Erhard Oeser erklärt das Phänomen der Xenophobie.

Wissenschafter Erhard Oeser: "Neorassistische Vorstellungen“

Der Wissenschaftstheoretiker Erhard Oeser über die lange Geschichte der Xenophobie, pseudowissenschaftliche Islamängste und statistische Lügen.

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profil: Xenophobie bezeichnen Sie in Ihrem neuen Buch als dunkle Seite der europäischen Zivilisation. Wird diese Seite nur in Ausnahmesituationen sichtbar wie bei der aktuellen Flüchtlingskrise? Erhard Oeser: Nein, das glaube ich nicht. Jedenfalls habe ich Material gesammelt, das weit in die Geschichte zurückreicht und eine gewisse Kontinuität zeigt. Zu manchen Zeiten wandelt sich aber diese Fremdenangst in eine aggressive Fremdenfeindlichkeit um, die zu Mord und Totschlag führen kann. Aber im Grunde handelt es sich um einen Ablauf fast ohne Unterbrechungen, selbst in Friedenszeiten gab und gibt es Xenophobie.

profil: Die jüngere Geschichte Europas war geprägt von Rassismus und Nationalismus. Ist es ein Trugschluss, zu glauben, wir hätten diese Epoche hinter uns gelassen? Oeser: Ganz sicher. Es ist verpönt, die Geschehnisse des Nationalsozialismus mit anderen Ereignissen zu vergleichen. Doch den Antisemitismus hat es in Deutschland seit Luther und schon viel früher gegeben. Hitler hat durchgeführt, was man sich theoretisch viel früher ausgedacht hatte. Wenn man Aussagen Luthers mit den Taten des Nationalsozialismus vergleicht, gibt es entsetzliche Parallelen.

profil: Mit dem Nationalsozialismus verbunden war die Idee einer reinen Rasse. Das erinnert an die heute beschworene Angst vor einer Vermischung mit Flüchtlingen, etwa indem auf die Geburtenrate von Einwanderern hingewiesen wird. Oeser: Die Vorstellung einer reinen Rasse ist schon bei den Römern nachweisbar, etwa bei Tacitus. Dieser hat sogar den damaligen Feind, die Germanen, als reinrassig verherrlicht. Genau das wurde im deutschen Nationalsozialismus wiederbelebt. Es wurde schon davor eine Germanenideologie errichtet, die Hitler dann in die Realität umzusetzen versuchte, mit ganz dümmlichen Bemerkungen, etwa über die Meise, die nur zur Meise geht, oder der Wolf zur Wölfin. Das ist natürlich Unsinn, der von Biologie und Genetik nicht gedeckt ist. Darwin war ein Gegner des Rassismus, weil er erkannte, dass der Homo sapiens nur eine einzige Art ist.

Alle, die Xenophobie predigen, kennen den Islam im Grunde gar nicht und haben sich damit nicht beschäftigt.

profil: Im 18. Jahrhundert war es Ausdruck des damals üblichen Rassismus, auf angeblich unterschiedliche Hirngewichte von Völkern hinzuweisen. Das ist aus heutiger Sicht lächerlich, doch wie drückt sich Rassismus in unserer Zeit aus? Oeser: An Stelle des genetischen Rassismus ist der Neorassismus getreten, der heute viel gefährlicher ist. Dieser ist auf die Idee zurückzuführen, dass nicht so sehr die genetische Ausstattung eine Rolle spielt, sondern Unterschiede in der Kultur, die nicht veränderbar sind. Die Botschaft lautet: Bestimmte Kulturen seien auf einem niedrigeren Stand, und es wird behauptet, dass Menschen aus anderen Kulturen nicht fähig seien, beispielsweise universelle Menschenrechte anzuerkennen. Der Großteil jener, die heute Xenophobie vertreten, hat solche neorassistischen Vorstellungen. Das ruft eben die Angst hervor, mit einer anderen Kultur konfrontiert zu werden.

profil: Xenophobie bedeutet heute in Europa vor allem Islamophobie. Diese wird aber nicht nur von den Ängsten einer anonymen Masse getragen, sondern auch von Intellektuellen, die mit Hiobsbotschaften hantieren. In einem Kommentar war kürzlich von "35 Millionen Muslimmännern“ die Rede, die Europa überschwemmen würden. Oeser: Es ist leider so, dass in populärwissenschaftlichen Arbeiten von Wissenschaftern, die durchaus anerkannt sind, solche Thesen vertreten werden, die pseudowissenschaftlichen Charakter haben und Prophezeiungen aufstellen, zum Beispiel, dass sich der Islam durchsetzen werde und Europa davon überflutet werde. Doch diese Vorstellung stimmt nicht. Der Islam ist ja gespalten, es gibt Kämpfe untereinander, fast im Sinne einer xenophoben Feindschaft aggressiver Art. Alle, die Xenophobie predigen, kennen den Islam im Grunde gar nicht und haben sich damit nicht beschäftigt.

profil: Während Christentum mit Frieden und Gewaltlosigkeit gleichgesetzt wird, wird der Islam pauschal als Religion der Gewalt bezeichnet. Oeser: Das Alte Testament enthält genauso wie der Koran verdammungswürdige Angaben, etwa zum Mord an Bewohnern einer Stadt nach deren Eroberung. Jetzt könnte man sagen, das sei ja nicht das Christentum. Doch trotz des Neuen Testaments haben katholische Missionare fürchterliche Gräueltaten begangen, es wurden ganze Stämme ausgerottet. Das Christentum kann nicht pauschal als friedliche Religion bezeichnet werden und der Islam nicht pauschal als gewaltsame Religion.

Xenophobie entsteht nicht nur in der ungebildeten Volksmeinung.

profil: Wieso können sich noch heute in unserer vernetzten Welt Mythen über andere Kulturen halten? Oeser: Unser Kommunikationsnetz hat dunkle Flecken. Es wird nicht die Wahrheit verbreitet, das wird nur behauptet. Kein vernünftiger Wissenschafter würde behaupten, dass er die Wahrheit gepachtet habe. In populärwissenschaftlichen Arbeiten wird aber verbreitet, etwas sei wissenschaftlich bewiesen. Es gibt so etwas wie eine Wissenschaftskriminalität, bei der statistische Daten verfälscht werden. Das kann man beispielsweise Thilo Sarrazin ankreiden, der endlose Statistiken bemüht, die nicht gesichert sind. Es gibt gewöhnliche Lügen, gemeine Lügen und statistische Lügen. Doch genau das kommt in der Bevölkerung gut an. Da heißt es dann, es gebe Überfremdung, und sogenannte Wissenschafter lassen sich zu Prophezeiungen hinreißen, die völlig absurd sind.

profil: Ist Xenophobie ein Zeichen niedriger Bildung und Unwissen? Oeser: Das ist leider nicht der Fall. Die eigentlichen Hetzreden stammen von Wissenschaftern, die zum Teil auch an der Universität lehren. Xenophobie entsteht nicht nur in der ungebildeten Volksmeinung.

INFOBOX

Erhard Oeser, 77, ist emeritierter Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften der Universität Wien. Oeser beschäftigte sich mit Neurologie ebenso wie mit Evolutionsbiologie. Er war Vorstandsmitglied des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung sowie wissenschaftlicher Leiter des Karl-Popper-Institutes Wien. Zu seinen Büchern zählen "Geschichte der Hirnforschung, "Das Reich des Mahdi“ über den ersten islamischen Gottesstaat und aktuell "Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie“ (Theiss Verlag, 507 Seiten, EUR 30,80).