Verrückte Forschung: Absurde Experimente, die zu Durchbrüchen führten
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David L. Hu ist der nutzloseste Forscher Amerikas. Seine Arbeit sei maximal unnütz und verschwenderisch, wie er selbst sagt. Der Ingenieurwissenschafter und Biologe hat während seiner Karriere am Georgia Institute of Technology mehr Geld für Forschungsprojekte verprasst, als er jemals verdienen wird; oder seine Eltern zeitlebens verdienten; oder seine Kinder in Zukunft verdienen können.
Die Forschungsmittel flossen zum Beispiel in das Studium der Frage, wie es nassen Hunden gelingt, sich so effizient zu schütteln, dass sie 90 Prozent des Wassers in weniger als einer Sekunde aus dem Fell entfernen. Weiters ging David Hu dem Rätsel nach, wozu Lebewesen Wimpern brauchen. Er untersuchte, wieso Wombats würfelförmige Fäkalien produzieren. Und er stellte die Goldene Regel auf, die besagt: Alle Säugetiere ab einer bestimmten Größe, von der Katze bis zum Elefanten, brauchen etwa gleich lang, um ihre Blase zu entleeren, nämlich rund 20 Sekunden. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, besuchten Hu und seine Studierenden einen Zoo, filmten 32 Säugetiere beim Urinieren und werteten die Aufnahmen in Zeitlupe aus.
Wenn Hu seine Arbeit als Geldverschwendung bezeichnet, ist das natürlich ironisch gemeint. Einen Text für das Fachjournal „Scientific American“ eröffnete der 46-Jährige bewusst mit jener plakativen Selbstbeschreibung. Derart replizierte er erstens auf Vorwürfe seitens der Politik, Forscher wie er würden bloß Steuermittel vergeuden. Zweitens sicherte er sich damit genügend Aufmerksamkeit, um zum eigentlichen Punkt überzuleiten: Forschung dürfe, ja solle sogar von purer Neugier und der Freude an ziellosem Erkenntnisgewinn getrieben sein, ohne unmittelbare praktische Anwendung vor Augen. Das sei das Wesen der Grundlagenforschung, die oft erst viel später und manchmal überraschend zu bedeutenden Fortschritten beitrage.
Die Goldene Regel hat jetzt schon Relevanz: Denn die Hydrodynamik des Urinierens lässt sich für technische Innovationen nutzen, zum Beispiel bei der Konstruktion von Wassertanks oder beim Design von Feuerwehrschläuchen. Die zentrale Lehre dabei ist, dass aus sehr großen Behältnissen ebenso schnell Flüssigkeit freigesetzt werden kann wie aus kleinen, basierend auf den beobachteten Faktoren im Tierreich, vor allem Schwerkraft, Länge der Harnröhre und Durchflussrate.
Aber auch manche Ärzte nutzen die 20-Sekunden-Regel, etwa um frühe Hinweise auf Prostataleiden zu erhalten. Vom Studium sich schüttelnder Hunde wiederum könnte man vielleicht lernen, wie sich Trocknungsprozesse möglichst energiesparend gestalten lassen, erläutert Hu.
Der Wert scheinbar unsinniger Wissenschaft
Seine Forschungen werden auch in einem Buch thematisiert, das soeben erschienen ist. Es trägt den Titel „The Salmon Cannon and the Levitating Frog“, und Autorin Carly Anne York hält darin, verpackt in eine dichte Abfolge anschaulicher Beispiele, ein Plädoyer für den Wert einer Grundlagenforschung, die von der Lust am blanken Erkenntnisgewinn getrieben ist. Sie selbst sei immer wieder genötigt worden, zu erklären, wem oder was ihre Arbeit konkret nütze. Nicht immer habe sie einen unmittelbaren Zweck oder greifbare Anwendungen nennen können, und dann sei rasch kritisiert worden, sie betreibe „silly science“, nichts als unsinnige Wissenschaft.
Yorks Buch könne als Verteidigungsschrift für silly science gelesen werden, urteilt das Fachjournal „Science“, ausgehend vom Postulat, dass es nutzlose Forschung oder unnützes Wissen schlicht nicht gebe. Denn was heute als belanglose Spinnerei belächelt oder verspottet werde, könne Basis für den Durchbruch von morgen sein. Davon zeugen Roboter, deren Bewegungsmuster von jahrelanger Beobachtung von Kakerlaken herrühren, oder Algorithmen, die vom Tanz der Bienen inspiriert sind.
Das Buch komme außerdem zur rechten Zeit, da es einen Kontrapunkt zum stumpfen Furor der Trump-Administration setze, welche die amerikanische Forschung gerade mit dem Vorschlaghammer zertrümmere. Einem Einstein, einem Newton, den Protagonisten der Aufklärung, würden, lebten sie heute in den USA, wohl die Projekte gestrichen, argumentiert „Science“.
Viele der Beispiele, die Carly Anne York anführt, betreffen ihre eigene Disziplin, die Biologie und Tierphysiologie. Eines davon handelt von der Gila-Krustenechse, auch Gila-Monster genannt. Den meisten Menschen sagt das 50 Zentimeter lange, giftige Geschöpf vermutlich nicht viel – jene medizinische Innovation, die die Welt seiner Erforschung verdankt, aber bestimmt: Ozempic. Bereits in den 1990er-Jahren untersuchten Forschende das Sekret der Echse und isolierten eine Substanz namens Exendin-4. Anschließend stellte sich heraus, dass die Substanz stark dem Hormon GLP-1 ähnelt, das die Insulinausschüttung stimuliert – und auf dem nun Präparate wie Ozempic und Wegovy beruhen.
Nobelpreis für leuchtende Quallen
Eine weitere Geschichte erzählt den langen Weg vom Studium winziger Meeresorganismen bis zu einer nobelpreiswürdigen Entdeckung. Bereits seit den 1930er-Jahren waren Wissenschafter von Sea Fireflies fasziniert, den Glühwürmchen des Meeres. Wie Glühwürmchen können auch die kleinen marinen Krustentiere leuchten. Dem japanischen Chemiker Osamu Shimomura gelang es 1957, die molekularen Prozesse dahinter zu beschreiben. In der Folge wurde er engagiert, um das Leuchten einer anderen Spezies zu untersuchen: jenes luminiszierender Quallen. Shimomura sammlte mehr als eine Million Quallen und nahm chemische Analysen vor. Letztlich identifizierte er das Protein GFP, das blaues Licht absorbieren und grünes Licht emittieren kann.
Andere Forscher machten sich anschließend um die Entwicklung praktischer Anwendungen für das Leucht-Protein verdient, die aus der modernen Medizin nicht mehr wegzudenken sind. Mit GFP können Zellen markiert und ihr Weg durch den Körper beobachtet werden. So lässt sich die Migration von Krebszellen verfolgen, und so können wichtige Gewebestellen vor Operationen gekennzeichnet werden. Für die Entdeckung des GFP-Proteins wurde 2009 der Nobelpreis für Chemie verliehen. Anlässlich der Zeremonie sagte Shimomura, er selbst hätte nie gedacht, dass seine Forschungen je praktische Bedeutung erlangen könnten.
Auch Andre Geim erhielt einen Nobelpreis. Außerdem erhielt der Physiker einen Ig-Nobelpreis, eine Auszeichnung, die sich vom Wort „ignobel“, also unwürdig, herleitet und alljährlich für – vordergründig – besonders absurde Forschungen vergeben wird. Beide Preise verdankt Geim derselben Neigung: mit spielerischer Neugier und einem guten Schuss Kreativität die Phänomene der Welt zu ergründen, egal, was dabei herauskommt. „Wissen macht einfach eine Menge Spaß“, wie Geim selber sagt. Dieser Maxime folgend experimentierte er mit Graphen, einem hauchdünnen, sehr festen und elektrisch leitfähigen Material aus Kohlenstoff, was ihm 2010 aufgrund des enormen Anwendungspotenzials im Elektronik- und Energiesektor den Physik-Nobelpreis einbrachte.
Zehn Jahre zuvor führte Geim ein Experiment durch, das als „schwebender Frosch“ berühmt wurde (und nun einen Teil von Yorks Buchtitel bildet). Es begann an einem Freitag, Geim hatte ein paar Bier getrunken und zog sich ins Labor zurück. Dort machte er Versuche mit Magnetismus, genauer: mit sogenannter diamagnetischer Levitation, die wie Magie wirkt, weil man Dinge scheinbar wie von Zauberhand schweben lassen kann. Dahinter steckt freilich Physik: Atome beziehungsweise deren Elektronen sind schwach magnetisch, so schwach, dass man normalerweise nichts davon merkt. In einem sehr starken Magnetfeld wirkt dennoch eine Abstoßung, die Schwerkraft wird überwunden – und Dinge schweben. Geim ließ erst Wassertropfen tanzen, dann eine Erdbeere fliegen, dann eine Cherrytomate und einen Frosch.
Der fliegende Frosch führte, anders als die Graphen-Studien, zu keinem Durchbruch, dennoch findet Geim, die Experimente seien die Zeit und das Geld wert gewesen. Man könne am Anfang eben nie wissen, was herauskommt, wenn man Forschende einfach nach Herzenslust spielen lässt.
Erst lachen, dann nachdenken
Die Ig-Nobelpreise zeigen der Welt Jahr für Jahr auf unterhaltsame Weise, dass sich keine klare Grenze ziehen lässt zwischen scheinbar lächerlicher Labortüftelei und nutzbringender Forschung mit Zukunftspotenzial. Es handelt sich dabei, anders als oft dargestellt, keineswegs um einen Schmähpreis. Die Idee von Marc Abrahams, der den Preis erfand und seit 1991 jedes Jahr im Rahmen einer sehr bunten, zugleich aber streng ritualisierten Zeremonie verleiht, war eine andere: Er wolle Forschung prämieren, so Abrahams’ Devise, die erst zum Lachen, dann aber zum Nachdenken anregt. Und weil die Preisverleihung im Rahmen einer kurzweiligen Bühnenshow stattfindet, wird Wissenschaft auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.
Selbstverständlich war auch David Hus Hydrodynamik des Urinierens einen Ig-Nobelpreis wert. Einer der wenigen Österreicher, die einen solchen besitzen, ist der Wiener Kognitionsbiologe Ludwig Huber. Er bekam ihn für die Erkenntnis, dass Gähnen bei Schildkröten nicht ansteckend ist. Lachhafte Forschung? Nein, denn die Arbeit unterstrich die Bedeutung der Spiegelneuronen, die Menschen und manch andere Säugetiere – nicht aber Schildkröten – befähigen, sich in andere hineinzuversetzen und daher eine Grundlage für Empathie darstellen. Es ging somit um die Frage, was den Menschen (unter anderem) ausmacht.
Auch die jüngsten Ig-Nobelpreise hatten einige Highlights zu bieten: Ausgezeichnet wurden etwa die Einsicht, dass Haarwirbel auf der Nordhalbkugel in andere Richtungen wachsen als auf der Südhalbkugel sowie die Feststellung, dass nüchterne Würmer besser navigieren als betrunkene. Durchaus relevant für Mechanismen der menschlichen Psyche ist die prämierte Erkenntnis, dass Placebos dann besser wirken, wenn deren Einnahme unangenehm ist, weil etwa mit einem leichten Brennen in der Nase verbunden – was schön vor Augen führt, dass bittere Medizin am besten wirkt, selbst wenn sie wirkungslos ist.
Doch was sind all diese Errungenschaften im Vergleich zum Phänomen der Anus-Atmung. Für einige Wasserlebewesen ist Sauerstoffgewinnung über den Darm Standard, Säugetiere dagegen sind auf ihre Lungen und Atemwege angewiesen – zumindest bisher. Eine Forschergruppe testete an Mäusen und Schweinen, ob es möglich ist, den Tieren Sauerstoff so über den Darm zuzuführen, dass ihr Organismus ausreichend versorgt wird. Für eine gewisse Zeit gelang dies tatsächlich, weshalb nun die Idee zur Debatte steht, das Prinzip eines Tages in der Notfallmedizin einzusetzen: zur Lebensrettung von Patienten, bei denen sonstige Methoden künstlicher Beatmung versagen.
Ihr Ansatz möge verrückt klingen, erklärten die im Vorjahr mit dem Ig-Nobelpreis gewürdigten Forschenden selbst, doch eines Tages, nach weiteren Tests, könnten lebenserhaltende Maßnahmen vielleicht darauf basieren.
Torten, Moskitos, Käseforschung
Man könnte viele weitere Beispiele für den Umstand aufzählen, dass scheinbar absurde Forschung seriösen Hintergrund haben kann. Warum befassen sich manche Mathematiker vorzugsweise damit, wie man am besten eine Torte in Stücke schneidet? Weil sich daraus eventuell spieltheoretische Modelle zum Thema Verteilungsgerechtigkeit ableiten lassen. Weshalb unterziehen Wissenschafter verschiedene Käsesorten im Labor genetischen Analysen? Um all jene Mikroben zu identifizieren, die für Aromen zuständig sind, aber auch die Lebensmittelsicherheit beeinträchtigen können.
Wieso beduften Forschende Stechmücken in aufwendigen Versuchsaufbauten mit menschlichen Ausdünstungen? Um zu ermitteln, welche Gerüche Moskitos besonders attraktiv finden (besonders Carbonsäuren, darunter Buttersäure, die Bakterien auf menschlicher Haut produzieren), weil sich auf Grundlage dieses Wissens neue Repellents entwickeln lassen könnten, die vor allem in Malaria-Gebieten wichtig wären.
Der Sinn der Lachs-Kanone
Und warum, schließlich, haben amerikanische Ingenieure eine Technologie entwickelt, die Fische mit mehr als 30 Stundenkilometern durch Röhren schießen kann? Weil Dämme und andere menschengemachte Hindernisse verhindern, dass Lachse stromaufwärts wandern können. Mithilfe flexibler Schläuche und kleiner Druckunterschiede in deren Inneren können die Fische nun binnen Sekunden über große Strecken nach oben befördert werden. Diese „Lachskanone“ fand ebenfalls Eingang in Carly Anne Yorks Buchtitel.
Natürlich münden längst nicht alle schrägen Forschungsideen in nutzbringende Anwendungen. Das sei aber auch nicht der Punkt, meint York. Es gehe schlicht darum, Forschende ihrer Neugier folgen zu lassen. Fallweise würden daraus Durchbrüche resultieren – und andernfalls hätten wir eben unser Wissen über die Welt erweitert.

Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft