Äthiopien ist auch Schwerpunktland der österreichischen EZA

Äthiopien: Ein Sieg ohne Frieden

Seit 14 Monaten tobt in Äthiopien ein Bürgerkrieg. Im Dezember hat die Regierung sämtliche Gebiete von den Rebellen zurückerobert und zuletzt einen „Nationalen Dialog“ zur Versöhnung angekündigt. Kann das Land nun zur Normalität zurückkehren?

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Genet Amare, 28, sitzt auf einem gelben Plastikstuhl in ihrem Haus in der Kleinstadt Ayina im Norden Äthiopiens, hält das golden eingerahmte Bild eines ernst dreinblickenden jungen Mannes im Arm und fragt sich: Was wäre, wenn … Was wäre, wenn die Regierungstruppen da gewesen wären, um sie zu verteidigen? Was wäre, wenn sie nicht im Haus geblieben wären, um ihr Hab und Gut zu schützen? Was wäre, wenn ihr Mann Alebachew Fiseha nicht krank im Bett gelegen hätte, als die Rebellen kamen? Wäre er dann noch am Leben?

Amare trägt einen schwarzen Schleier, sie hat die Haare kurz geschoren, wie es nach Todesfällen bei den Amhara-Frauen üblich ist, der zweitgrößten Volksgruppe in Äthiopien. Sie spricht leise, flüstert fast, während sie ihre Geschichte erzählt.

Ende November seien die Rebellen der Befreiungsfront von Tigray (TPLF) zum zweiten Mal in ihre Heimatstadt Ayina im Bundesstaat Amhara eingefallen. Während sie ihre sechs jüngeren Geschwister und ihren Sohn an einem sicheren Ort versteckte, hätten sie und ihr Mann, ein 37-jähriger Händler, das Haus schützen wollen. Vergebens. Fünf oder sechs Rebellen seien in das Haus eingedrungen. Weil ihr Mann krank im Bett lag, hatten sie ihn für einen verwundeten Kämpfer der Amhara-Spezialeinheiten gehalten und erschossen. Kurz darauf sei eine zweite Gruppe gekommen, sie raubten 100 Benzinkanister, mit denen ihr Mann gehandelt hatte, sowie Geld und den gesamten Schmuck der Familie. „Wir haben nichts mehr, mein Mann ist tot. Wir wissen nicht mehr, wie wir weitermachen sollen“, flüstert Amare.

Zwei Monate ist das jetzt her. Kurz zuvor hatte die äthiopische Armee eine groß angelegte Gegenoffensive gestartet, um die Rebellen aus den Bundesstaaten Amhara und Afar zurück nach Tigray zu treiben, wo der Krieg im November 2020 begonnen hatte. Ein Krieg, der in Äthiopien mit seinen mehr als 80 Volksgruppen in den vergangenen Monaten immer tieferen Hass zwischen den verschiedenen Ethnien des Landes gesät hat. Vor allem im Norden, zwischen den Amhara und den Tigray, die sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung ausmachen – und die bis 2018 mit der Partei TPLF 27 Jahre lang die Regierungskoalition in Addis Abeba dominiert hatten.

Damit war Schluss, als Abiy Ahmed, Angehöriger der größten Bevölkerungsgruppe Oromo, den Vorsitz der Regierungskoalition übernahm. Nach einem Jahr im Amt löste er die Koalition auf und gründete statt dessen die "Wohlstandspartei". Er versuchte die Befugnisse der Zentralregierung zu stärken und das ethnoföderale System aufzulösen, das den Ethnien in ihren Bundesstaaten besondere Autonomien und Rechte zugestanden hatte. Ein Vorhaben, das die TPLF "illegal und reaktionär" nannte.

"Rechtsdurchsetzungsoperation"

Der Streit eskalierte. Ohne Einverständnis der Regierung ließ die TPLF Regionalwahlen in Tigray abhalten. Wenig später wurden dort Lager der äthiopischen Armee angegriffen, was Abiy Ahmed als Vorwand nutzte und seine Truppen zu einer, wie er sagte, "Rechtsdurchsetzungsoperation" in den Norden schickte. Das war im November 2020.

"Der Ursprung des Konflikts ist die unterschiedliche Vorstellung davon, wie der Staat organisiert sein soll",sagt der französische Soziologe Mehdi Labzaé, der zehn Jahre lang am "French Institute for Ethiopian Studies" in Addis Abeba geforscht hat. "Aber Abiys Regierung und Vertreter der Amhara-Eliten haben Ethnien in den vergangenen Monaten bewusst dazu benutzt, um Stimmung gegen die Tigrayer zu machen und die Bevölkerung für den Krieg zu mobilisieren."

Seit Beginn des Krieges sind Zehntausende getötet worden. Mindestens zwei Millionen Menschen wurden vertrieben, Hunderttausende leiden infolge des Krieges und der Blockade der Regierung gegen humanitäre Hilfen in Tigray an Hunger. Im November waren die Rebellen bis 180 Kilometer an die Hauptstadt Addis Abeba vorgerückt. Doch inzwischen hat die Regierung weite Teile des Landes zurückerobert.

Am Abend des 6. Jänner, dem äthiopisch-orthodoxen Weihnachtsfest, kündigte Abiy Ahmed schließlich an, mehrere politische Gefangene freizulassen, darunter den TPLF-Mitgründer Sebhat Nega und mehrere Oromo-Aktivisten. Er wolle einen "nationalen Dialog" starten, "um den Weg für eine dauerhafte Lösung der Probleme Äthiopiens auf friedliche, gewaltfreie Weise" zu ebnen, schrieb der Premierminister in einem Statement. Nur: Kann ein Land nach 14 Monaten Bürgerkrieg zur Normalität zurückzukehren? Können Menschen, die in diesem Krieg alles verloren haben, ohne Weiteres vergeben?

Nachdem die Regierung über Monate versuchte, unabhängige Berichterstattung über den Krieg einzuschränken, hat sie nun einer Handvoll Journalisten Zugang zu den zurückeroberten Gebieten gewährt.

In Ayina, einer Kleinstadt mit etwa 8000 Einwohnern im Hinterland des Bundesstaates Amhara, säumen Eukalyptusbäume die Berghänge, langsam trottende Maultiere transportieren im Sonnenaufgang Wasser in gelben Kanistern vom Fluss in die Stadt. Müde Soldatinnen und Soldaten der Amhara Special Forces - der Sicherheitseinheiten des Bundesstaats - schlendern in beigem Flecktarn und mit ihren Kalaschnikows die Hauptstraße entlang. Am Himmel ziehen Adler ihre Kreise. Fast wirkt Ayina an diesem Morgen friedlich, als hätte der Krieg einen Bogen um die Stadt gemacht. Dass der Schein trügt, merkt man spätestens, wenn man das Rathaus erreicht.

"Es wird Jahre dauern, das alles in Ordnung zu bringen"

Das Metalltor ist eingedrückt, die Flure des Gebäudes bedeckt mit herausgerissen Akten, Büchern und Wandplakaten. Die Büros sind verwüstet, die Computer zerstört. Das Vorzimmer des Bürgermeisterbüros ist mit Parolen auf Tigrinisch beschmiert. "Es wird Jahre dauern, das alles in Ordnung zu bringen", sagt Shambel Beset. Der 33-Jährige ist der Gemeindevorsteher von Ayina. Vor ihm auf dem Tisch stehen zwei kleine Äthiopien-Fähnchen, hinter ihm an der Wand hängt ein buntes Poster mit der Gottesmutter Maria. "Die Tigrayer haben geplündert, gemordet und die Menschen in den Hunger getrieben", sagt Beset.

Dabei hätten sie nie gedacht, dass sich die Rebellen überhaupt in die Stadt verirren: "Ayina ist kein strategischer Ort." Und trotzdem seien sie zweimal eingefallen. Zuerst Anfang September, dann noch einmal Ende November. Fernsehen und Internet wurden gekappt. Hunderte Menschen flohen aus der Stadt. Das äthiopische Militär sei nicht da gewesen, um sie zu schützen; die Einheiten der Amhara Special Forces hätten sich mit ihren leichten Waffen nicht gegen die schwere Artillerie der Rebellen verteidigen können.

Noch immer versucht Shambel Beset Bilanz zu ziehen und den Schaden zu bemessen. 33 Frauen hätten sich bislang gemeldet und angegeben, von den TPLF-Kämpfern vergewaltigt worden zu sein. 14 Zivilistinnen und Zivilisten seien ermordet worden. "Es hat den Anschein, als wollten sie ethnische Säuberungen an uns Amhara betreiben."

Asefu Wedaje kann bis heute nicht verstehen, was im vergangenen September passiert ist. Die 26-Jährige steht vor einer kleinen Blechhütte am Rande der Hauptstraße Ayinas, die wie die meisten Geschäfte in der Stadt geschlossen ist. "Mein Mann hatte hier einen kleinen Schreibwarenladen mit Copy-Shop", sagt sie. "Aber sie haben alles geplündert." Jetzt ist ihr Mann tot. Er habe sich morgens verabschiedet, um seinen kranken Vater zu besuchen. Wenig später habe eine Frau beobachtet, wie TPLF-Kämpfer ihn etwas außerhalb der Stadt von hinten mit einem Kopfschuss niedergestreckten. "Mein Mann ist tot, sein Laden geplündert. Wie sollen wir jetzt überleben?", fragt sie. Asefu zeigt auf die zwei Söhne, eineinhalb und acht Jahre alt, getrockneter Rotz klebt ihnen im Gesicht, in ihren Augen sitzen Fliegen. "Wir haben niemanden, der sich um uns kümmert, und auch die Regierung hilft uns nicht."

Wie viele der Schilderungen lassen sich auch jene der beiden Frauen Asefu Wedaje und Genet Amare nicht letztgültig verifizieren. Beweise wie Videoaufnahmen oder Fotos fehlen, es bleibt nichts als die Erinnerung der Betroffenen. Für Beobachter entsteht das Risiko, ein verzerrtes Bild dieses Krieges zu zeichnen: Wegen der Reisebeschränkungen und der gekappten Internetverbindung ist es nicht möglich, mit der Gegenseite zu sprechen. Doch auch die Menschen in Tigray sowie die Vereinten Nationen berichten von Verbrechen der äthiopischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten von der eritreischen Armee. In den vergangenen Tagen sollen bei Luftangriffen der Regierungstruppen in Tigray laut der Nachrichtenagentur Reuters mehr als 70 Menschen getötet worden sein, darunter auch Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen.

In Ayina wird deutlich, welch tiefe Gräben der brutale Bürgerkrieg zwischen die Bevölkerungsgruppen Äthiopiens gerissen hat, wie langfristig und schwerwiegend seine Folgen sind-und wie schwierig es für den Premierminister wird, das Land zu versöhnen. Für seine Friedensbemühungen mit Eritrea hat Abiy 2019 den Nobelpreis erhalten. Nun steht er vor der Herausforderung, sein eigenes Land zu einen.

"Den Tigrayern kann man nicht trauen, wir müssen jederzeit bereit sein, uns selbst zu verteidigen", sagt Balemual Awoke. Er ist 21, hat kurze Rastas und einen dünnen Oberlippenflaum. An einer Schnur baumelt eine goldene Patronenhülse um seinen Hals. Auch er kommt aus Ayina. Doch als die TPLF im September sein Dorf überfallen und seiner Familie Handys, Fernseher und Schmuck geraubt hat, beschloss er, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Er ist von zu Hause ausgezogen, um sich der Fano anzuschließen-einer berüchtigten Amhara-Miliz, die schon in den 1930er-Jahren gegen die Invasion der italienischen Faschisten gekämpft hat. Noch vor wenigen Monaten wollte Abiy die Miliz zerschlagen und ließ ihre Anführer verfolgen. Heute kämpft die Fano Seite an Seite mit der Regierung gegen die TPLF.

Wir treffen Awoke 60 Kilometer südlich von Ayina auf dem Gelände des Kindergartens von Lalibela. Fast fünf Monate hatte die TPLF die Weltkulturerbestätte mit ihren im 12. und 13. Jahrhundert errichteten Felsenkirchen besetzt gehalten. Nur durch ein göttliches Wunder und das Wirken der Priester sei die Stadt vor der Zerstörung bewahrt worden, erzählen sich die Menschen hier.

Jetzt kampieren 300 Kämpfer in der Stadt, allesamt Freiwillige. Unter ihnen Bauern, Schüler, Hausfrauen, Psychologie-Studenten und Programmierer. Manche tragen alte Militärklamotten, andere Hemden und Fußballtrikots. Wer eine Waffe besitzt, hat sie mitgebracht, viele haben selbst Angehörige im Krieg verloren. Alle verbindet ein Ziel. "Wir sind hier, um die Amhara und ihre Identität zu verteidigen", sagt Mesfin Getamessay. Der 39-Jährige ist Anführer der Truppe und eigentlich Bankdirektor.

An diesem Morgen steht er in Schuhen aus rotem Leder und einer schwarzen Jacke, die er über Hemd und Krawatte gezogen hat, vor den Kämpfern, die auf Kindergartenhockern Platz genommen haben, und brüllt auf Amharisch: "Seid ihr da?"

"Ja, wir sind da!", schallt es im Chor. "Hebt die Hände, Amhara!" "Amhara voran!" "Junta (Bezeichnung für TPLF, Anm.) zurück!" "Äthiopien voran!", schallt der Chor der Kämpfer. Getamessay lächelt zufrieden. Ende der 1990er-Jahre hat er als Jugendlicher im Eritrea-Äthiopien-Krieg gekämpft. "Der Krieg war ähnlich unnötig, aber dieser hier ist um einiges brutaler", sagt er. "Damals haben Armeen gegeneinander gekämpft, heute sind es Bevölkerungsgruppen." Die TPLF wisse, dass man, um Äthiopien zu kontrollieren, die Amhara hinter sich haben muss. Weil die Tigrayer die Zivilbevölkerung für den Krieg mobilisieren, müssen es die Amhara ihnen gleichtun.

"Es ist so, als würde Abiy uns verhöhnen"

Getamessay und seine Kämpfer glauben, dass der Krieg in Äthiopien noch lange nicht vorbei ist. "Die Tigrayer rekrutieren Tausende neue Kämpfer, und an der Grenze zwischen Amhara und Tigray braut sich ein neuer Krieg zusammen", sagt Menber Alemu, 31, der vor dem Konflikt Psychologie studiert hat und heute an der Front kämpft. Was denkt er über Abiys Friedensbemühungen? "Ich bin schockiert, dass er den TPLF-Führer Sebhat Nega freilässt. Er ist einer der Hintermänner dieser Teufelstruppe." Zwei enge Freunde hätten ihr Leben in diesem Krieg geopfert, sagt Alemu. "Es ist so, als würde Abiy uns verhöhnen, als hätte er den Krieg bewusst genutzt, um die Amhara zu zerstören. Ich habe mein komplettes Vertrauen in ihn verloren. Wir werden weiterkämpfen, egal was er sagt."

Viele internationale Beobachter glauben, dass Abiys Vorstoß Monate zu spät kommt und die Ankündigung, seine Truppen nicht nach Tigray zu schicken, sowie der vermeintliche Weihnachtssegen ein Vorwand seien, einen Krieg beizulegen, der das Land in eine wirtschaftliche Krise gestürzt hat. Die Regierung könne sich den Konflikt nicht länger leisten, heißt es.

In Amhara vermuten die Menschen ein anderes Motiv. "Viele Amhara fühlen sich insbesondere durch die Freilassung der Oromo-Nationalisten verraten und bestätigt in ihrem Verdacht, dass Abiy den Krieg nutzen wollte, um gegen die Amhara vorzugehen und so mehr und mehr Angehörige der Oromo in zentralen Führungspositionen installieren zu können", sagt der Soziologe Mehdi Labzaé. Immer wieder höre man aus Kreisen der Amhara Special Forces, dass es Pläne für einen baldigen Putschversuch gebe. "Für viele Amhara ist der Krieg erst vorbei, wenn sie die TPLF bis in die tigrayische Hauptstadt Mekelle zurückgedrängt haben."

Und so gibt es dieser Tage in der Region Amhara nur wenige Menschen, die noch an Frieden glauben. Einer von ihnen ist Pater Tsige Mezgebu. Er trägt einen langen schwarzen Kaftan und eine Skufja, die runde Mütze der orthodoxen Priester, als er zwei Tage vor dem Weihnachtsfest aus der Tür der Polizeistation in Lalibela tritt. "Hier werden immer noch Tigrayer festgehalten, die beschuldigt werden, der TPLF geholfen zu haben",sagt der Vorsteher des Klosters in Lalibela. "Ich habe der Polizei gesagt, dass diese Leute aufgrund ihrer Taten verurteilt werden sollen und nicht wegen ihrer Herkunft. Am Ende sind wir alle Menschen und glauben alle an den gleichen Gott."

Als er auf der Straße steht, wirft sich eine Frau mit einem Kind im Arm vor ihm auf die Knie und hält ihn flehend am Rockzipfel fest. "Sehen Sie, wie dieser Krieg die Menschen arm und hungrig gemacht hat?", sagt der Priester. Der einzige Weg, Frieden zu stiften, sei, die Verursacher des Krieges zur Rechenschaft zu ziehen - und den anderen zu verzeihen.