Ist der Papst ein Marxist? Zwei Vatikanexperten im Interview

Die Vatikan-Experten Andrea Tornielli und Giacomo Galeazzi über die Frage, ob Papst Franziskus nur ein Kapitalismuskritiker oder womöglich gar ein Marxist ist.

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Bald wird er zwei Jahre im Amt sein, und dabei scheint Papst Franziskus bereits jetzt mehr bewegt zu haben als seine Vorgänger. Der Argentinier stellte den Vatikan komplett auf den Kopf – vom Strafrecht bis hin zu den Finanzen. Doch dass das populäre Oberhaupt der katholischen Kirche nun auch die globale Finanz- und Wirtschaftsordnung angreift, gefällt nicht allen. Von den amerikanischen Republikanern bis hin zu italienischen Unternehmern regt sich Widerstand gegen die päpstliche Kapitalismuskritik. In dem neu erschienenen Buch „Papst Franziskus – Diese Wirtschaft bringt uns um“ widmen sich die renommierten Vatikan-Experten Andrea Tornielli und Giacomo Galeazzi den Vorstellungen des Papstes zum weltweiten Wirtschaftssystem. Ein Interview über den „Imperialismus des Geldes“ und die Frage, ob der Papst ein Marxist ist.

Interview: Thomas Migge, Rom

profil: Wie konnte es so weit kommen, dass das Staatsoberhaupt der katholischen Kirche als Marxist bezeichnet wird? Andrea Tornielli: Tatsächlich verweist Papst Franziskus lediglich schärfer auf die kirchliche Soziallehre, die sich allerdings schon seit Jahrzehnten entschieden gegen den ausufernden Kapitalismus ausspricht. Der neue, direkte Ton mag für viele Zeitgenossen ziemlich revolutionär klingen, allerdings ist der Inhalt der Soziallehre per se ohnehin bereits recht revolutionär. Der Inhalt der Soziallehre wurde aus verschiedenen Gründen lange nicht beachtet – unter anderem etwa auch deshalb nicht, weil er während der Zeit der Sowjetunion im Westen leicht als prokommunistisch hätte verstanden werden können.

profil: Woher rührt Franziskus’ spezieller Zugang zur katholischen Soziallehre? Giacomo Galeazzi: Bereits in seiner Heimat Argentinien stand für ihn die Solidarität als eines der drei Grundprinzipien der Soziallehre stark im Zentrum seines Denkens. Einige warfen ihm sogar vor, der Befreiungstheologie nahezustehen (die auf einer basisdemokratischen und sozialistischen Gesellschaftsordnung basiert und deren Vertreter in der Vergangenheit mehrmals auf Kriegsfuß mit der katholischen Kirchenhierarchie standen, Anm.). In seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires wurde Franziskus während der großen Wirtschaftskrise in Argentinien zu einem der wichtigsten Fürsprecher von Sozialreformen. So entwickelte er sich auch zu einem der wichtigsten Kontaktmänner seines Landes für den Internationalen Währungsfonds, als es darum ging, den wirtschaftlichen Zusammenbruch seines Landes zu verhindern.

Franziskus ist derzeit die einzige international bekannte Persönlichkeit, die offen den ungezügelten Kapitalismus kritisiert.

profil: Ist Franziskus im Begriff, die traditionelle kirchliche Soziallehre einer globalisierten Welt anzupassen? Galeazzi: Ja, und er übersetzt sie in eine für alle verständliche Sprache. Er hat nicht ohne Grund jene zwei Päpste seliggesprochen, die sich besonders stark für die Soziallehre eingesetzt haben: Johannes XXIII. und Johannes Paul II. Franziskus ist derzeit die einzige international bekannte Persönlichkeit, die ganz offen den ungezügelten Kapitalismus kritisiert. Er ist überzeugt davon, dass die Soziallehre der Kirche dem kapitalistisch-globalen Finanzsystem, das sich in der heutigen Form kaum um soziale Gerechtigkeit und Solidarität kümmert, etwas entgegenstellen kann.

profil: Ist diese Vorstellung angesichts des weltumspannenden kapitalistischen Systems nicht ein wenig utopisch? Tornielli: Utopisch? Nicht für Franziskus! Sehen Sie sich doch nur an, wie ernst er es mit der radikalen Neuordnung der Vatikanfinanzen meint. Franziskus will, dass das kapitalistische Finanzsystem endlich hinterfragt wird.

profil: Wie möchte er das erreichen? Tornielli: In seiner ersten Enzyklika bezeichnete Franziskus das Geld als Idol, das zu viel Macht über die Menschen besitze. Franziskus erinnert immer wieder an die heute fast vergessene Enzyklika „Quadragesimo anno“ von Pius XI. aus dem Jahr 1931. Schon darin wurde das Finanzsystem scharf kritisiert und vom internationalen Imperialismus des Geldes gesprochen. Franziskus ist davon überzeugt, dass diese Enzyklika Seiten enthält, die prophetisch auf die heutige Zeit verweisen. Galeazzi: Er schlägt bei seiner Argumentation direkt den Bogen zu den Evangelien. Und die waren ja schon revolutionär, als noch gar keine Rede vom Marxismus war. Der Inhalt der Evangelien ist bereits so radikal, dass sich der Papst direkt auf sie beziehen kann, ohne politisch zu argumentieren. Allein sein Name, Franziskus, verweist auf Armut und Solidarität. Und schließlich lebt er es selbst vor: Er residiert nicht im Papstpalast, bringt die Vatikanfinanzen auf Vordermann, wirft die Korrupten raus und fährt mit einem kleinen Auto durch Rom.