Ferguson ist nicht überall

USA: Ferguson ist nicht überall

Ferguson. Rassismus bleibt das große Übel der USA. Trotzdem geht er langsam zurück

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In seinem sechsten Jahr als erster schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten musste Barack Obama am Montag vergangener Woche vor die Nation treten und zur Ruhe aufrufen. In Ferguson, einer Stadt im Vororte-Gürtel der Metropole St. Louis im Bundesstaat Missouri, waren Demonstrationen mehrheitlich schwarzer Bewohner außer Kontrolle geraten; es kam zu Plünderungen und Zusammenstößen mit der Polizei. Auslöser war die Entscheidung einer Grand Jury, keine Anklage gegen den weißen Polizisten Darren Wilson zu erheben, der am 9. August dieses Jahres den 18 Jahre alten afroamerikanischen Schüler Michael Brown erschossen hatte. Wilson hatte angegeben, in Notwehr gehandelt zu haben.

Am 21. Januar 2008 hatte Barack Obama, damals noch Senator und Präsidentschaftskandidat, in der Heimatkirche des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King eine Rede gehalten, in der er das Übel der Diskriminierungen in Amerika geißelte – und davor warnte, zu glauben, der Rassismus sei leicht zu überwinden. „Wahre Einheit“ bedürfe zunächst „einer Änderung unserer Einstellungen“, sagte Obama damals. Das klang ein wenig betulich, und eigentlich hätte man annehmen können, der Wahlsieg des schwarzen Präsidentschaftskandidaten im November desselben Jahres habe eindrucksvoll bewiesen, dass der Rassismus in den USA jedenfalls keine dominante Haltung mehr sein kann.

War dieser Schluss voreilig? Stimmt tatsächlich, was ein afroamerikanischer Kommentator schrieb – dass der vermeintliche Rechtsstaat in den USA immer noch auf Meinungen wie dieser gründet: „Personen, die als Sklaven importiert wurden, und auch ihre Nachkommen haben keine Rechte, die der weiße Mann zu achten verpflichtet ist.“ Das Zitat stammt von einem Richter des Supreme Court aus dem Jahr 1857.

Der Rassismus äußert sich heute anders als jener des vorvergangenen Jahrhunderts. Er ist nicht mehr Ausfluss einer Ideologie, die mit dem Postulat der Überlegenheit der weißen Rasse die Trennung der Bevölkerung in Bürger und Rechtlose vorsieht. Obama sagte 2008, das Schwierige am Rassismus unserer Zeit sei, dass er nicht nur „von ein paar in den Vorurteilen der Vergangenheit gefangenen“ Menschen gepflogen werde. Die Diskriminierung passiert auf subtilere Weise. Man findet sie am Tatort in Ferguson, in den Wählerlisten und in den Armutsstatistiken der Vereinigten Staaten.

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Wem gehört Ferguson?
Die mehrheitlich von Schwarzen bewohnte Stadt Ferguson hat einen weißen Bürgermeister, einen Stadtrat, in dem bis auf eine Ausnahme sämtliche Mitglieder weiß sind, und einen fast ausschließlich weißen Polizeiapparat. Auch der für die Untersuchung des Todesfalls von Michael Brown zuständige Staatsanwalt Robert McCulloch ist ein Weißer. Diese Diskrepanz setzt sich in der Beurteilung des Falls nahtlos fort. In einer landesweiten Umfrage nach Browns Tod erhob das Meinungsforschungsinstitut Pew Research, dass rund die Hälfte der befragten Weißen Vertrauen in die behördliche Untersuchung hat; mehr als drei Viertel der Schwarzen gaben jedoch an, kein oder nur wenig Vertrauen zu haben.

Schwarze und Weiße leben in Ferguson in verschiedenen Welten. Michael Brown besuchte die Normandy High School nahe Ferguson. Die Schule schnitt bei routinemäßig durchgeführten Tests so schlecht ab, dass sie die Lizenz verlor. Daraufhin durften alle Schüler auf Staatskosten eine der besseren umliegenden Schulen besuchen – allerdings nur für kurze Zeit: Die in weißen, teureren Gegenden gelegenen Gastschulen murrten, und bald wurde die Normandy School unter einem neuen Namen und mit neuer Lizenz wieder eröffnet.

Warum lebt die Mehrheit der Schwarzen eigentlich in einer von Weißen geregelten Welt? Einer der Gründe dafür ist, dass Schwarze statistisch deutlich seltener zur Wahl gehen. Das Amt des Staatsanwalts wird in den USA per Volkswahl vergeben, ebenso wie jenes des Bürgermeisters und der Stadträte.

Die Kommune von Ferguson finanziert sich wie viele andere in den USA zu einem Gutteil durch Einnahmen aus Verkehrsstrafen. Schwarze Lenker werden überdurchschnittlich oft von der Polizei angehalten und kontrolliert und zahlen als Folge davon viel öfter Bußgeld. Bei den vergangenen Wahlen zum County Executive bildete sich – auch als Folge des Falls Michael Brown – erstmals eine Pressure Group von Schwarzen, die versuchte, die Interessen ihrer Community durchzusetzen: Sie unterstützten den republikanischen Kandidaten, der versprach, die Verkehrsstrafen als Einnahmequelle einzudämmen. Er verlor knapp.

Afroamerikanische Aktivisten in Ferguson setzen ihre Hoffnungen jetzt auf die Kommunalwahlen im kommenden April. Sie wollen die politische Kontrolle in Ferguson erringen. Ihr größtes Hindernis: die niedrige Wahlbeteiligung der schwarzen Wählerschaft.

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Der Abstieg der Suburbs
Es war eigentlich eine gute Nachricht: Die Minderheiten in den USA begannen in den vergangenen Jahrzehnten, die Suburbs zu erobern. Der blumige Terminus „chocolate city/vanilla suburbs“, der umschrieb, dass (arme) Afroamerikaner in den inneren Bezirken und (reiche) Weiße in den Vororten wohnten, hat seine Geltung verloren. Dahinter steckt zum Teil der ökonomische Aufstieg der schwarzen Minderheit. In manchen Fällen jedoch hatte dieser Trend dramatische Konsequenzen – etwa in Ferguson: Die einst weiße Enklave, in der um 1970 gerade einmal ein Prozent der Bewohner Afroamerikaner waren, transformierte sich rapide zu einer überwiegend schwarzen Community und verarmte. Die Krise der vergangenen Jahre ließ die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellen, aber auch die Bewohner mit Jobs büßten in den Jahren von 2000 bis 2012 inflationsbereinigt rund ein Drittel ihres Einkommens ein. Die Weißen zogen weg, wenn sie konnten.
Plötzlich war Ferguson ein Armenhaus. Der Stadtverwaltung wiederum fehlten jegliche Ressourcen, um mit den sozialen Problemen, der wachsenden Kriminalität und dem Bedarf an Unterstützung von schlechten Schülern und unversicherten Kranken zurande zu kommen.

Ferguson steht mit dieser Entwicklung nicht allein da. Die Zahl der amerikanischen Suburbs, in denen mehr als 20 Prozent der Bewohner unter der Armutsgrenze leben, hat sich im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt.
Die Problematik der Suburbs zeigt auch, dass das Problem der Diskriminierung heute vor allem eine Wurzel hat: die soziale Benachteiligung. Nicht offener Rassismus schlägt den Afroamerikanern entgegen, sondern die strukturelle Verknüpfung von Rasse und sozialer Schicht. „Das größte Problem der Schwarzen ist heute die Armut“, schreibt das Magazin „Economist“. Deshalb bedürfe es nicht so sehr weiterer Anti-Diskriminierungsgesetze, sondern vor allem eines soliden Wirtschaftswachstums, dessen Effekte nach Möglichkeit auch Orte wie Ferguson erreichen sollen.

Kriminalität, schlechte Bildung und mangelnde Gesundheitsversorgung sind mindestens so sehr Konsequenzen der Armut wie sie Folgen des Rassismus sein können. Die Brutalität der Polizei gegenüber Schwarzen hingegen kann wohl nur als struktureller Rassismus einer Institution erklärt werden, die den gesellschaftlichen Fortschritt des Anti-Rassismus – zumindest an manchen Orten – nicht mitgemacht hat.

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Schwarz-Weiß
Es ist eine historische Aufgabe der USA, dem afro-amerikanischen Teil der Bevölkerung zur Gleichberechtigung zu verhelfen. Schwer wiegt die Schuld aus der Zeit der Sklaverei und der Rassentrennung. Geht der Trend aufwärts oder abwärts?

Die vergangenen Jahre haben eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Schwarzen gebracht, und das dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass in einer Pew-Umfrage der Prozentsatz der Befragten, die der Meinung sind, die Diskriminierung von Schwarzen sei selten, etwas abgenommen hat. 61 Prozent der Schwarzen sagen zudem, ihre Lage habe sich in den vergangenen Jahren nicht verbessert. Zum Vergleich: Nur 33 Prozent der Weißen meinen, die Lage der Schwarzen habe sich nicht verbessert.

Es gibt jedoch Fragen, deren Beantwortung ökonomische Aspekte ausklammert und echte rassistische Vorbehalte zutage bringt. Etwa diese: Ist es in Ordnung, wenn Schwarze und Weiße miteinander Beziehungen eingehen? Der Prozentsatz der Weißen, die diese Frage bejahen, betrug in den 1980er-Jahren nur 43 Prozent, stieg seither kontinuierlich an und liegt heute bei 83 Prozent. In der Generation der unter 30-Jährigen haben gar 95 Prozent kein Problem mit „Black-White-Dating“.

Das ist ein starkes Indiz dafür, dass sich in den Einstellungen der Bevölkerung der Fortschritt rascher manifestiert als in den behäbigen Institutionen wie Polizei, Justiz oder Politik.

Weiterhin umstritten bleibt eine Besonderheit der amerikanischen Anti-Diskriminierungspolitik: die Bevorzugung von Minderheiten, etwa bei Studienplätzen. Unter den Anhängern der Demokratischen Partei war im Jahr 2012 zum ersten Mal eine Mehrheit (52 Prozent) für diese Art der Förderung von Schwarzen.

Interessanterweise hat sich Präsident Obama kaum öffentlich für Anti-Diskriminierungspolitik starkgemacht. Seine große Rede aus 2008 blieb sein wesentliches Statement zu diesem Thema. Hat er die Schwarzen deshalb vergessen? Im Gegenteil. Er hat sich längst die Analyse zu eigen gemacht, dass die Bekämpfung der Armut die größte Hilfe ist, die man der unterprivilegierten schwarzen Community zuteil werden lassen kann.

Folgerichtig kann die Krankenversicherung für bislang nicht Versicherte – „Obamacare“ – und damit das wichtigste Projekt des Präsidenten als wichtiger Beitrag zur Anti-Diskriminierung interpretiert werden, denn Millionen Afroamerikaner gehören zu den Nutznießern dieses Gesetzes.
Derzeit sind verständlicherweise alle Augen auf die Polizei und deren Übergriffe gerichtet. Die Notwendigkeit einer besseren Durchmischung der Polizei ist aber nur eine der Lehren aus dem Drama von Ferguson. Die vielleicht wichtigere ist ebenso alt wie gültig: It’s the economy, stupid!

Die Lage der Stadt Ferguson im US-Bundesstaat Missouri


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(APA/Red.)