Der Fall Groer

profil 13/1995: Als profil den Kardinal als Missbrauchstäter enttarnte

Der Wiener Kardinal Groër musste 1995 zurücktreten, nachdem profil ihn als Missbrauchstäter enttarnt hatte. Ein Dammbruch, der die katholische Kirche nachhaltig erschütterte.

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Unter einem Trigger versteht man in der Psychologie, dass sich traumatisierte Menschen durch einen Auslöser in den Gefühlszustand von damals zurückversetzt fühlen. Die Folge: Wut und Angst.

Ein solcher Trigger war in einer Kurzmeldung der profil-Ausgabe vom 6. März 1995 versteckt: profil berichtete damals über einen Hirtenbrief des Erzbischofs von Wien, Hans Hermann Groër, in dem dieser aus dem ersten Korintherbrief von Paulus zitierte: „Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder werden das Reich Gottes erben.“

Knabenschänder? Beim damals 37-jährigen Josef Hartmann weckte dieses Wort beklemmende Erinnerungen an seine Schulzeit im erzbischöflichen Knabenseminar Hollabrunn. Hartmann war ein Schüler Groërs gewesen und hatte seinen früheren Religionslehrer als das in Erinnerung, wogegen der nunmehrige Kardinal in seinem Hirtenbrief wetterte: als Knabenschänder.

Der Brief des Informanten

Hartmann war von dieser Bigotterie derart erzürnt, dass er zum Äußersten bereit war: zu einem Outing des Täters. 1995, lange vor Facebook, X und Instagram, wählte er den klassischen Weg. Er schrieb einen Brief, adressiert an die profil-Redaktion, genauer gesagt an Josef Votzi, damals Chefredakteur des Magazins. 

Die beiden verabredeten sich in der Pizzeria „L’asino che ride“ in der Wiener Dorotheergasse. Aus diesem Treffen entstand eine Coverzeile, gedruckt auf die Ausgabe 13 vom 
27. März 1995, die zum Rücktritt Groërs führen sollte und die katholische Kirche nachhaltig erschütterte: „Ex-Zögling klagt an: ‚Groer hat mich sexuell mißbraucht!‘“

Journalist Josef Votzi, Missbrauchsopfer Josef Hartmann

Aufdecker Votzi, Missbrauchsopfer Hartmann

Bei einem Interview mit Ö3 im Jahr 1995.

In der profil-Redaktion war man sich der Brisanz der Geschichte bewusst, viele Katholiken könnten den Bericht als Angriff auf ihre Kirche verstehen, schrieb Votzi im „Intern“ der Enthüllungsausgabe. Schließlich rang sich die Redaktion zur Veröffentlichung durch, denn: Entscheidend sei „neben der Heuchelei des Kardinals“ und der „Glaubwürdigkeit“ des Opfers auch die Tatsache, dass Hartmann das, „was ihm der frühere Religionslehrer Groer angetan hat, bis heute nicht bewältigt hat“. 

Ich musste bei ihm im Bett liegen und seine Zungenküsse über mich ergehen lassen.

Josef Hartmann im profil

27. März 1995

Der oberste Geistliche des Landes, der Wiener Kardinal, war enttarnt. Die Schilderungen Hartmanns waren derart detailliert, dass man sich ihnen nicht entziehen konnte. 
Groër war in den 1960er-Jahren im Internat wohnhaft und ließ Hartmann immer wieder zu sich rufen. Er lockte den Teenager unter dem plumpen Vorwand der Gesundheitsvorsorge in die Duschkabine seiner Wohnung. Hartmann im profil: „Er wolle mir zeigen, wie man richtig Intimpflege betreibt. Dann hat er mich am ganzen Körper eingeseift und mit hochrotem Kopf mein Glied gereinigt. Er war dabei sichtlich erregt. Daraufhin musste ich bei ihm im Bett liegen und seine Zungenküsse über mich ergehen lassen.“

So soll das bis zur Matura gegangen sein: „Streicheln, Kuscheln und Zungenküsse“. 

Ein Tabubruch mit Folgen

In der Folge brachen weitere Opfer ihr Schweigen. Dennoch reagierte die katholische Kirche träge. Der Papst nahm zwar das Rücktrittsgesuch Groërs an, das dieser schon 1994, ursprünglich aus Altersgründen, gestellt hatte. Doch nur ein Jahr später wurde er zum Prior eines Klosters bestellt – neuerlich wurden Vorwürfe laut, diesmal von erwachsenen Brüdern. 
Die Zivilbevölkerung baute mit dem „Kirchenvolksbegehren“ Druck auf, 500.000 Menschen unterschrieben 1995 für eine „grundlegende Erneuerung der Kirche Jesu“. Eine der Forderungen wurde bis heute nicht umgesetzt: ein Ende des Zölibats.

Josef Hartmann bekam von der Kirche im Jahr 2003 eine finanzielle Entschädigung von 40.000 Euro – unter der Bedingung, dass er sich zum Fall nicht mehr öffentlich äußert. Später sagte er darüber im profil: „Das war ein Teufelspakt. Es war Schweigegeld. Ein sittenwidriger Vertrag. Der Betrag war ein Hohn verglichen mit international üblichen Entschädigungssummen.“

Auch wenn es mit der Klasnic-Kommission (benannt nach deren Leiterin, der früheren steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic) eine kirchliche Institution gibt, die Missbrauchsopfern eine Entschädigung zubilligen kann: Die Causa Hartmann wurde bis heute nicht aufgearbeitet – zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung im profil waren die Taten Groërs juristisch jedenfalls verjährt. 

Whistleblower Hartmann starb Anfang des Jahres im Alter von 67. Seinen Nachruf betitelte Aufdecker Votzi schlicht mit: „Der Mutige“. 

Jakob Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef und seit 2025 Mitglied der Chefredaktion bei profil. Gründete und leitet den Faktencheck faktiv.