Prager

Leiter der Adipositas-Ambulanz am AKH

„Und dann kam Corona“, seufzt Xhemaili. Seine Schritte reduzierten sich auf den Weg vom Bett zum Zähneputzen ins Bad und zurück. Den Unterricht absolvierte er liegend, die Hausaufgaben manchmal ebenfalls, den Rest des Tages verschlief er. „Ich war richtig depressiv“, sagt er. Sein Gewicht stieg von 140 auf 157 Kilogramm. Bei einer Körpergröße von 1,80 Metern ergab das einen BMI von 48. Zum Vergleich: Ab einem BMI von 40 zählt man zur höchsten Stufe der Fettleibigkeit, Adipositas Grad III.

Was bringen Diäten und Sport?

Weniger essen, mehr Bewegung, damit kann jeder abnehmen – die Serie „The Biggest Loser“ trieb dieses Prinzip auf die Spitze. Danny Cahill, 2009 Sieger der achten Staffel im US-Fernsehen, wog zu Beginn der Aufnahmen 195 Kilogramm. Auf der „Loser-Ranch“ trieben er und die anderen Kandidaten sieben Stunden täglich Sport, wobei sie angeblich bis zu 9000 Kalorien verbrannten. Zudem wurden ihnen strenge Diäten verordnet. Derart gedrillt, wurden die Teilnehmer anschließend für vier Monate nach Hause geschickt, um selbstständig weiter abzunehmen. 

Danny Cahills Ziel: Ein halbes Kilo pro Tag sollte runter. Dafür kündigte der damals 40-jährige Familienvater seinen Job und verordnete sich den Alltag eines Profisportlers. Aufstehen um fünf Uhr früh, 45 Minuten aufs Laufband, dann Frühstück. Ein Ei und zwei Mal Eiweiß ohne Dotter, eine halbe Grapefruit und ein Stück Vollkorntoast. Dann noch einmal 45 Minuten aufs Laufband, 40 Minuten Pause, dann mit dem Rad ins 15 Kilometer entfernte Fitnessstudio. Dort trainierte er 2,5 Stunden und radelte anschließend wieder nach Hause zum Mittagessen. Eine Hühnerbrust ohne Haut, eine Handvoll Brokkoli und zehn Stangen Spargel. Dann eine Stunde Pause vor der zweiten Fahrt ins Fitnessstudio. 

Die Ochsentour zeitigte Erfolg. Beim Finale wog Cahill nur noch 85 Kilo, wurde gefeiert wie ein Star und tourte anschließend durch alle wichtigen Talkshows der USA. Doch schon damals wusste er: Er würde dieses Gewicht unmöglich halten können. In den folgenden vier Jahren arbeitete Cahill als Motivationstrainer und schaffte es mit drei Stunden Sport am Tag immerhin, sein Gewicht auf 115 Kilo zu stabilisieren. Als er dann in seinen alten Job als Landvermesser wechselte, kehrten auch die Kilo zurück. Sechs Jahre nach „The Biggest Loser“ wog Danny Cahill wieder 134 Kilo, Tendenz steigend. 

In dieser Zeit ließ sich Cahill gemeinsam mit 15 anderen Absolventinnen und Absolventen der TV-Show vom Ernährungsmediziner Kevin Hall vermessen. Hall wollte wissen, wie nachhaltig die radikale Kur gewesen war. Das deprimierende Ergebnis: Alle Kandidaten hatten nach sechs Jahren wieder an Gewicht zugelegt, manche waren sogar noch schwerer als vor der Show. „Es ist beängstigend und beeindruckend zugleich, mit welcher Macht sich der Körper gegen das Abnehmen stemmt“, sagte Hall der „New York Times“. 

Der Körper wehrt sich mit allen Mitteln

Zwei Mechanismen waren schuld an dem unausweichlichen Jo-Jo-Effekt: Erstens hatte sich der Metabolismus der Kandidatinnen und Kandidaten beim radikalen Abnehmen extrem verlangsamt. Das heißt: Ihr Körper verbrauchte im Ruhezustand viel weniger Kalorien als vor der Zeit auf der Loser-Ranch. Mediziner Hall wusste um diesen Effekt, den er nach strengen Diäten immer beobachtete. Doch dass sich der Metabolismus auch nach sechs Jahren nicht erholt hatte, sondern sogar weiter gesunken war, war für ihn und andere Experten weltweit neu. Für Danny Cahill hieß das: Um sein aktuelles Gewicht von 134 Kilo zu halten, musste er täglich 800 Kalorien weniger zu sich nehmen als ein anderer Mann seiner Größe – jedes Gramm Essen mehr verwandelte sein Körper sofort in Fett. 

Hinzu kam der Mangel an Leptin, einem Hormon, das im Magen gebildet wird und das Hungergefühl unterdrückt. Bei den Untersuchungen vor Beginn der Show hatten alle Teilnehmer normale Leptin-Werte, doch bis zum großen Finale waren sie auf null heruntergerasselt. Die Folge: permanenter, nagender Hunger. Als die Kandidatinnen und Kandidaten wieder an Gewicht zulegten, stieg auch das Leptin – jedoch nur auf etwa die Hälfte des normalen Spiegels. Kein Wunder also, dass sich Danny Cahill seiner Fressattacken kaum erwehren konnte. „Ich öffnete eine Packung Chips und wollte nur ein paar davon essen. Dann schaltete sich mein Hirn aus, und ich stopfte mir die ganze Packung in den Mund“, sagte er der „New York Times“. 

Für Cahill war die Studie eine Erleichterung. Wie viele Menschen, die nach einer Diät wieder zunehmen, hatte er sich Vorwürfe wegen seiner mangelnden Willenskraft gemacht und ständig mit schlechtem Gewissen gekämpft. Nun wusste er: Sein Körper ließ ihm gar keine andere Chance.

Heißt das also, gesünderes Essen und Bewegung bringen ohnehin nichts? Auf gar keinen Fall. Jedes schmelzende Kilo ist aus medizinischer Sicht von Vorteil – besonders bei Kindern und Jugendlichen. Je früher man mit einer bewussten Ernährung und ausreichend Bewegung beginnt, desto besser lassen sich Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Gelenksabnützungen und eine Fettleber vermeiden.

Doch für die ausgewachsenen Jugendlichen und die Erwachsenen gilt: Es ist kaum zu schaffen, auf Dauer mehr als fünf bis zehn Prozent seines Körpergewichts zu verlieren. Das betrifft Normalgewichtige ebenso wie Fettleibige.

Was tun gegen den Jo-Jo-Effekt?

Seit Kurzem weiß man, dass bestimmte Diabetesmedikamente auch beim Abnehmen helfen. Die Spritzen, die man sich einmal monatlich selbst verabreicht, beinhalten Hormone, die das Hungergefühl eindämmen. „Wer dazu die Ernährung umstellt und sich regelmäßig bewegt, kann sein Gewicht um bis zu 20 Prozent reduzieren“, sagt Lisa Gensthaler von der Adipositas-Ambulanz. 

„Das Wichtigste ist Struktur im Alltag.“
 

Susanne Greber-Platzer

Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde an MedUni und AKH

Das Problem: Die Krankenkassen übernehmen die Kosten von 159 Euro pro Monat nur für Diabetespatienten, nicht für Übergewichtige. „Hier muss ein Umdenken stattfinden“, warnt Ambulanzleiter Gerhard Prager. Denn schon leichtes Übergewicht führt zu Folgeerkrankungen, von Diabetes über Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten, Atemaussetzer im Schlaf bis zu schweren Gelenkbeschwerden. Dickdarm- und Brustkrebs treten bei Übergewichtigen auch öfter auf. 

Eine Studie der Universität Oxford mit 900.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zeigte, dass Fettleibigkeit ähnlich gesundheitsgefährdend ist wie Rauchen. Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 30 verlieren im Durchschnitt 3,2 Lebensjahre. Adipöse mit einem BMI von über 30 sterben im Schnitt sieben Jahre früher als Normalgewichtige.

Magenoperation: Ausweg mit KonsequenzenEndrit Xhemaili ist mit 19 Jahren noch sehr jung, doch sein Körper ließ ihn die Folgen der Adipositas bereits spüren. Sein Blutdruck stieg in den vergangenen Jahren, seine Leber lagerte mehr Fett ein, als sie sollte, und war deutlich vergrößert, seine Knie schmerzten beim Gehen. „Ab einem BMI von 30 gilt Übergewicht als eine Krankheit“, so Chirurgin Lisa Gensthaler. 

Sie sitzt an ihrem Schreibtisch in der Adipositas-Ambulanz im siebten Stock des AKH. Vor ihr hat Endrit Xhemaili Platz genommen. Er versinkt ein wenig in dem breiten blauen Sessel, der extra für voluminöse Menschen gebaut ist. Als er im vergangenen Sommer das erste Mal hier war, füllte er den Sitz komplett aus. Damals wog er 157 Kilo und war voller Hoffnung. Eine Freundin hatte durch eine Magenoperation stark abgenommen und ihn motiviert, ebenfalls ärztliche Hilfe zu suchen. 

Mit der Freundin hatte er wieder begonnen, spazieren zu gehen. Denn von ihr wusste er: Man musste schon vor der Operation fünf Kilo abnehmen, um seine Motivation unter Beweis zu stellen und sich an eine gesündere Lebensweise zu gewöhnen. Zudem musste man Schulungen zur Ernährung absolvieren, eine kohlenhydratarme Diät einhalten, zum psychologischen Gutachten und viele medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen. Ab einem BMI von 40 übernimmt die Krankenkasse automatisch die Kosten für eine Magenoperation (die ausschließlich bei ausgewachsenen Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt wird). Xhemaili hatte, wie bereits erwähnt, einen BMI von 48.

Am 25. Oktober des Vorjahres lag der Maturant schließlich auf dem OP-Tisch. In einer knappen Stunde verkleinerte ein Chirurgenteam um Lisa Gensthaler und Gerhard Prager seinen Magen auf die Größe von fünf Mal fünf Zentimetern. Mit Klammernähten legten sie nicht nur den Großteil des Magens, sondern auch 150 Zentimeter des Dünndarms still. „Damit trickst man den Körper doppelt aus“, erklärt Gensthaler. Einerseits kann der Patient nur mehr kleinere Portionen essen; andererseits landet die Nahrung später im Darm, wird also schlechter verwertet. Hinzu kommt, dass sich die für Hunger und Sättigung zuständigen Hormonspiegel durch die OP verändern. Nach fünf Tagen im Krankenhaus konnte Endrit Xhemaili nach Hause gehen.

„Mein Heißhunger auf Fettes und Süßes ist fast verschwunden“, sagt er  bei einer Kontrolluntersuchung im AKH. Der Schritt auf die Waage fällt ihm im Vergleich zu früher leicht. Sie zeigt 113 Kilo. In sieben Monaten hat Xhemaili 44 Kilo verloren. Das nächste Ziel: „Es unter 100 zu schaffen.“

Bis zu 40 Prozent des Körpergewichts können Menschen durch eine Magenoperation langfristig verlieren. Doch die Gewichtsreduktion zu halten, bleibt auch mit einem Bypass oder Schlauchmagen eine Herausforderung. Für Endrit Xhemaili heißt es nun: Ein Leben lang kleine Portionen essen, jeden Tag Vitamine schlucken, sich viel bewegen und sofort gegensteuern, wenn die Waage wieder eine Tendenz nach oben zeigt. Denn: Dauerhaft halten kann sein Gewicht nur, wer den Restmagen nicht durch größere Mahlzeiten wieder ausdehnt. Mit der Adipositas-Ambulanz wird Xhemaili ebenfalls für immer verbunden bleiben. „Wir begleiten unsere Patienten ihr Leben lang mit regelmäßigen Nachsorgeuntersuchungen“, sagt Chirurgin Gensthaler.

Es ist durchaus realistisch, dass Endrit Xhemaili im nächsten halben Jahr sein Idealgewicht von etwa 80 Kilogramm erreicht. Dann will er alles daransetzen, dass es dabei bleibt.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.