"Was hier passiert, ist völlig inakzeptabel"

Chris Gunness über die Lage in Gaza: "Was hier passiert, ist völlig inakzeptabel"

Interview. Chris Gunness über die Lage in Gaza

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Interview: Ines Holzmüller

225.000 Einwohner des Gaza-Streifens suchen derzeit Schutz in Unterkünften der Vereinten Nationen. Doch auch dort sind sie nicht in Sicherheit. Am Mittwoch kamen beim Beschuss einer Schule des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (Unrwa) im nördlichen Gazastreifen mindestens 16 Menschen ums Leben, mehr als 100 wurden verletzt. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon verurteilte den Angriff auf das Schärfste: "Es gibt nichts Beschämenderes, als schlafende Kinder anzugreifen.“ Gleichzeitig beschuldigte die Weltorganisation militante Palästinenser, UN-Anlagen als Waffenversteck missbraucht und damit "die Neutralität einer unserer Einrichtungen verletzt“ zu haben.

Die Situation sei "einfach desaströs“, schildert Unrwa-Sprecher Christopher Gunness im profil-Interview die derzeitige Lage in Gaza.

profil: Vergangenen Mittwoch sind Sie während eines Live-Interviews in Tränen ausgebrochen. Was hat diesen Gefühlsausbruch verursacht?
Christopher Gunness: Ich habe eigentlich während der gesamten Übertragung weitgehend die Fassung bewahrt. Ich empfinde es als extrem schwierig, über Kinder zu sprechen, die in Konflikte verwickelt sind. Mein Herz war schlichtweg voller Mitleid und Emotionen. Ich habe es durch das Interview geschafft, aber als es eigentlich bereits vorbei war, war immer noch eine Kamera auf mich gerichtet. Alle meinen Kollegen haben mich anschließend derart traurig angesehen, da bin ich einfach zusammengebrochen. Aber meine Tränen sind unwichtig, was wirklich zählt, sind die Tränen, die momentan in Gaza vergossen werden.

profil: Wie nehmen Sie die Lage im Gaza-Streifen momentan wahr?
Gunness: Wir sind von der Lage in Gaza völlig überwältigt. Wir betreuen 225.000 Menschen in 86 Lagern. Unsere Unterkünfte sind übervoll. Acht unserer Kollegen wurden bereits getötet, die Situation ist einfach desaströs. Wir haben wirklich die Grenze unserer Belastbarkeit erreicht. Deshalb fordern wir vom UN-Sicherheitsrat dringend politisches Handeln. Die Unrwa hat nicht die Kapazitäten, um die humanitären Konsequenzen der militärischen Entscheidungen weiterhin abzufangen.

profil: Waren Sie selbst vor Ort, als die Unrwa-Schule in Dschabalija, im Norden von Gaza, bombardiert wurde?
Gunness: Nein, ich bin mir allerdings auf entsetzliche Weise bewusst, welchen Preis die Menschen in dieser Schule bezahlen mussten. Und es erstaunt mich, dass Menschen - darunter vielen Frauen und Kindern - einfach das Recht, zu leben, verweigert wird. Kinder, die in den Klassenzimmern der Schule neben ihren Eltern auf dem Boden schliefen, wurden getötet. Es ist vollkommen inakzeptabel, was hier passiert.

profil: Gab es Warnungen seitens der israelischen Armee, bevor die Schule bombardiert wurde?
Gunness: Wir haben unsererseits die israelische Armee mehrmals gewarnt, sich von der Schule fernzuhalten. Wir haben ihnen 17 Mal die genauen GPS-Koordinaten der Schule übermittelt. Ebenso oft haben wir sie dar-über informiert, dass sich 3300 Menschen in dieser Schule befinden. Wir waren noch am Abend vor dem fatalen Angriff, bis 21 Uhr, mit dem Militär in Kontakt. Das Militär wusste also genau, was in der Schule vor sich ging.

profil: Laut einer Armeesprecherin in Tel Aviv hat eine vorläufige Untersuchung des Vorfalls ergeben, dass militante Palästinenser in der Nähe der Schule Mörsergranaten auf israelische Soldaten abgefeuert hätten.
Gunness: Ich weiß nicht, ob das wirklich der Fall ist, die Armee hat zumindest angekündigt, den Fall weiter untersuchen zu wollen. Wir haben Beweise, die belegen, dass keine Hamas-Kämpfer in der Schule waren - dass wir aber drei Mal von israelischer Artillerie getroffen wurden. Das ist eine ernste Verletzung des internationalen Rechts.

profil: Es wurden allerdings bereits mehrmals Waffen in Unrwa-Schulen gefunden. Wie konnte es so weit kommen?
Gunness: Die betreffenden Schulen waren wegen der Sommerferien geschlossen und daher auch verlassen. Die Waffen wurden bei einer Routineinspektion der Unrwa gefunden. Wir haben alle Konfliktparteien, auch die Israelis, über diesen Fund informiert. Wir haben die Waffen in sichere Gebiete gebracht, damit keine Zivilisten in ihre Nähe kommen können. Für das weitere Vorgehen haben wir nun um internationale Unterstützung angesucht.

Christopher Gunness
ist Sprecher des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge und arbeitet seit dem Jugoslawien-Krieg für die Vereinten Nationen. Zuvor war er lange Jahre als BBC-Journalist tätig.