Platzangst

Kairo: Der Tahrir-Platz als Zentrum sexueller Übergriffe

Ägypten. Vergewaltigung als Volkssport

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Von Fabian Kretschmer, Kairo

Das Gesicht blutüberströmt, der Körper krumm vor Schmerzen, stolpert der Bursche aus dem Zelt auf dem Tahrir-Platz. Ein älterer Mann folgt ihm dicht auf den Fersen, streckt den Schlagstock demonstrativ in die Luft und schreit: „Von Kakerlaken wie dir lassen wir uns unsere Revolution nicht verderben.“ Dann gibt er seinem Opfer noch eine saftige Ohrfeige mit auf den Weg.

Ein paar Männer, die beim Tee zusammensitzen, schauen kurz auf, stoßen Verwünschungen aus und drohen dem Jugendlichen gestikulierend weitere Schläge an. Aber die meisten lassen sich von der unschönen Szene nicht beim Plaudern stören. Auf dem Tahrir-Platz, der so etwas wie die zentrale Bühne der ägyptischen Revolution ist, scheinen alle genau zu wissen, was sich da gerade ereignet hat. Wenige Minuten zuvor hat der Bursche in der Menschenmenge einer Frau an den Hintern gegriffen. Dass sich der Grabscher eine Sanitäterin ausgesucht hatte, die gerade einen verletzten Demonstranten verarztete, erzürnte die Menge zusätzlich.
Dicke Tränen rinnen die Wangen des Burschen hinunter. Der Schock steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich hab doch gar nichts getan“, beteuert er, und möglicherweise glaubt er das sogar selbst.

Alltag sexuelle Gewalt
In Ägypten ist sexuelle Belästigung geradezu ein Volkssport. 83 Prozent der Frauen gaben in einer Umfrage des ägyptischen Zentrums für Frauenrechte an, mindestens einmal im Leben sexuell belästigt worden zu sein. Bei den Ausländerinnen waren es 98 Prozent. Über zwei Drittel aller Frauen behaupteten, täglich sexuelle Gewalt zu erleben. Fast ebenso viele unter den befragten Männern gaben zu, Frauen zu belästigen. Nur zwölf Prozent aller Vorfälle werden überhaupt zur Anzeige gebracht – und das sind Zahlen aus dem Jahr 2008. Durch die Revolution hat sich die Situation nicht verbessert, eher im Gegenteil.
Am drastischsten zeigt sich das auf dem Tahrir-Platz, wo sexuell frustrierte Männer in der Menschenmenge ihre Opfer suchen.

Soraya Bahgat war auf dem Weg zum Tahrir-Platz, als sie über Twitter von einem besonders brutalen Missbrauchsfall erfuhr. Im vergangenen Herbst war ein Mädchen von Dutzenden Männern vergewaltigt und danach nackt und halb tot auf der Straße zurückgelassen worden.
Als sie von diesem Verbrechen hörte, sei ihr klar geworden, dass endlich irgendjemand etwas gegen die Gewalt tun müsse, sagt Marketingexpertin Bahgat. Sie kam auf die Idee, Tahrir Bodyguard zu gründen – eine Gruppe, die sowohl eine klar definierte kurzfristige Aufgabe hat als auch ein langfristiges Ziel. Zunächst sollen Teams mit jeweils 30 Aktivisten in 6-Stunden-Schichten auf dem Revolutionsplatz dafür sorgen, dass Frauen vor Übergriffen sicher sind. Langfristig soll die Öffentlichkeit für das Tabuthema sexuelle Gewalt sensibilisiert werden.
Auf eigene Kosten bestellte Soraya Bahgat 200 Sicherheitswesten in Signalfarben und ebenso viele Helme und begann, über soziale Netzwerke Freiwillige zu mobilisieren. Nach nicht einmal zwei Stunden folgten ihr bereits 600 User auf Twitter, nach einer Woche waren es bereits knapp 2000.

An einem Abend im Spätherbst sind einige von ihnen im Garden City Club zusammengekommen, der sich diskret hinter der Fassade eines Kolonialbaus im noblen Diplomatenviertel versteckt – eine kleine Oase inmitten der sandgelben Betonwüste Kairos. Tagsüber hört man hier abseits der allgegenwärtigen Kakofonie hupender Autos tatsächlich manchmal Vogelgezwitscher, und selbst der Smog ist einigermaßen erträglich.

Während drinnen adrett gekleidete Kellner durch die Räume huschen und älteren Herren, die zigarrenrauchend in viktorianischen Sitzgarnituren thronen, Tee in kleinen Gläsern servieren, diskutieren die Tahrir Bodyguards auf der Dachterrasse mit Blick über den Nil – alle aus reichem Elternhaus, liberal erzogen, gut gebildet und fest entschlossen, ihre Gesellschaft zu verändern. Tagsüber arbeiten sie als PR-Berater, Marketingleiter oder Journalisten in den Büros der Kairoer Geschäftsviertel, abends schmieden sie als Weltverbesserer Pläne für ein neues Ägypten.
Bereits nach wenigen Minuten gleicht die Runde einem Krisenstab: Es wird über mögliche Waffen – Tränengas? Schlagstöcke? – diskutiert, über psychologische Schulung und über die Frage, was mit ertappten Tätern passieren soll: Bei der Polizei abliefern? Oder einfach nur grün und blau prügeln? Mehrere Mitglieder berichten, dass Exekutivbeamte bei sexuellen Übergriffen selbst die Täter gewesen seien.
Die Stimmung heizt sich zusehends auf. Eine Frau schlägt vor, Kampfhunde für die Patrouillen einzusetzen. Ein Mann möchte gar Fallen aufstellen: Frauen sollen ohne Begleitung auf dem Tahrir-Platz flanieren und so Täter anlocken, um sie in flagranti zu erwischen. Ein anderer kündigt an, Kampfsportler oder ehemalige „Bad Boys“ zu rekrutieren.
Nur einer in der Runde äußert leise Einwände. Ob Gewalt nicht auch immer Gegengewalt erzeuge, fragt er zögerlich in die Runde – wird jedoch schlicht überhört. „Alles, was die das Fürchten lehrt – dafür bin ich“, sagt eine Frau und trifft damit den Grundkonsens der Gruppe.

Moderne Plage
„Sexuelle Belästigungen sind eine der modernen Plagen Ägyptens. Das Problem ist kein arabisches oder muslimisches, sondern ein genuin ägyptisches“, schrieb unlängst Ashraf Khalil, Kairo-Korrespondent des US-Magazins „Time“. Sein Bericht beruht auf Erfahrung aus erster Hand.
An einem Herbstabend im vergangenen Jahr wartet der Journalist auf dem Tahrir-Platz neben seiner Kollegin Sonia Dridi, die soeben vor laufender Kamera für den TV-Sender France 24 berichtet. Plötzlich beginnen drei Dutzend Männer, die Französin zu bedrängen, zerren an ihrer Kleidung und versuchen, ihr unter die Hose zu greifen. Nur mit Müh und Not sowie der Hilfe couragierter Passanten können sich Dridi und Khalil in ein nahe gelegenes Fast-Food-Restaurant retten. Die Angestellten dort reagieren blitzschnell, offensichtlich haben sie bereits Erfahrung mit derartigen Vorfällen: Sie versperren den Eingang mit Gitterstäben, an denen nun der Mob mit aller Kraft rüttelt, in der Hoffnung, sich Einlass zu verschaffen. Als die beiden Journalisten 20 Minuten später in ein Taxi flüchten können, wird auch dieses von Männern attackiert, die mit den Fäusten gegen die Autoscheiben hämmern.

Ähnlich oder noch schlimmer war es bereits zuvor der US-Journalistin Lara Logan, ihrer britischen Kollegin Natasha Smith und der Kolumnistin Mona Eltahawy ergangen.
Das Perfide dabei: Ein Großteil der Täter gibt den Frauen die Schuld. Sie hätten sich einfach zu freizügig gekleidet und so die Belästigung bewusst provoziert.

Als „blaming the victim mentality“, also Schuldzuweisung an die Opfer, bezeichnet der Psychologieprofessor Hani Henry von der American University of Cairo diese in Ägypten weit verbreitete Denkweise: Männer ordnen die Frauen unter, betrachten sie als Objekt und streiten jeglichen Schaden ab, den sie ihrem Opfer zufügen. Ihr Ziel ist es einerseits, sich zu erregen, und andererseits, Frauen für ihre Freizügigkeit zu bestrafen. Letzterem widerspricht allerdings die Tatsache, dass in Ägypten auch vollständig verschleierte Frauen nicht vor sexuellen Übergriffen gefeit sind.

Während die Organisatoren von Tahrir Bodyguard noch diskutieren, sind ein paar Häuserblocks entfernt die Fußtruppen einer anderen Gruppe bereits auf Patrouille: Wo noch vor wenigen Wochen die TV-Journalistin Sonia Dridi nur knapp einer Vergewaltigung entkam, steht heute eine Menschenmauer aus rund 20 jungen Männern, orangefarbene Warnwesten am Leib, Entschlossenheit im Gesicht.

Sie gehören zu Imprint Movement, einer Bürgerwehr mit 60 Mitgliedern und 200 Sympathisanten, die seit Juli 2012 in Kairos Straßen nach dem Rechten sieht, Aufklärungskampagnen in U-Bahn-Stationen organisiert und Vorträge an Schulen hält. Im Gegensatz zu anderen Gruppen agiert Imprint Move­ment moderat. „Unserer Ansicht nach hebt ein Unrecht das andere nicht auf. Wir versuchen, den Aggressor ausfindig zu machen, ihn zu isolieren und dann bei der Polizei abzuliefern“, sagt der 23-jährige Omar El Gabry.

Keine zwölf Jahre alt
Zu besonders vielen sexuellen Übergriffen kam es in den Tagen um Eid, das höchste muslimische Fest, das vergangenes Jahr Ende Oktober gefeiert wurde. Damals hatten die Imprint-Aktivisten rund um die Uhr zu tun: Sie schritten bei 47 Vorfällen ein, darunter zehn Gruppenbelästigungen. Insgesamt gingen während der Feiertage 735 Beschwerden bei der Polizei ein. Der Großteil der Täter waren männliche Jugendliche, manche von ihnen noch nicht einmal zwölf Jahre alt.

Imprint Movement will sich langfristig vor allem auf Aufklärungskampagnen fokussieren. Die Mitglieder arbeiten bereits mit UN Women zusammen, einer Organisation der Vereinten Nationen zur Stärkung von Frauenrechten. Doch reines Patrouillieren, da ist El Gabry realistisch genug, wollen er und seine Gruppe schon bald aufgeben: „Was wir am Tahrir-Platz machen, sind ja keine präventiven Methoden. Am eigentlichen Problem wird sich dadurch nichts ändern.“

Die Gründe für das Problem sind komplex und liegen doch größtenteils auf der Hand. Letztlich wurzelt das Problem in der drastischen gesellschaftlichen Benachteiligung der Frau. Im jüngst publizierten „Global Gender Gap Report 2012“ des Weltwirtschaftsforums belegt Ägypten den 126. Platz von insgesamt 135 Staaten. Über 40 Prozent der Ägypterinnen können weder lesen noch schreiben, mehr als die Hälfte übt keinen Beruf aus. Das ist ganz im Sinne des neuen Präsidenten Mohammed Mursi, der öffentlich erklärt hat, dass Frauen keine Führungsrollen einnehmen sollen.
In der ultrakonservativen ägyptischen Gesellschaft wird Sex zudem nur innerhalb der Ehe toleriert. Doch gerade für Männer aus der Unterschicht bleibt eine Heirat utopisch: Schließlich muss der Ehemann in Ägypten traditionellerweise die gemeinsame Wohnung kaufen, für die Renovierung und Einrichtung aufkommen und sowohl die Hochzeitsfeier als auch die Flitterwochen bezahlen. Das können sich viele einfach nicht leisten – und damit bleibt es ihnen auch verwehrt, ihre Sexualität auszuleben.
Zudem beschränke sich die Wahrnehmung von Sexualität bei den meisten Ägyptern auf ihre eigene Potenz: „Äußert eine Frau erotische Bedürfnisse, stellt sich für den Mann sofort die Frage, ob er imstande ist, sie zu befriedigen“, sagt Henry. Weibliche Lust werde daher vielfach als Bedrohung wahrgenommen.

Das führe wiederum zur immer noch weit verbreiteten Forderung nach der Beschneidung von Frauen: Die Genitalverstümmelung ist offiziell zwar verboten, wird aber noch immer praktiziert. Bei der bisher letzten landesweiten Gesundheitsstudie im Jahr 2005 gaben 96 Prozent aller befragten verheirateten Frauen an, beschnitten worden zu sein. Und immer noch mehr als die Hälfte erklärten, das auch bei ihren Töchtern zu befürworten.

Angesichts solch archaischer Einstellungen verwundert kaum, was einer Gruppe von Frauen widerfuhr, die im vergangenen Sommer auf dem Tahrir-Platz gegen Missbrauch und Vergewaltigung demonstrierten: Obwohl männliche Unterstützer eine Menschenkette um sie bildeten, um sie vor Übergriffen abzuschirmen, wurden sie von einem Mob attackiert – und minutenlang sexuell belästigt.