Polizeibeamte nehmen eine Frau während einer Demonstration am 13. März 2022 in Moskau gegen den Krieg in der Ukraine fest.

Flucht aus Russland: „Dieses Land gehört nicht mehr zu mir“

Fliehen, schweigen oder Konsequenzen fürchten. Zwei YouTuber erzählen von einem anderen Russland – von dem, das Putins Krieg ablehnt.

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Während Wladimir Putin seine Version vom Ukraine-Krieg am Montag, 9. Mai, mit einer Militärparade feierte, gibt es auch ein anderes Russland. Junge Menschen, ob bekannt wie die Pussy Riot-Musikerin Maria Aljochina, oder nicht, verurteilen den Krieg - und verlassen ihr Land. profil hatte in den letzten Wochen Kontakt mit zwei YouTubern, die auf ihren Kanälen ihre Haltung kundtun. Ihre Geschichte gibt Einblick in das Leben jener Menschen, die sich in Putins Russland gegen den Krieg stellen.

Eine Demonstration gegen den Krieg

Zakhar, ein Student der Linguistik an der Moskauer Universität, kommt aus Komsomolsk am Amur im Fernosten Russlands. Als er am 24. Februar durch Telegram-Chats vom Krieg erfuhr, ging er noch am selben Abend auf die Straße. Der Puschkin-Platz, in Moskau ein beliebter Ort für Demonstrationen, war bereits Stunden vor Beginn der Proteste abgesperrt; Leute, die aus der U-Bahn-Station ausstiegen, wurden verhaftet, „egal ob man irgendwelche Symbole oder Slogans gegen den Krieg bei sich trug“, erzählt der 20-Jährige, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will.

profil: Am 24. Februar protestierten Sie gegen den Krieg. Was war da los?
Zakhar: Die Polizisten begannen, uns von allen Seiten zu blockieren. Wir standen auf einer schmalen Straße. Plötzlich fuhr ein Polizeiwagen auf uns zu, ich war ganz vorn in der Menge. Sie stiegen aus dem Auto und begannen, mir hinterherzulaufen. In diesem Moment ist mein Adrenalinspiegel in die Höhe geschossen. Mir war klar: Wenn sie mich verhaften, dann war es das. Junge Leute versuchen sie in erster Linie von der Universität zu verweisen, dann wird man in die Armee eingezogen und in die Ukraine geschickt. Oder ins Gefängnis.

Das Organisieren von Protesten ist in Russland eine Straftat. Zakhar sagt, für die Zusammenkunft war kein Organisator nötig gewesen. Er und viele andere wussten, sie müssten zum beliebten Demo-Hotspot, dem Puschkin-Platz, gehen. Die meisten trafen so wie er selbst am Abend nach der Arbeit dort ein. Zwischen 1000 und 2000 Moskauerinnen und Moskauer skandierten schließlich: „Niet voyna!“ Nein zum Krieg.

profil: Wie konnten Sie der Polizei entkommen?
Zakhar: Ich rannte so schnell wie noch nie. Ich kam zu einer Kreuzung, lief geradeaus. Da stiegen auf einmal zwei weitere Polizisten aus einem Wagen. Ich weiß noch, einer war groß und schlank, der andere ziemlich klein und dick. Der Kleine fing an zu schreien und mich zu beschimpfen. Ich drehte mich um und sah vier Polizisten auf mich zulaufen. Ich konnte weder nach links noch nach rechts. Ich hatte schon fast aufgegeben. Ich war müde. Meine Muskeln schmerzten. Ich erinnere mich an jede Sekunde. Gedanken rasten durch meinen Kopf: meine Kindheit, meine Teenagerzeit und schließlich mein Austauschprogramm in den USA, wo ich mit meiner Gastmutter im Fernsehen American Football geschaut hatte. Einmal versuchte ein Spieler, den Verteidiger zu täuschen. Er rannte auf ihn zu und drehte im letzten Moment nach rechts. Ein Geistesblitz: Genau jetzt werde ich das Gleiche tun. Und irgendwie hat es funktioniert. Es war der furchterregendste Moment meines Lebens.

profil: Was geschah danach?
Zakhar: Das einzige Geräusch, das auf der Straße zu hören war, war das Geräusch meines Atems. Ich sah zwei Polizisten, etwa 30 Meter von mir entfernt, die mich beobachteten. Sie sahen mich auch. In dem Moment hielt ich den Atem an. Mein Rücken nahm die vornehmste Haltung, die man sich vorstellen kann, ein, und ich überquerte die Straße. Ich tat so, als sei ich kein Demonstrant.

profil: In einem Video auf Ihrem YouTube-Kanal „Zack the Russian“ erzählen Sie von dem Moment, als Sie erkannt haben, dass Russland „nicht mehr Ihr Land“ sei. Können Sie ihn uns beschreiben?
Zakhar: Das war, als ich nach dem Protest zur U-Bahn-Station ging. Ich erinnere mich an diesen Satz, irgendwie tauchte er in meinem Gehirn auf: Dieses Land gehört nicht mehr zu mir. Er verfolgte mich den ganzen Weg nach Hause.

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Wie entgeht man der Zensur?

Natasha K. studiert Sprachwissenschaften in Chabarowsk, einer russischen Stadt nahe der chinesischen Grenze. Geboren wurde sie eine neunstündige Zugfahrt weiter südlich, in der Kleinstadt Spassk. Vor drei Jahren startete sie ihren YouTube-Kanal, „Natasha’s Adventures“, es ist zugleich ihr Hobby und ihr Job. In ihren Videos spricht die 22-Jährige von der russischen Kultur, Sprache und Traditionen. Seit Kurzem aber drehen sich ihre Inhalte um etwas, das in ihrer Heimat nicht selbstverständlich ist: Sie spricht über den Krieg. Natasha möchte sich nicht verstecken, fast trotzig besteht sie darauf, auch ihr Gesicht in dieser Story zu zeigen. Nur ihren Nachnamen will sie nicht öffentlich machen. Im Gespräch mit profil muss sie über jedes Wort zweimal nachdenken. Seit dem Krieg herrschen neue Gesetze.

profil: Wie gefährlich ist dieses Interview für Sie?
K.: Ich habe mich entschieden, in diesem Interview nicht gänzlich anonym zu sein, weil es so demütigend ist. Es ist verrückt, ich mache mir Gedanken über einzelne Wörter, über die kleinsten Dinge. Aber bald werde ich an einem sicheren Ort sein, dann werde ich nicht mehr solche Angst haben.

Natasha muss schon länger die vielen Zensurgesetze beachten. „Es gibt so viele“, sagt sie und erzählt vom Fall Yulia Tsvetkova, die in einem Theaterstück mit dem Titel „Pink und Blau“ Geschlechterstereotypen infrage stellte. Oder von der Studentenzeitschrift „Doxa“, gegen die nun Gerichtsverfahren laufen, weil die Redakteurinnen und Redakteure darin zu Protesten aufriefen. Sie muss vorsichtig sein. Ihre Waffe gegen Zensur: Gefühle. Über ihre Gefühle zu sprechen, sei sicher. 

K.: Es ist schwer, mich selbst zu zensieren. Es ist erniedrigend. Es ist so ekelhaft für mich, den Begriff „spezielle Militäroperation“ zu verwenden. Aber ich versuche es. Ich kann nicht einfach offen sagen, was ich will, ich kann nur meinen Kummer ausdrücken und einige zweideutige Begriffe verwenden. Ich hoffe, dass die Leute zwischen den Zeilen lesen. 
profil: Was bedeutet es, dagegen zu protestieren?
K.: Wenn man protestiert, setzt man sein Leben, seine Freiheit aufs Spiel. Es ist nicht erlaubt, Leute zu Protesten aufzurufen, dafür bekommt man die Hauptstrafe. Entweder muss man Geldstrafen zahlen oder man kommt ins Gefängnis, bis zu zehn Jahren.

profil: Müssen Sie sich sehr anstrengen, um sich im Alltag an diese Gesetze zu halten?
K.: Ja. Es ist wie ein Pokerspiel, bei dem dich dein Gegner betrügt und du es nie weißt. Unter Freunden ist es kein Problem. Aber online ist es anders. Ich habe einen Beitrag gepostet, dass ich die Vorgänge nicht unterstützen würde. Dann habe ich ihn gelöscht. Dann habe ich die ukrainische Flagge gepostet – und auch gelöscht. Es hätte mich in Gefahr bringen können. In den ersten Tagen war ich so paranoid. Ich habe sogar Klangwörter auf eine andere Weise gelesen. Wenn ich zum Beispiel das Wort „vada“ (Wasser) sehe, lese ich „voyna“ (Krieg). Ich lese also Wasser als Krieg, weil es so dein Denken bestimmt.

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Raus aus Russland

Bald nach dem Vorfall bei der Demonstration beschloss Zakhar, seine Heimat zu verlassen.

profil: Warum gingen Sie gerade nach Georgien?
Zakhar: Weil man als Russe nicht in viele europäische Länder einreisen kann, man braucht ein Visum. Ich bekomme Kommentare von Abonnentinnen und Abonnenten meines YouTube-Kanals, die ein freies Zimmer oder gar ein freies Haus haben, in dem ich unbegrenzt wohnen dürfte. Das wäre schön, doch ich glaube, im Moment will kein europäisches Land Russen aufnehmen.

In Georgien fühlt sich Zakhar sicher. Er darf dort ein Jahr lang bleiben. Wenn er danach für einen Tag Georgien verlässt, startet ein neues Visum. So könnte er theoretisch für immer dort leben. Er hat aber Pläne, in den USA oder Kanada Politik zu studieren. So kann er vielleicht später einmal helfen, in Russland eine Demokratie aufzubauen. Abgesehen davon gibt es für das theoretische „Für immer“ keine Garantie. Der georgische Premierminister Irakli Gharibaschwili gilt als russlandfreundlich, Kritikerinnen und Kritiker werfen seiner Partei „Georgischer Traum“ vor, homophobe und antiwestliche Stimmung zu schüren. Zakhar schließt eine Verfolgung nicht für immer aus.

profil: Was war die größte Herausforderung an der Flucht?
Zakhar: Die Sanktionen. Im Moment gibt es in Georgien nur eine Bank, die es Russen erlaubt, ein Bankkonto zu eröffnen, die Credit Bank. Der Prozess ist außerordentlich bürokratisch. Man muss eine Erklärung unterschreiben, dass das Geld auf dem Konto nicht von Putin oder der russischen Regierung stammt. Ich habe mich vor einem Monat beworben und  immer noch keine Bankkarte bekommen. Meine größte Sorge war das Geld. Ich hatte all meine Ersparnisse für die neue Wohnung in Moskau verbraucht. Ich startete einen Spendenaufruf auf meinem YouTube-Kanal. Innerhalb von zwei Stunden hatte ich die benötigte Summe zusammen. Ich wusste auch nicht, ob ich eine Wohnung finden würde. Ein Freund hatte aber Verwandte in Tiflis, sie haben mir geholfen. Momentan ist es noch schwierig, mich zurechtzufinden. Die georgische Sprache ist unverständlich für mich. Ich hatte auch ein wenig Angst vor Russophobie.

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Was sagt die Familie?

Die Kluft zwischen den einen, die Putin und seinen Medien vertrauen, und den anderen, die mittels anderer Informationsquellen die Propaganda durchschauen, geht mitten durch die Familien. Wie mit den eigenen Eltern umgehen, wenn man auf verschiedenen Seiten steht?

profil: Was hat Sie dazu gebracht, das Narrativ russischer Medien zu hinterfragen?
Zakhar: Als ich 15 war, entdeckte ich auf YouTube Videos zur Geschichte Russlands und die von Aleksei Nawalny (dem inhaftierten Oppositionellen, Anm.) über Korruption in Russland. Und dann habe ich einfach angefangen, mich damit zu beschäftigen. Es war wie ein Puzzle: die Geschichte Russlands, die geltenden Gesetze und die Erzählung der Regierung in den Medien. Nichts passte zusammen. Mir wurde bewusst, dass wir in einer Propaganda leben.

Zakhar diskutiert nicht mehr mit seinen Verwandten über sein Weltbild. Er ist nicht wütend. Er versteht, dass es sie zu viel Kraft kosten würde, die Propaganda, die sie jahrzehntelang für wahr hielten, zu reflektieren. Es ist aber ein schwieriges Thema. Seine Mutter hinterließ auf sein letztes Video folgenden Kommentar: „Ich bin mit dieser Information nicht einverstanden.“

Zakhar: Am Tag nach der Demonstration habe ich meiner Mutter nicht erzählt, dass ich dort war, weil sie wütend gewesen wäre. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich dieses Land nicht mehr unterstützen kann. Dass ich mich unterdrückt fühle. Zuerst hat sie mir nicht geantwortet. Dann kam ein SMS. „Zakhar, warum verlässt du wie eine Ratte ein sinkendes Schiff?“ Ich habe geantwortet: „Warum läufst du nicht von diesem sinkenden Schiff weg, wenn du in Sicherheit sein willst?“ Ein paar Tage später rief sie mich an und sagte: „Du bist ein schlauer junger Mann. Du wirst das schon hinkriegen.“

Auch Natasha K. steht in ihrer Familie isoliert da.

profil: Ab wann erwachte bei Ihnen die Skepsis bezüglich Putins Regime? 
K.: Ab meinen Teenagerjahren. Als ich aus meiner Kleinstadt nach Chabarowsk gezogen bin, habe ich angefangen, an der Universität zu studieren, und das Internet hat mich sehr beeinflusst, etwa die Videos von Nawalny. Durch das Internet siehst du, wie das Leben in anderen Ländern ist. Man vergleicht und sieht: In meinem Land stimmt etwas nicht. Ich weiß nicht mehr genau, welche Informationen ich als Kind in den Nachrichten bekam, aber ich erinnere mich an meine Gefühle. Als die Band Pussy Riot 2012 in einer Moskauer Kathedrale protestierte, war ich angeekelt. Einfach deshalb, weil sich der Moderator der Nachrichtenshow angewidert zeigte. Einige Jahre später sah ich ein Interview mit einem der weiblichen Bandmitglieder, und ich war überrascht. Sie war ein ganz normaler Mensch. Als Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewann, war ich ebenfalls empört. Heute weiß ich, wie hart die LGBT-Gemeinschaft für ihre Akzeptanz kämpfen musste. Es gab eine Phase, in der ich über Feministinnen gelacht habe, jetzt bin ich voll und ganz eine von ihnen. Aber wie viele Kinder werden von dem Hass, der in ihre Köpfe gepflanzt wird, getäuscht?

profil: Können Sie mit Ihrer Familie diskutieren?
K.: Mein Vater ist Putin-Anhänger. Er ist kein aggressiver Befürworter, er redet mit mir. Wir führen vernünftige Gespräche. Mit meiner Mutter ist es genauso. Meine Eltern hatten noch nie in ihrem Leben das Gefühl, dass sie die Politik beeinflussen könnten. Ich bekomme keine Unterstützung von ihnen. Aber es könnte schlimmer sein. 

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Die Zukunft

Was erhoffen sich Zakhar und Natasha K. jetzt, wo sie sich in ihrer Heimat nicht mehr zu Hause fühlen?

profil: Sehen Sie eine Zukunft in Russland?
K.: Nicht für mich selbst. Aus Russland wegzuziehen, war schon immer mein Ziel. Mein Plan seit meinen Teenagerjahren war, das Land zu verlassen, sobald ich meinen Uni-Abschluss habe, das ist in zwei Monaten der Fall. Ich will ein neues Leben im Ausland beginnen. Und ich möchte mich sicher fühlen. Ich fühle mich hier nicht sicher. Es ist traurig, dass ich gehen muss.

Genaue Zahlen der russischen Ausgewanderten sind schwierig zu ermitteln. Beliebte Fluchtländer sind postsowjetische Länder wie Georgien, Armenien und Aserbaidschan, aber auch die Türkei und einige Länder in Asien, etwa Vietnam. Laut dem georgischen Innenministerium reisten im März mehr als 30.000 Russinnen und Russen in Georgien ein. Das Portal okrussians.org zählt mindestens 300.000 Menschen, die kürzlich Russland verlassen haben.

profil: Was gibt Ihnen Hoffnung für die Zukunft, Herr Zakhar?
Zakhar: Menschen in Russland, die sich für Demokratie und nicht für Krieg und Diktatur aussprechen. Das sind die Menschen, mit denen wir ein neues Land aufbauen werden.

Elena Crisan

Elena Crisan

Wenn sie nicht gerade für den Newsletter "Ballhausplatz" mit Politiker:innen chattet, schreibt sie im Online-Ressort über Wirtschaft und Politik.