Wie wird Alexander Van der Bellen mit Macht und Möglichkeiten umgehen?

Österreich reibt sich die Augen, was sein Staatsoberhaupt alles darf

Österreich reibt sich die Augen, was sein Staatsoberhaupt alles darf

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Jörg Haider, dieser so kluge wie gewissenlose Mann, gestand einmal in kleiner, animierter Runde: Sähe er nur die geringste Aussicht auf eine Mehrheit, würde er Bundespräsident werden wollen. Damals erntete er rundum nur verständnisloses Gekicher. Diskrete Nachfrage ergab Haiders klare Einschätzung: Es gebe keinen mächtigeren Mann in Österreich als das Staatsoberhaupt.

Die Mitbürger hielten dementgegen bis vor Kurzem den höchsten ihrer Staatsfunktionäre für einen Frühstücksdirektor, allenfalls für einen Staatskommissar. Österreich, das Land der Präsidenten, Sektionschefs und Obmänner, der Hofräte und Sekretäre. So großmächtige Gestalten flüchten statt raschen und beherzten Entscheidens meist lieber in die Ranküne und die Hinterzimmer, wofür der Nation die ominöse Tapetentür zu den Amtsräumen des Bundespräsidenten symbolhaft erschien.

Österreich reibt sich nun irritiert die Augen, was sein Staatsoberhaupt alles darf und kann. Drohungen und Warnungen im Präsidentschaftswahlkampf, wie ein neuer Präsident den Regierenden in die Parade fahren, seine Befugnisse rigoros als politisches Gestaltungsmittel nutzen könnte. Perplex entdeckt die Nation: Österreich ist phasenweise eher Präsidialdemokratie. Das Staatsoberhaupt ragt als autoritärer Monolith in die Welt des Parlamentarismus, als einzige Persönlichkeit durch Direktwahl gebenedeit und so speziell legitimiert. Verdattert fragen Leitartikler, die vielleicht gerade erstmals die Verfassung durchgeblättert haben: Warum verfügt der Bundespräsident über so immense Befugnisse, und warum hat man sie ihm nicht längst weggenommen, damit er so nett und harmlos bleibe, wie er immer war?

Die Österreicher haben sich über Jahrzehnte aktiv, fast erbittert in ihrem Präsidenten geirrt, über seine Machtmöglichkeiten hinweggetäuscht.

Woher solche Fehleinschätzungen, die urplötzlich die aktuelle Szene so durchwirbeln, dass schon vom Ende der Zweiten Republik orakelt wird? Traditionelle Unlust der Bürger, sich in kompliziertere Zusammenhänge des Gemeinwesens zu vertiefen? Extrem zurückhaltende Praxis der Amtsinhaber in der Zweiten Republik, die Macht des Präsidenten zu nutzen? Sehnsucht, einen wohlerzogenen und gütigen Ersatzkaiser über allen Untiefen der Politik zu wissen, der im Ernstfall segnend alle Wunden heilt, ohne jemandem wehzutun? Die Österreicher – und hier darf man einmal ausnahmsweise generalisieren – haben sich über Jahrzehnte aktiv, fast erbittert in ihrem Präsidenten geirrt, über seine Machtmöglichkeiten hinweggetäuscht.

Da war die unselige Waldheim-Affäre. Nationale Empörung und heilloser Zank in einem zähen, fast obszönen Gesinnungswahlkampf. Letztlich aber taten doch alle so, als bedeute das innerstaatlich nichts, weil der Präsident nichts bedeute. Aber hätte die heiß diskutierte (falsche) Frage „Alter Nazi, kein alter Nazi?“ nicht zu der ganz anderen, entscheidenden Fragestellung führen müssen: Was geschieht, wenn wirklich ein Nazi oder Extremist beliebiger Farbe dieses so machtvolle Amt in die Hand bekäme? Machtvoll?

Ein Amt, dessen Inhaber Begnadigungen aussprechen und gerichtliche Strafverfahren niederschlagen kann; der in der Republik alle von Kompetenz ernennt: Richter, Beamte, Offiziere, Professoren. Der sogar den Nationalrat, Zentralfunktion jeder parlamentarischen Demokratie, auflösen könnte; und der allein Herr des Verfahrens ist, wenn nach Parlamentswahlen die Regierung neu zu bilden ist. Der Präsident beauftragt laut Verfassung eine Person „seines Vertrauens“ mit der Regierungsbildung. Von parlamentarischen Mehrheiten ist da nicht die Rede. (Thomas Klestil hat angesichts Wolfgang Schüssels FPÖ/ÖVP-Riege offen die Verfassung missachtet, da er einen Kanzler vereidigte, der für jedermann erkenntlich nicht das Vertrauen des Bundespräsidenten genoss.) Theodor Körner hatte es 1953 vorgemacht. Als eine Regierung auch mit dem von Altnazis dominierten Verband der Unabhängigen (VdU) gebildet werden sollte, sagte er schlicht Nein. So die beherzte Variante.

Der Präsident könnte zur Abwendung unmittelbarer Gefahr für die Republik zu Notverordnungen greifen, könnte zwischenzeitlich mit Expertenregierungen walten, die mit dem Parlament nichts zu tun haben.

Das Staatsoberhaupt muss sich zunächst nicht einmal an parlamentarische Mehrheiten halten, kann sie formen, provozieren, ignorieren; kann über (un)geeignete Kanzlerkandidaten abseitige Konstellationen erzwingen. Erst im Nachhinein (!) kann die Mehrheit des Parlaments die Regierung davonjagen. Aber dann könnte der Präsident das Spiel von vorne beginnen. Und wieder und wieder – wenn nicht zustande kommt, was er sich wünscht. Und wenn daraus eine Staatskrise entstünde, wäre das erst recht seine Stunde: Der Präsident könnte zur Abwendung unmittelbarer Gefahr für die Republik zu Notverordnungen greifen, könnte zwischenzeitlich mit Expertenregierungen walten, die mit dem Parlament nichts zu tun haben.

Der in aller Ranküne versierte Altkanzler Bruno Kreisky hat einst dem Autor vorgerechnet, dass es ein „böswilliger“ Präsident unter Ausschöpfung aller Kniffe und Kautelen, Kompetenzen und Befugnisse auf zweieinhalb Jahre und mehr bringen könnte, um mit solchen Schachzügen jenseits des Willens der Volksvertretung oder an ihr vorbei zu regieren, bis er endlich ein von der Parlamentsmehrheit getragenes Kabinett akzeptieren oder auf Neuwahlen zusteuern müsste. Einmalig in einem republikanisch verfassten Staat.

Und dann, wenn parlamentarische Mehrheit und Regierung stehen? Die Ernennung von Verfassungshütern, Richtern, Offizieren, Beamten, Hochschullehrern und so fort wäre ein rigides weiteres Mittel, die Republik völlig umzukrempeln. Zwar hat der Bundespräsident – bei wenigen bedeutsamen Ausnahmen – kein Vorschlagsrecht, das meist bei Bundeskanzler oder Regierung liegt. Der Präsident kann aber Kandidaten so lange ablehnen, bis ihm ein genehmer präsentiert wird. Noch besser: Er könnte sich von ihm hörigen Interimsregierungen ihm genehme Personalvorschläge machen lassen, denen er dann huldvoll nachkommt.

Dass kein Amtsinhaber je die meisten der enormen Möglichkeiten ausgespielt hat, verleitete Österreichs Öffentlichkeit zu der irrigen Geringschätzung seiner Macht.

Einen markanten Fall ,diesmal aber verantwortungsvollen präsidentiellen Handelns, hat es da gegeben. Als die Christsozialen 1966 bis 1970 mit absoluter Parlamentsmehrheit allein regierten, suchten sie Verwaltung, Justiz, Heer und Wissenschaft rigoros durch rasanten Personalwechsel dauerhaft auf Linie zu bringen. Der damalige Bundespräsident Franz Jonas sagte in ungezählten Fällen einfach Nein, verhinderte so ohne viel Aufhebens eine administrative Machtergreifung. Wenn aber der Präsident selbst Konfident oder Urheber solch eines Komplottes wäre?

Dass kein Amtsinhaber je die meisten der enormen Möglichkeiten ausgespielt hat, verleitete Österreichs Öffentlichkeit zu der irrigen Geringschätzung seiner Macht. Nicht einmal die politische Klasse war sich – pflichtwidrig – dieser Möglichkeiten und Fährnisse bewusst und sah bislang keinen Diskussionsbedarf. Natürlich gab es hellsichtige Leute. Aber auch sie, Intellektuelle, Künstler, Publizisten, widersprachen vehement der These, dem Präsidenten seien die Kompetenzen zu nehmen, die er in der Tradition der Zweiten Republik nie ausgeschöpft habe. Für diese Protagonisten der Bürgergesellschaft bestach das Argument, man brauche die Macht des Bundespräsidenten ja irgendwie doch: als letzte Instanz, um im „Ernstfall“, angesichts antidemokratischer Erscheinungen oder gar Mehrheiten, Schlimmstes zu verhüten. Das Staatsoberhaupt könne und müsse dann mit seinen weit reichenden Befugnissen verfassungsfeindliche Umtriebe aushebeln und/oder für Neuwahlen sorgen.

Wirklich in der Krise, wenn nicht völlig zerrüttet, ist das Zutrauen vieler Österreicher in den demokratischen Prozess und seine parlamentarische Ausformung.

Also gerade jene, die Sorge um die demokratische Grundverfassung des Landes umtreibt, erhoffen sich paradoxerweise von autoritären Eingriffsmöglichkeiten deren dauerhafte Unversehrtheit. Die Urheber der Verfassung hegten wohl ähnlichen Argwohn: Österreichs parlamentarische Demokratie sei nicht wirklich unerschütterlich und bedürfe gegebenenfalls autoritärer Korrekturen – eben durch den Bundespräsidenten, den Frühstücksdirektor als Gelegenheitsdiktator. Eine unfreundliche Distanzierung von der politischen Klasse und den Wahlbürgern gleichermaßen. Doch nochmals die Frage: Wenn dann aber der Falsche das Amt innehätte?

Und dann noch dieser bequeme, verlogene Kontrast zwischen Verfassung und Realverfassung. Was da in den Gesetzen und der Konstitution stehe, sei ja schön und gut; es in der Praxis anzuwenden, sei etwas ganz anderes. Es gebe etwa keine Tradition darin, die Befugnisse des Bundespräsidenten offensiv auszulegen. In der heillosen Berufung auf die Realverfassung, dass nämlich vieles nicht so gemeint sei, wie beschlossen, fußt viel von der Verdrossenheit in Österreichs Gesellschaft, der es so gut geht und die so missgelaunt ist, als wäre das Land ein Krisenstaat. Jedoch: Es gibt kein totes Recht. Dass etwa Präsident Klestil seine Rechte gegenüber dem Kanzleraspiranten Schüssel nicht zur Geltung gebracht hat, lag nicht an der „Realverfassung“, sondern am Wankelmut, an der Verzagtheit des Protagonisten. Der neue Bundespräsident weiß das.

Wirklich in der Krise, wenn nicht völlig zerrüttet, ist das Zutrauen vieler Österreicher in den demokratischen Prozess und seine parlamentarische Ausformung. Wäre da nicht die vornehmste Aufgabe des neuen Bundespräsidenten, selbst einen breiten Diskurs über sein eigenes Amt anzustoßen, um reinen Tisch zu machen. Um eindeutig zu klären, ob man dieses Amt in Machtfülle und Selbstherrlichkeit will und braucht, wie es das Gesetz erlaubt; oder ob es neu so zu definieren ist, dass es der Nachkriegstradition folgend gewichtige Befugnisse zugunsten des Nationalrats ablegt, um den Parlamentarismus zu stärken und allfälligem Missbrauch vorzubeugen. Sonst bleibt Österreich das Reich des Uneigentlichen.

Zur Person: Der in Bayern geborene Journalist und Buchautor Michael Frank, 69, war rund zwei Jahrzehnte lang Korrespondent der„Süddeutschen Zeitung“ in Wien.