Die wahre Geschichte der Arigona Zogaj

Die wahre Geschichte der Arigona Zogaj: profil traf Österreichs umstrittenste Familie

profil traf Österreichs umstrittenste Familie

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In ihrer Küche steht ein Turm aus vier großen Schachteln. Sie waren voller Spielsachen. Jetzt sind sie leer. Die Kinder hatten sich gleich darauf gestürzt. Der zehnjährige Albin schnappte sich das Skateboard. Damit kurvt er jetzt im Stiegenhaus herum. Albona, 9, hat ihren Kaufmannsladen aus Plastik wieder. Wenn sie auf die Kassa drückt, klingelt es. Das kann sie oft hintereinander machen und muss dabei nicht reden. Reden mag sie nämlich nicht.

Nurie Zogaj, 46, sitzt am Esstisch. Die türkische Nachbarin, die ab und zu vorbeischaut, ist soeben gegangen. Beide sprechen gebrochen Deutsch. Ihre Kinder nennen den habituellen Plausch despektierlich „Deutschkurs“. Erzählen ist schwierig. Früher hat Nurie Zogaj oft an früher gedacht. An den Krieg, an die Monate, in denen sie im Wald campieren mussten. Sie dachte an die Flucht nach Montenegro, an Albona, die im Bus zur Welt kam, und daran, wie sie 2002 über Albanien und Italien nach Österreich kamen. Jetzt denkt sie nur mehr ans Jetzt. Die Frau mit dem runden, freundlichen Gesicht tippt sich an die Stirn. Ihr Kopf sei „kaputt“ von den Medikamenten, die sie seit den Versuchen, sich das Leben zu nehmen, schluckt. Ihr Betreuer findet, so gut wie jetzt sei sie „seit einer Ewigkeit“ nicht beinander gewesen.

Eineinhalb Jahre sind vergangen, seit ihr Mann und vier ihrer Kinder in den Kosovo abgeschoben wurden, seit ihre Tochter Arigona für mehr als eine Woche untergetaucht war und mit Selbstmord für den Fall gedroht hatte, dass man auch sie abschieben sollte. Den Mann gibt es in ihrem Leben nicht mehr. Er hat die Familie sitzen lassen. Die Kinder sind wenigstens wieder vollzählig. Niemand weiß, wie lange noch.

Jeden Tag hat Nurie Zogaj mit ihnen telefoniert. Ihre Tochter Arigona hat ihr gezeigt, wie sie über das Internet kostenlos mit den Kindern im Kosovo reden und sie dabei sogar sehen kann. Die Bilder der Computerkamera hatten sie aber nicht auf den Moment am Montag vergangener Woche vorbereitet, als Albin, 10, Albona, 9, und Alfred, 18, wieder vor ihr standen. Ihr Ältester, Alban, 19, kam am Tag darauf nach Hause. Bis um vier Uhr in der Früh haben sie geredet. Arigona, die um fünf Uhr aufstehen muss, um rechtzeitig in Linz in der Schule zu sein, hat zum ersten Mal verschlafen. „Unbeschreiblich“ ist das Einzige, was Nurie Zogaj dazu einfällt. Und: wie „dünn die Kinder sind“. Eineinhalb Jahre hatte sie sie nicht bekochen können.

Nurie zeigt ihr Schlafzimmer. Ein hoher Schrank trennt es vom Wohnbereich. Es besteht aus einem Doppelbett und einem Bord darüber, auf dem eine Batterie Stofftiere sitzt. Auf dem Bett liegen drei Kopfpolster. Albona und Albin weigern sich, ohne ihre Mutter zu schlafen. Alfred und Alban, die Größeren, sitzen im Wohnzimmer. Arigona ist in der Schule in Linz, heute hat sie bis um fünf Uhr Unterricht. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Ab und zu schauen die Buben im Teletext, ob es etwas Neues gibt. Es stehe 4:2 für die Ungarn, hatte Innenministerin Maria Fekter vor Kurzem gesagt. Sie meinte damit, dass Ungarn für alle Asylverfahren der Familie Zogaj zuständig sei, weil vier Zogajs dort ihre Anträge gestellt hätten, in Österreich dagegen nur zwei. Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) hatte ihren Fall eine „heiße Kartoffel“ genannt.

Die Geschwister haben sich daran gewöhnt, wie eine Sache abgehandelt zu werden. Kürzlich habe die „blonde Frau aus dem Fernsehen“ etwas über die „Rehaugen“ ihrer Schwester gesagt. Auch den Älteren fällt das Erzählen nicht leicht. Alfred und Alban tragen einen glasbesetzten, glitzernden Ohrring im linken Ohr. Sie können ihre Finger kaum eine Minute still halten. Alfred tippt ständig etwas in sein Handy. Alban hat einen Versandhauskatalog vor sich liegen und kritzelt eine Seite nach der anderen voll. Sie zucken oft mit den Schultern. Ihre Sätze sind kurz. Wenn sie etwas berührt, soll man es nicht merken.

Sie waren einmal eine intakte Familie. Nurie und Dzevet arbeiteten, zahlten Steuern und brauchten von der öffentlichen Hand keine besondere Unterstützung – bis zum 27. September 2007, als sie nach Hause kamen und die Polizei ihr Haus umstellt hatte, um sie nach sechs Jahren in den Kosovo abzuschieben. Ihre Tochter Arigona versteckte sich und drohte, sich umzubringen, sollte sie nicht bleiben dürfen.

Lauernde Öffentlichkeit. Die Geschichte ihrer Versuche, in Österreich Asyl und eine Zukunft zu finden, ist öffentlich. Inzwischen sind es viele weitere Details aus dem Leben der Zogajs, denn jede Bewegung, jede Geste wird beobachtet und kommentiert. „Die trauen sich schon gar nicht mehr aus dem Haus“, sagt der Ungenacher Pfarrer Josef Friedl. Wenn die Mutter lache, heißt es, sie spiele ihre Erkrankung vor. Essen die Kinder vor der Kamera eine Pizza, die ihnen ein ORF-Journalist gekauft hat, ätzen die Leute: „So schlecht kann’s denen nicht gehen.“ Und jetzt wohnen die Zogajs auch noch in einem Schloss.

Schloss Frein liegt nach der Ortstafel von Frankenburg etwas abseits rechts von der Straße. Der Besitzer, Christian Limbeck-Lilienau, ist ein schrulliger Adeliger um die 60, den alle „Baron“ nennen. Ihm gehören Ländereien und bis vor einigen Jahren Anteile an der Brauerei Zipf. In der NS-Zeit war hier ein Außenlager des KZ Mauthausen. Als Limbeck-Lilienau sich Mitte der achtziger Jahre für eine Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzte, hatte er im Ort bald kein beschauliches Leben mehr. Man bedrohte und piesackte ihn, bis er samt Familie nach Wien übersiedelte, wo er seither zurückgezogen lebt. Im Schloss ist die Kanzlei seines Forstbetriebes untergebracht.

Vor einigen Jahren lernte der Baron Chris Müller kennen, Gründer des Hausrucktheater, das sich politisch und künstlerisch mit Faschismus und Mitläufertum auseinandersetzt. Von ihm erfuhr er, dass die Zogajs auf der Straße stehen, und sofort machte er eine Wohnung für sie frei. Limbeck-Lilienaus Haus hat als Flüchtlingsherberge Tradition. Von 1941 bis 1943 waren hier Bessarabier untergebracht, die im heutigen Moldawien und in der Ukraine lebten und 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt ins Deutsche Reich umgesiedelt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden hier Flüchtlinge aus dem Osten ein Dach über dem Kopf.

Nun also die Zogajs. Wahrscheinlich hat der Baron sich wieder auf Feindseligkeiten eingestellt. Doch als ihn unlängst ein Tankwart an der Zapfsäule zur Rede stellte, ob er die Zogajs im Schloss einquartiert habe, und ihm beschied: „Für Sie gibt es hier kein Benzin“, war er doch perplex. Er rief seinen Theaterfreund an: „Du glaubst nicht, was mir gerade passiert ist.“

Alleingelassen. Es gibt aber auch einen harten Kern von Helfern: die Volkshilfe, ein paar Privatleute und den Ungenacher Pfarrer, der bei seinen Stippvisiten im Schloss oft etwas zum Essen oder Geld dalässt. Ohne ihn hätten die Kinder die 15 Monate im Kosovo schwer durchgestanden. Pfarrer Friedl war im Herst 2007, als das Mädchen Arigona nicht mehr aufzufinden war, von der ÖVP um Hilfe gebeten worden: „Doch kaum war die Krise vorbei, hat man mich alleingelassen.“ Der Geist­liche sagte sich, er werde die Geschwister im Kosovo auch allein durchbringen, und schickte regelmäßig Hilfspakete. Persönlich kennen gelernt hat er die Empfänger erst vergangene Woche.

Es war an Arigonas 17. Geburtstag. Das Mädchen sagt, sie habe es für einen Scherz gehalten, als ihr Onkel anrief, um ihr mitzuteilen, dass Albona, Albin, Alfred und Alban wieder in Österreich seien. Sie solle es ihrer Mutter schonend beibringen. Vor ein paar Tagen erst war Arigona mit einer Bekannten einkaufen gewesen. Sie hatten einen rosa Pyjama für Albona erstanden – und Jeans für ihre großen Brüder. Es war nicht einfach, die Größe zu schätzen, die Geschwister hatten einander in den vergangenen 15 Monaten nur als bewegte Bilder am Computerbildschirm gesehen. Nun wird sie nicht mehr erfahren, ob sie richtig gelegen war. Das Paket kam im Flüchtlingslager in Ungarn erst an, als ihre Geschwister nicht mehr dort waren. In ein paar Tagen wird ein Freund der Familie in Debrecen anrufen und sagen, dass man das Packerl aus Österreich aufmachen und dessen Inhalt verteilen soll. Dann freut sich vielleicht ein anderes Mädchen über Albonas Pyjama.

Seit Herbst besucht Arigona eine Schule für wirtschaftliche Berufe. Vergangene Woche schrieb sie eine Deutsch-Arbeit zum Thema „Ein gelungenes Fest“. Ihr Aufsatz handelte von der Hochzeit ihres Bruders „Michael“, der in Wirklichkeit Alban heißt. Und sie hat auch nicht über sein Hochzeitsfest geschrieben, sondern dar­über, wie es hätte sein können. Alban und ihre Schwägerin Leonarda haben am 8. April in Tirana geheiratet. Er reiste aus dem Kosovo an, sie aus Vöcklabruck, und es war eine eher traurige Veranstaltung – ohne Gäste, ohne Geld.

Leonarda hatte am 27. September 2008 ihren positiven Asylbescheid erhalten. Das Mädchen stammt aus einem Dorf etwa 50 Kilometer von Kaligan entfernt, wo die Zogajs herkommen. 2003 war sie mit ihren Eltern nach Österreich geflüchtet. Alban hatte sie bei seinen Verwandten in
St. Georgen kennen gelernt. Die beiden wurden ein Paar. Am 27. September 2008 jubelte sie: „Jetzt hab ich endlich einen Pass.“ Am selben Tag wurde Alban in den Kosovo abgeschoben.

„Ich bin so froh, dass ich in die Schule gehen kann“, sagt Arigona. Wenn die Schule lange dauert, übernachtet sie bei Freunden in Linz. Manchmal sei das Mädchen aufgedreht und stark, als könnte ihr nichts etwas anhaben, sagen sie. Manchmal fällt sie von einer Sekunde auf die andere in sich zusammen. Dann sei sie ganz abwesend, als wäre jedes weitere Wort zu viel für sie. Im Moment wirkt sie ruhig, ein bisschen schüchtern, sie hat ihre Erfahrungen mit den Medien gemacht. Sie freue sich über die „weiße Karte“, die sie vor wenigen Tagen in der Erstaufnahmestelle Thalham bekommen hat, wo ihr Asylantrag angenommen wurde. Damit darf sie aus dem Bezirk Vöcklabruck hinausreisen. Eine Schülerfreikarte für den Zug bekommt sie immer noch nicht. Ihr Künstlerpate Alfons Haider kommt für das Fahrgeld auf. Wie lange noch? Alles hängt für Arigona und ihre Familie von der Antwort auf diese Frage ab. Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass das Blatt sich rasch wenden kann.

Eklat. Im Vorjahr hatte das Innenministerium einen Mediationsfachmann angeheuert, der sie und ihre Mutter dazu bewegen sollte, Anfang Juli in den Kosovo zu gehen. Im Büro der Volkshilfe trafen sich die Zogajs mit dem Vermittler. Die Familie sollte eine Wohnung in Tirana bekommen, wo die Frau medizinisch versorgt gewesen wäre. Dem Vater und Alban, dem ältesten Sohn, wollte man bei der Jobsuche behilflich sein. Eine finanzielle Unterstützung wurde in Aussicht gestellt. Die Zogajs stiegen auf das Angebot ein. Die Mutter packte die Koffer. Arigona hätte in Österreich die Schule beenden dürfen – und hinter vorgehaltener Hand hatte man ihr versprochen, innerhalb von drei Jahren österreichische Staatsbürgerin werden zu können.

Der Mediator flog in den Kosovo, um alles unter Dach und Fach zu bringen. Dort kam es zum Eklat. Zu Pfingsten 2008 rief Dzevet Zogaj seine Frau Nurie an und schrie ins Telefon: „Das ist nicht so wie vereinbart – ich glaube nichts mehr!“ Und: „Ich gehe weg.“ Zu Alban sagte er zum Abschied, das Letzte, was er brauchen könne, sei eine kranke Frau. Dann brachte er die Kinder zu einer Tante, ließ sein Handy dort und war nicht mehr erreichbar.

Nurie ist allein zu Hause, als sie die Nachricht erfährt. Sie war schon vorher in schlechter Verfassung gewesen. Jetzt verlässt sie der letzte Lebensmut. Sie schneidet sich die Pulsadern auf. Als Arigona nach Hause kommt, öffnet die Mutter die Tür nicht. Die Tochter späht durch den Briefschlitz und sieht, dass etwas nicht stimmt. In ihrer Panik drückt sie auf dem Handy herum und wählt die Nummer des Mediators, mit dem sie zuletzt gesprochen hat. Der Mann ruft vom Kosovo aus die Polizei in Frankenburg, die zur Wohnung fährt und die Tür aufbricht. Die Mutter lebt noch. Sie wird in eine geschlossene psychiatrische Abteilung in Vöcklabruck eingeliefert. Dort versucht sie noch zweimal, sich in der Toilette zu erhängen. Das Personal hat jedoch ein Auge auf die Frau. Beide Male wird sie rechtzeitig gefunden.
Arigona hoffte weiter auf ein Schülervisum; auch Albin und Albona schienen noch Chancen zu haben, aus dem Bleiberechtsdrama herauszukommen. Zu Arigona wurden drei psychiatrische Gutachten eingeholt. Sie alle befanden, Arigona sei nicht transportfähig. Auch die Mutter wurde zwei Psychologen vorgeführt, die beide akute Selbstmordgefahr diagnostizierten.

Außer dem Innenministerium war damals fast jedem klar, dass es eine humanitäre Lösung geben musste. Der Mediator, von seiner Kosovo-Mission zurückgekehrt, riet, die Kinder zu ihrer Mutter zurückzubringen. Das sagte er auch den Zuständigen im Innenministerium. Kurz darauf lief sein Vertrag aus. Bezirkshauptmannschaft und Innenministerium sekkierten die Zogajs weiter: Zuerst reichte die Verpflichtungserklärung eines Onkels nicht für ein Schülervisum für Arigona – er verdient um 100 Euro zu wenig. Dann forderten die Beamten eine zweite Erklärung. Als sie herbeigeschafft war, erklärten sie, pro Person sei nur eine erlaubt. „Jede andere Familie wäre längst positiv erledigt“, glaubt die SPÖ-Mandatarin Gertraud Jahn, Sprecherin der Bleiberechtsplattform in Oberösterreich: „An den Zogajs will der Staat ein Exempel statuieren.“

Geld von Gastarbeitern. Die Situation im Kosovo ist trist. Die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 45 Prozent. Laut Bericht des International Monetary Fund geht es jedoch aufwärts: Es werde viel gebaut, man könne sich mit Gelegenheitsjobs in der Landwirtschaft und im Baugewerbe über Wasser halten. Doch davon bemerkten die Zogaj-Kinder in Kaligan nichts. 200, 300 Häuser stehen dort. Die Hälfte sieht aus, als wäre gestern hier noch Krieg gewesen; die andere Hälfte ist hergerichtet. Es sind die Häuser jener Familien, die Verwandte in Deutschland oder Österreich haben. Jährlich fließen etwa 500 Millionen Euro aus der Diaspora in den Kosovo zurück. Das entspricht einem Fünftel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2,5 Milliarden Euro.

Vom Staat ist keine Hilfe zu erwarten. Als die Zogaj-Geschwister in den Kosovo zurückkamen, stürzten sich die Medien sofort auf sie. Bereitwillig erzählte Alban den kosovarischen Journalisten, dass es hier keine Arbeit gibt: „Einen Job findet man nur, wenn man jemanden kennt.“ Die Auftritte wurden ihnen übel genommen. Die Kleinen wurden in der Schule geschnitten, einmal sogar verprügelt. Albin und Albona wollten nicht mehr hingehen. Fast eineinhalb Jahre lang hätten sie keinen Lehrer gesehen, sagt Alban. Keiner schaute nach ihnen: „Das ist normal, da fragt keiner nach.“ Als Alban bei den Behörden um Hilfe bat, sagte man ihm: „Ihr habt den Staat schlechtgemacht – warum soll er euch helfen?“

Zu Beginn kamen der Vater und die Kinder bei einem entfernten Verwandten unter. Alban half dem Besitzer, Häuser abzutragen, mit dem Hammer zerschlug er Betonteile. Doch als der Vater sich aus dem Staub machte, jagte der Mann die Kinder weg. Eine Roma-Frau, die selbst nichts hatte, erbarmte sich ihrer. Bei ihr harrten sie aus, bis Geld aus Österreich kam. Der Ungenacher Pfarrer schickte jeden Monat 500 Euro. Die Kinder fanden eine Wohnung um 350 Euro. Von dem Rest verköstigten sie sich.
Alban sagt heute nicht, wie sehr es ihn getroffen hat, dass der Vater sie im Stich ließ. Man merkt es auch so. Er weigert sich, ebenso wie seine Geschwister, ein Wort über ihn zu verlieren.

Das Innenministerium hatte indes dafür gesorgt, dass der Ruf der Zogajs angepatzt wurde, als der Spitzenbeamte Matthias Vogl im Oktober 2007 mit dem Satz an die Öffentlichkeit trat: „Teile der Familie sind mit dem Strafrecht in Berührung gekommen“. Bis heute ist nicht geklärt, woher die Information stammt und was sie bedeutet. Alban räumt ein, bei einem Zeltfest in Walchen in eine Rauferei verwickelt gewesen zu sein, doch habe er dafür seinerzeit vom Jugendgericht nicht einmal eine Geldstrafe bekommen. Den Raufbold wollten die Medien gleich sehen, nicht aber Alban, der nicht abhaute wie sein Vater, sondern seinen Geschwistern „Mama, Papa, Opa und Oma“ war.

Am Samstag vor Weihnachten fuhr ein Onkel aus Deutschland in den Kosovo. Er hatte Geschenke und die Miete für die kommenden Monate bei sich. Doch die Zogaj-Geschwister waren nicht mehr da. Alban sagt, sie hätten einen Bus nach Sobotica in Serbien genommen. Auf einem Markt habe er für die Kinder etwas zu essen gekauft. Dort habe er einen Mann getroffen, der sie für 200 Euro gemeinsam mit 20 anderen Leuten zu einem Wald geführt habe. Sie seien stundenlang gelaufen, es habe heftig geregnet. Ein paarmal hätten sie sich in den Straßengraben gekauert, um nicht von Patrouillen entdeckt zu werden. Irgendwann seien sie in ein Lokal gekommen, durchnässt und halb erfroren, und jemand habe die Polizei gerufen.

Sie landeten im Auffanglager in Békéscsaba. Die Zustände waren beengend. Drogensüchtige spritzten sich neben den Kindern den Stoff in ihre Venen. Ein Mann sprang aus Verzweiflung aus dem dritten Stock. Die Türen blieben auch in der Nacht unversperrt. Die Kinder hatten Angst. Und dennoch sei es besser gewesen als im Kosovo, sagt Alfred: „Die Kleinen haben nach Monaten zum ersten Mal wieder mit anderen Kindern im Hof gespielt.“ Bald darauf wurden sie in das Flüchtlingslager Debrecen überstellt, das an der ukrainischen Grenze liegt. Dort stehen ein paar mehrstöckige Bauten herum – der Wohnblock für die Alleinstehenden –, umgeben von kleineren Häusern für die Familien.

Der zehnjährige Albin tippte in einen Computer mit Internetzugang „Arigona“ ein. So stieß er auf einen ORF-Bericht, in dem er seine Mutter weinen sah. Er wollte sofort zu ihr. Die Lagerkarte berechtigte sie, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Am zweiten Sonntag im neuen Jahr stiegen sie um vier Uhr Früh in den Zug nach Sopron. Dort, an der österreichisch-ungarischen Grenze, nahmen sie ein Taxi, das sie zum Wiener Westbahnhof brachte. Einen Schlepper brauchten sie nicht mehr – Ungarn ist Mitglied des Schengenraums.

Zufallsprinzip. Am Montag vergangener Woche kam Rechtsanwalt Helmut Blum, der die Zogajs im Asylverfahren vertritt, aus den USA an. Beim Zwischenstopp in München rief er in seiner Kanzlei an und erfuhr von der Rückkehr der Kinder. Er seufzte: „Rechtlich war das nicht gescheit.“ Dann setzte er sich ins Auto und fuhr zur Familie nach Vöcklabruck. Nurie Zogaj hieß vor ihrer Hochzeit Maksutaj. Fast ihre gesamte Verwandtschaft hat sich in der Gegend von Vöcklabruck niedergelassen. Ein Bruder lebt in St. Georgen. Seit zwölf Jahren wohnt auch die Mutter bei ihm. Ein anderer Bruder ist in Thomasroith, Bezirk Vöcklabruck, zu Hause; ein weiterer in Ampflwang. Sie alle haben Asyl bekommen und ein Haus gebaut, das inzwischen abgezahlt ist. Ihre Kinder haben einen österreichischen Pass. Ein anderer Bruder in Burghausen ist ebenfalls anerkannter Flüchtling, seine Kinder sind deutsche Staatsbürger.

Es ist nicht leicht zu erkennen, worin sich die Geschichte von Dzevet und Nurie so gravierend von den Geschichten ihrer Verwandten unterscheidet.
Vor dem Krieg hatte Dzevet Zogaj in der Schweiz gearbeitet. Er war ein paar Monate weg, dann ein paar Monate zu Hause. Sie hatten genug Geld und ein Leben, das sie nie aufgegeben hätten, wäre nicht der Krieg ausgebrochen. 1999 erreichten die Bomben ihr Dorf. Die Grenzen nach Montenegro waren offen, dorthin flüchtete die Familie. Die Flüchtlinge wurden von dem Brot ernährt, für das die Aktion Nachbar in Not das Mehl lieferte. Albin war damals ein halbes Jahr alt und Nurie erneut schwanger. Drei Monate lang hausten sie in einem Zeltlager im Wald.

Als sie in den Kosovo zurückkehrten, stand sie kurz vor der Entbindung. Ihre Jüngste, Albona, kam in einem Bus zur Welt. Ihr früheres Haus, der Traktor, alles war zerstört. Sie wohnten in einem Stall, schliefen auf nur zwei Matratzen. Man versprach ihnen Holz und Beton, damit sie das Haus wieder aufbauen können. Doch das Material kam nicht. Der Zweitälteste, Alfred, brauchte jede Woche eine Spritze, der Arzt sagte, sonst werde er sein Leben lang im Rollstuhl sitzen. 2001 schaffte ihr Mann die Flucht nach Österreich, sie folgte mit den Kindern nach. Vielleicht hatten sie nur das Pech, zu spät aufgebrochen zu sein. 1999 wurden die Kosovaren mit Fliegern aus dem Krisengebiet ausgeflogen. Als die Maschinen in Linz landeten, führte Landeshauptmann Josef Pühringer das Empfangskomitee an.

Die Zogajs hatten es von Anfang an schwer. Dzevet Zogaj hatte eine Arbeit als Stallbursche gefunden, das Hotel, zu dem der Reitstall gehörte, ging in Konkurs. Sie zogen in eine Wohnung in Neunkirchen an der Vöckla, die bei einem Brand im Stockwerk über ihnen zerstört wurde. Über das Arbeitsamt fand Dzevet eine Stelle in einer Putenzucht, zwei Jahre darauf fing auch seine Frau dort zu arbeiten an. Nurie hatte Albträume in der Nacht, die Kriegserlebnisse ließen sie nicht los, und sie hatte Angst, irgendwann abgeschoben zu werden. Doch die Arbeitserlaubnis wurde jedes Jahr verlängert, und eine Weile schien es, als käme endlich Ruhe in ihr Leben. Mit dem 27. September 2007 änderte sich alles wieder. Nurie sagt, nie im Leben werde sie es zulassen, dass ihr die Kinder noch einmal weggenommen würden. Sie sagt es so leise, dass man es fast überhören könnte: „Lieber sterbe ich.“

Von Edith Meinhart
Mitarbeit: Marianne Enigl, Josef Barth