Schatzsuche im Müllcontainer

Dumpster: Leben aus dem Mülltonne als gesellschaftlicher Protest

Dumpster. Leben aus der Mülltonne - und das ganz freiwillig

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Von Johanna Habring

Gelbe Gummistiefel, blaue Jeans, dunkelroter Rucksack. In Wien-Landstraße macht sich Andrea* auf den Weg. Der lange schwarze Hals der Müllzange ragt wie eine Antenne aus ihrem Rucksack. Alle paar Minuten vergewissert sie sich, dass die Zange noch da ist. Früher hat sie unter dem Existenzminimum gelebt. Da hätte sie das Containern nötig gehabt. "Heute ist Dumpstern so etwas wie mein Hobby“, erklärt die 40-jährige Frau in Hamburger Dialekt. In Müllräumen nach Essbarem zu wühlen, ist für sie wie eine Schatzsuche.

Es ist kurz nach 21 Uhr, die Geschäfte haben seit eineinhalb Stunden geschlossen. In einer Hofer-Filiale eilt die letzte Mitarbeiterin geschäftig umher. Andrea weiß, dass es bei Hofer sowieso nichts zu holen gibt. Dort sind die Müllräume meist hinter Gittertoren mit einem Spezialschlüssel versperrt, den auch erfahrene Dumpsterer nicht an ihrem Schlüsselbund hängen haben.

Generalschlüssel der Müllabfuhr für wenige Euro
Bei den meisten anderen Supermärkten ist es einfacher, sich Zugang zu den Müllräumen zu verschaffen. Der Generalschlüssel der Müllabfuhr ist in Insiderkreisen um wenige Euro zu haben. In den inneren Wiener Bezirken stehen die Mülltonnen der Supermärkte oft beim Hausmüll des angrenzenden Wohnhauses. Um dort hineinzukommen, brauchen Mülltaucher einen Postschlüssel, den es ebenfalls um wenig Geld zu kaufen gibt. Doch den meisten Dumpster Divern geht es ohnehin nicht ums Geld. Andrea und ihre Kollegen wollen "noch genießbare Lebensmittel aus den Mülltonnen der Supermärkte retten“. Manche Mülltaucher ernähren sich ausschließlich von gedumpsterten Lebensmitteln.

Der Trend ist nicht neu. In den USA wird seit den 1990er-Jahren gedumpstert. Damals begannen Menschen in mehreren Städten, Müllcontainer nach Essbarem zu durchsuchen - teils aus Not, teils aus Protest an der Wegwerfgesellschaft. Die Protestbewegung schwappte nach Europa über. Anders als in den USA ist Dumpstern hier vielerorts strafbar. Doch das hält vor allem die Idealisten nicht auf. Sie wollen ein Zeichen setzen: Gegen Konsumwahn, Kapitalismus, Ressourcenverschwendung.

Säcke voll genießbarer Ware
"In Wien wird täglich so viel Brot weggeworfen, wie in Graz verbraucht wird“, argumentieren sie. Wie hoch die Zahl tatsächlich ist, weiß niemand so genau. Schätzungen zufolge dürften bei Diskontern allerdings pro Tag und Filiale bis zu 45 Kilo an einwandfreier Ware in der Mülltonne landen. Große Supermarktketten wie Zielpunkt und Hofer, aber auch kleinere Geschäfte wie Denn’s Biomarkt und Maran Vegan, ein Wiener Familienbetrieb, geben an, noch genießbare Lebensmittel an karitative Einrichtungen oder privat organisierte "Foodsaver“ weiterzugeben. Diese holen Lebensmittel von den Märkten ab und verteilen sie in ihrem Netzwerk weiter. Die Supermärkte betonen auch, möglichst effizient einzukaufen, um Überschussware so gering wie möglich zu halten. Trotzdem finden Dumpsterer wie Andrea regelmäßig ganze Säcke voll genießbarer Ware: Milchprodukte, Backware, Obst und Gemüse, ab und zu Wurst.

Maran Vegan sieht den Umgang mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum verantwortlich für diese Entwicklung. Wer als Händler abgelaufene Ware in Umlauf bringt, macht sich mitunter strafbar. Deshalb landen in vielen Betrieben Lebensmittel im Müll, auch wenn sie noch einwandfrei sind.

Wegwerfen am Tag des Verfalldatums
Dass es überhaupt zu einem Überangebot kommt, liegt auch an den Konsumenten. Viele Menschen erwarten bis Kassaschluss die volle Auswahl an Obst, Gemüse und Backwaren. Dass binnen einer halben Stunde nicht alle Brotsorten verkauft werden können, liegt auf der Hand. Außerdem verbieten die meisten Supermärkte ihren Mitarbeitern, unverkaufte Waren abends mit nach Hause zu nehmen. Tun sie es doch, droht der Rausschmiss. Stattdessen werden Lebensmittel am Tag des Verfalldatums, auch wenn sie noch genießbar sind, weggeworfen und in Müllräumen versperrt.

Eurospar, gleich neben dem Lieferanteneingang. Andrea öffnet die Tür. Dahinter: ein großer schwarzer Container, randvoll. Es riecht unangenehm. Andrea holt Handschuhe aus ihrem Rucksack und wühlt in einem der Müllsäcke. Mehrere Packungen Spargel, ein paar Bananen. Sie nimmt nur das mit, was sie und eine Freundin brauchen können. Gedumpsterte Lebensmittel gibt sie ungern Fremden weiter, denn einer Freundin ist schon einmal vom Essen aus der Mülltonne schlecht geworden. "In letzter Zeit hab ich meistens viel gefunden“, sagt Andrea und deutet auf ihren Bauch. Was sie nicht sofort isst, friert sie ein. Sie schließt den Deckel der Mülltonne wieder, sieht sich um. Sie versucht den Müllraum so zu hinterlassen, wie sie ihn vorgefunden hat - damit die Supermärkte nicht merken, dass sie "bedumpstert“ werden, sonst installieren sie Alarmanlagen oder tauschen das Schloss.

Zielpunkt: "Können und wollen Dumpstern nicht tolerieren"
Supermärkte begründen das Versperren ihrer Müllräume damit, Dumpster Diver schützen zu wollen. Es könnten sich unter den Lebensmitteln Scherben von Bruchware oder Reinigungsmittel befinden, die im Falle eines Verzehrs eine Gesundheitsgefahr darstellen würden, so ein Hofer-Sprecher auf Anfrage. Das Unternehmen versichert auch, dass ohnehin nur entsorgt werde, was nicht mehr für den Verzehr geeignet sei. Auch Thomas Janny, Geschäftsführer von Zielpunkt, weist auf die Gesundheitsgefahr für Dumpsterer hin. Zudem sei Zielpunkt gesetzlich dazu verpflichtet, seine Müllräume zu versperren. "Wir können und wollen Dumpstern nicht tolerieren“, stellt er klar. Außerdem: "Stellen Sie sich vor, in Ihrem Kellerabteil, Ihrer Wohnung, Ihrem Balkon verschaffen sich Fremde Zutritt mittels eines Schlüssels. Sie zerstören nichts, sie brechen nichts auf, aber räumen Ihren Mistkübel aus. Wie würden Sie sich fühlen?“

Andere Supermärkte haben nichts gegen Mülltaucher. Mareike Nossol, Geschäftsführerin von Denn’s Biomärkte: "Problematisch ist es nur, wenn Dumpsterer die Mülltonnen ausräumen und nicht ordentlich wieder einräumen oder beim Zurückräumen die Mülltrennung durcheinander bringen. Das passiert leider ab und zu.“ Das Geschäft leide nicht unter den nächtlichen Aktionen der Mülltaucher. Inoffiziell unterstützen einige Filialen von Denn’s sie sogar: Bei ihnen steht noch Genießbares neben der Tonne.

Angst vor Preisdumping
Manche Supermärkte, etwa Maran Vegan, verschenken Lebensmittel, die abzulaufen drohen, an der Kassa. Große Supermarktketten tun das in der Regel nicht, denn sie haben Angst vor Preisdumping. Die Betreiber fürchten, dass Menschen wie Andrea nicht mehr in ihrem Laden einkaufen würden, wenn alles Verderbliche verschenkt werde. Denn’s Biomarkt und Maran Vegan scheinen durch ihre Praktiken allerdings keinen Schaden zu nehmen.

Doch heute sind für Andrea nur die großen Player an der Reihe. Zuerst Eurospar, jetzt Billa-Filialen. Bei dem ersten Müllraum geht sie leer aus, der zweite ist neuerdings mit einem Schloss versperrt, in das keiner von Andreas Schlüssel passt. Die letzte Station ist ein Müllraum neben einer Tiefgarage. Andrea lugt neugierig in den ersten Container. "Oh, Kuchen! Croissants! Laugenbrezen!“, jauchzt sie, als sie einen Müllsack öffnet. In Windeseile stopft sie alles in eine der mitgebrachten Plastiktaschen, denn ihr Rucksack ist längst voll. Mit der Müllzange fischt sie noch mehr Säcke aus der Tonne. Thunfisch-Sandwiches, Brot, Wurst, Joghurts. In einem anderen Sack sind Glasscherben. Er landet wieder in der Tonne. Andrea hat es eilig. Sie ist noch nie erwischt worden, aber darauf anlegen möchte sie es auch nicht. Sie weiß, dass ihr nächtliches Hobby "nicht ganz legal“ ist.

Es drohen bis zu sechs Monate Gefängnis
Dumpstern ist in Österreich Diebstahl. Der Müll im Container gehört dem Müllunternehmen der Stadt. Abgelaufene Ware ist an sich wertlos. Für das Müllunternehmen hat der Abfall aber einen Heizwert. Ein Mülltaucher stiehlt also dem Müllunternehmen einen Teil seines Brennstoffes. Deshalb drohen einem Dumpsterer bis zu sechs Monate Gefängnis. Wer sich wie Andrea und die meisten anderen mit einem nachgemachten Müllschlüssel Zugang zu den Müllräumen verschafft, begeht noch dazu Einbruchsdiebstahl. Sechs Monate bis fünf Jahre Freiheitsstrafe können die Folge sein.

Heute Abend hat Andrea nichts mehr zu befürchten. Um 22.30 Uhr ist ihre Tour beendet. Zufrieden wartet sie auf die Straßenbahn nach Hause. Die Müllzange hat im prall gefüllten Rucksack kaum noch Platz, und auch das mitgebrachte Plastiksackerl ist randvoll. "Das war eine gute Ausbeute heute“, konstatiert Andrea. In wenigen Tagen wird sich die Frau mit dem dunkelroten Rucksack und der Müllzangen-Antenne wieder auf den Weg machen.

Foto: Monika Saulich für profil