Christoph Ransmayr: Leuchtschrift

Christoph Ransmayr: Leuchtschrift

Christoph Ransmayr: Leuchtschrift

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Leben wir tatsächlich in finsteren Zeiten? In Europa scheint es trotz eines noch nie dagewesenen Reichtums und geschenkter, von vorangegangenen Generationen erkämpfter Freiheiten immer seltener und an immer weniger Orten hell zu werden. Ach, Europa.

Jahrhundertelang hat dieser Kontinent die fernsten Länder und Kulturen überrannt, ausgebeutet oder zerstört und damit den eigenen Wohlstand begründet. Spanische und portugiesische und niederländische und englische und französische und deutsche und belgische und italienische und immer weitere und noch mehr Kolonialherren haben im Rest der Welt willkürlich Grenzen durch uralte Einheiten gezogen, haben Landesbewohner vertrieben, versklavt, verstümmelt oder erschlagen und Handelsstationen, Minen und dann auch Massengräber eröffnet – und fielen schließlich im Streit über das unermessliche Raubgut übereinander her.

Als ökonomische oder militärische Verlierer nach zwei Weltkriegen von den Schlachtfeldern gejagt, marschierten die europäischen Nationen schließlich im Gleichschritt mit amerikanischen oder russischen Weltherrschaftsstrategen in eine Zukunft, in der sich die ehemaligen Feinde unter dem Namen einer angeblich friedlichen Europäischen Union zusammenschließen sollten.

Was für eine Schande, dass die glaubwürdigsten Europäer nun nicht die sogenannten Volksvertreter, sondern jene Menschen sind, die sich auf Bahnhöfen versammeln

Aber nun, seit diese Union zur letzten Zuflucht für mehr und mehr Vertriebene, Verzweifelte und andere Nachkommen der Opfer europäischer Gier und Zerstörungswut geworden ist, will Europa von den Lieferanten seines Reichtums nichts mehr wissen und hat sogar vergessen, dass auch ein Großteil der europäischen Bevölkerung in periodischen Abständen aus Flüchtlingen bestand. Allein auf nationalen Vorteil und Gewinn bedachte europäische Regierungen liefern täglich neue empörende Begründungen, warum gegen das von ihren Völkern mitverursachte Elend Stacheldraht gezogen, Mauern gebaut und schwerbewaffnete Grenzschützer aufgeboten werden sollen. Politische Parteien, die sich für ihre gnadenlosen, monströs plakatierten Programme mit beiden Händen aus Steuermitteln bedienen, versäumen keine Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass alle Boote voll und sämtliche Mittel erschöpft seien. Dabei erreicht von den 60 Millionen Menschen, die in unseren Tagen weltweit auf der Flucht sind, nur der einhundertste Teil Europa.

Was für eine Schande, dass die glaubwürdigsten Europäer nun nicht die sogenannten Volksvertreter, sondern jene Menschen sind, die sich auf Bahnhöfen und entlang der Straßen und vor Flüchtlingslagern und anderen Stationen des Elends versammeln, um den Verzweifelten mit Nahrung, Wasser, Kleidung wenigestens über den Tag hinwegzuhelfen. Jeder Schritt, jeder Handgriff, den ein einziger dieser wahrhaft freien Bürger aus Mitgefühl tut, trägt mehr zur Rettung der europäischen Menschlichkeit bei als das leere Gerede von Programmeuropäern in den nationalen, von Geschäftsinteressen und primitivstem Heimatgeschwafel beherrschten Parlamenten. Heimat ist immer nur ein schmaler Landstrich, der durch die Kindheit und durch die Herzen führt. Jenseits davon ist jeder fremd, ist jeder Ausländer oder Flüchtling und auf Hilfe und Beistand von Eingeborenen angewiesen.

Die in Österreich lebenden und arbeitenden Künstler werden mit ihrer Leuchtschrift niemandem vorschreiben, wie und wo ein Mensch einem anderen zu helfen hat, sie wollen sich aber den beherzten Helfern im öffentlichen Raum anschließen, damit es wenigstens entlang von Fluchtwegen, anders als in verfinsterten Parlamenten, wieder heller wird.

Zur Person

Der Schriftsteller Christoph Ransmayr („Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die letzte Welt“, „Morbus Kitahara“, „Der fliegende Berg“, „Atlas eines ängstlichen Mannes“, „Gerede. Elf Ansprachen“ u. a.) hat diesen Text für das Ausstellungsprojekt „Leuchtschrift“ verfasst, das auf seine Idee zurückgeht. Dafür wurden in Österreich lebende und arbeitende Künstler unterschiedlicher Genres eingeladen, Statements zur aktuellen Flüchtlingsthematik ­abzugeben, die gemeinsam als Installation an den Wänden der Galerieräume zum Leuchten gebracht werden. „Leuchtschrift“ ist noch bis 9. Jänner 2016 in der Salzburger Galerie Ropac zu sehen.