Kasachische Soldaten patrouillieren in Almaty nach Zusammenstößen.
Interview

Kasachstan: „Ja, es war ein versuchter Staatsstreich“

Akezhan Kazhegeldin war einst Kasachstans Premier. Wie denkt er über seinen Nachfolger? Kann der das Land nach den blutigen Ausschreitungen befrieden und das korrupte System überwinden?

Drucken

Schriftgröße

profil erreicht Akezhan Kazhegeldin zu Hause in Großbritannien. Wo genau er sich befindet, will der ehemalige Premier Kasachstans nicht verraten. Kazhegeldin führte das riesige Land, das fast acht Mal so groß ist wie Deutschland und reich an Öl- und Gasvorkommen, von 1994 bis 1997. Laut eigenen angaben trat Kazhegeldin aus Protest gegen den autoritären Führungsstil des damaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew und gegen die grassierende Korruption zurück; mit der Elite in seinem Land hat er sich überworfen. Seit seiner Flucht ins Exil 1998 gilt der 69-Jährige als einer der größten Kritiker Nasarbajews. Heute führt er eine Gruppe Oppositioneller im Ausland an und fordert harte wirtschaftliche Sanktionen gegen den Ex-Präsidenten und dessen Umfeld.

Seit Beginn der Unruhen ist Nasarbajew verschwunden. Der 81-Jährige hat das Präsidentenamt zwar 2019 an Kassym-Jomart Tokajew abgegeben, zog im Hintergrund aber weiterhin die Fäden. Er blieb Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats und damit der Geheimdienste. Nach Beginn der Unruhen in Kasachstan mit mehr als 160 Toten – die schwersten Ausschreitungen seit der Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion im Jahr 1991 – wurde auch er entlassen.

Kasachstans Eliten liefern sich einen Machtkampf: Tokajew hat nicht nur seine Regierung und die Führung des Geheimdienstes ausgetauscht, sondern auch viele weitere Vertraute des ehemaligen Präsidenten.

profil: Kasachstans Präsident Tokajew spricht nach den Unruhen von einem versuchten Staatsstreich, angezettelt von Nasarbajews Leuten. Stimmen Sie ihm zu?

Akezhan Kazhegeldin: Ja, absolut. Ich kenne das System und sehe das auch so.

profil: Die Proteste haben im Westen des Landes mit Demonstrationen gegen explodierende Gaspreise begonnen. Was ist dann geschehen?

Kazhegeldin: Das zweite Mal innerhalb von zehn Jahren sind die Menschen überall im Land auf die Straße gegangen. Auch das erste Mal begann es mit Protesten wegen der Wirtschaft, doch rasch kam die Forderung, Nasarbajew solle die Macht abgeben. Jetzt protestieren die Menschen wegen der seit 2008 anhaltenden Finanzkrise. Die Regierung kann wegen der landesweiten massiven Korruption nicht dagegen vorgehen. Arbeitslosigkeit und Inflation sind hoch, neunzig Prozent der Bevölkerung leben von fünf Dollar am Tag. Gleichzeitig bereichert sich eine kleine Elite. Ein paar reiche Familien kontrollieren große Teile der Wirtschaft. Sie haben Immobilien in den USA und in der EU, auch in Österreich. Als zu Beginn des Jahres der Gaspreis anstieg, sagten sich die Menschen: Genug ist genug.

profil: Ist es Tokajew mit der Absetzung der Regierung und etlichen von Nasarbajews Leuten gelungen, die Ära Nasarbajew zu beenden?

Kazhegeldin: Ich hoffe es, aber das ist erst der Anfang vom Ende der Ära Naserbajew. Tojajew darf die Angelegenheit nicht in die Länge ziehen, er muss selbst überzeugt von der Sache sein. Das wichtigste ist, die Nation hinter sich zu haben. Er hat, formal gesehen, viel Macht. Die Frage ist, was er damit anstellt. Er kann über Nacht alles verlieren.

profil: Tokajew ist nicht gerade beliebt bei der Bevölkerung – und die Wirtschaft ist schwach. Wie soll er das anstellen?

Kazhegeldin: Er ist unbeliebt, weil er Teil des Systems ist. Die Menschen sehen ihn nicht als unabhängigen Anführer – noch nicht. Es liegt jetzt viel an ihm. Tokajew kann versuchen, die Verwaltung umzukrempeln und auf seine Seite zu bringen. Ich habe ihn auch dazu aufgerufen, Aktivisten aus der Zivilbevölkerung in den politischen Prozess einzubeziehen. Die Leute aus der Verwaltung werden sich wehren, sie werden versuchen, ihn zu manipulieren und Informationsflüsse zu kontrollieren. Gelingt ihnen das, wird Tokajew nichts weiter sein als ein zweiter Nasarbajew.

profil: Tokajew hat Moskau und das von Russland geführte Militärbündnis ODKB um Hilfe gebeten. Ist das Putins Chance auf mehr Einfluss?

Kazhegeldin: Ich will ehrlich sein. Wir sind ein unabhängiges Land, hängen aber auch von Russland ab. Jeder, der das Gegenteil behauptet, lügt oder ist dumm. Wir teilen eine 7000 Kilometer lange Grenze mit Russland. Wir müssen diese Situation zu unserem Vorteil nutzen. Österreich und Deutschland sind auch voneinander abhängig. So ist das mit Nachbarn. Was Kasachstan betrifft will Moskau keine Fehler machen und wird keine großen Schritte setzen. Russland wird uns nicht herausfordern. Ich bin mir sicher, dass die russischen Politiker keine Feinde in Kasachstan suchen. Ich hatte Tokajew früh dazu aufgerufen, die russischen Truppen sobald wie möglich aus dem Land zu entlassen.

profil: Stehen Sie in Kontakt mit Präsident Tokajew?

Kazhegeldin: Nein, ich kommuniziere nur über die Medien mit ihm. Seit dem 6. Jänner hat er sich von Nasarbajew entfernt. Nasarbajew hasst mich. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Tokajew mich einlädt, um am politischen Wandel im Land mitzuwirken. Möglicherweise sieht er mich aber auch als Rivalen für die nächsten Wahlen (die nächsten Parlamentswahlen sind für 2024 vorgesehen, Anm.). Bisher hat mich niemand gefragt, ob ich bereit wäre, in einer künftigen Regierung mitzuwirken.

profil: Wären Sie dazu bereit?

Kazhegeldin: Ich will dabei helfen mein Land aufzubauen und bin zuversichtlich, dass wir das politische System ändern können. Mit diesem System und der Korruption ist keine Änderung möglich. Der Ruf meines Landes ist ruiniert. Der Westen hat kein Vertrauen, niemand will investieren.

profil: Ist der aktuelle Umbruch eine Chance für echte Veränderung?

Kazhegeldin: Ja. Doch ich bin mir nicht sicher, ob Tokajew mutig genug ist, diese Chance zu nutzen. Ich habe ihn seit 20 Jahren nicht mehr gesehen. Als ich Premier war, war er Teil meines Kabinetts. Er ist ein sehr gebildeter und intelligenter Mann. Doch Macht verändert einen. Ich weiß nicht, was für ein Mensch er heute ist. Die nächsten Wahlen werden für ihn eine noch größere Herausforderung als der aktuelle Putschversuch.

profil: Laut Medienberichten hat Nasarbajews Tochter fast 360 Millionen Euro im Vereinigten Königreich gebunkert. Die Investigativplattform OCCRP schreibt, dass weitere Familienmitglieder Vermögen in Steueroasen versteckt haben. Wie ist die Familie zu so großem Reichtum gekommen?

Kazhegeldin: Sie machen sich keine Vorstellungen, wie schwerreich dieser Klan ist. Bis zum 6. Jänner hat Nasarbajew nicht nur den Sicherheitsapparat kontrolliert, sondern auch die nationalen Banken, die Pensionskassen und etliche Öl- und Gasfirmen. Da geht es um Milliarden.

profil: Experten warnen, Kasachstan könnte ein „zweites Belarus“ werden: Unterdrückung der Opposition, Verfolgung von Aktivisten und Journalisten. Was kann Europa tun, um dem entgegen zu wirken?

Kazhegeldin: Wir haben eine Liste mit Namen erstellt und hoffen, dass die EU Sanktionen gegen diese Leute verhängt. Mit dem Magnitski-Gesetz können seit kurzem Einzelpersonen sanktioniert werden, ohne, dass dabei das ganze Land zu schaden kommt. Es muss Sanktionen geben gegen jene, die korrupt sind, die Vermögen gestohlen haben und es im Westen verstecken.

profil: Haben Sie eine Ahnung, wo sich Nasarbajew befindet?

Kazhegeldin: Er ist bestimmt nicht mehr im Land, auch seine Familie befindet sich mit Sicherheit im Ausland. Wahrscheinlich ist Nasarbajew in ein Nachbarland geflohen.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.