Interview

Golineh Atai: „Die Frauen im Iran stellen die Systemfrage“

Erlebt die Islamische Republik Iran eine Revolution der Frauen? Ein Gespräch mit der iranisch-deutschen Journalistin Golineh Atai.

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„Iran – die Freiheit ist weiblich“. Der Titel ihres Buches liest sich dieser Tage wie eine Prophezeiung. Erlebt das Land, aus dem ihre Mutter 1980 flüchten musste, eine Revolution der Frauen?
Golineh Atai
Bei den Unruhen, die wir seit zwölf Tagen im Iran sehen, sind nicht nur Frauen auf der Straße. Es sind auch sehr viele Männer dabei. Aber die Frauen nehmen zweifellos eine Führungsrolle ein. Sie stehen vor den Männern. Sie ziehen ihre Kopftücher herunter, verbrennen sie und schneiden sich die Haare ab. Dabei werden sie von Tausenden Männern umjubelt. Das sind Szenen, die wir so noch nicht gesehen haben. Nicht nur im Iran, sondern im gesamten Mittleren Osten. Es sind neue Protestformen, die zeigen, dass es progressive Forderungen im Iran gibt.
Begehren diese Frauen nur gegen den Schleier auf?
Atai
Nein, dieser Protest geht über den staatlichen Kopftuchzwang hinaus. Diese Frauen stellen die Systemfrage. Das ist schon in den ersten Tagen deutlich geworden. Sie fordern den Sturz des Regimes und das mit einer neuen Wucht und Vehemenz. Da sind Frauen, die auf Polizeiautos springen und rufen: „Komm, Schwester! Sag es! Wir wollen keine Islamische Republik mehr!" Noch einmal: Das sind Bilder, die wir so noch nicht gesehen hatten aus dem Iran.
Proteste gab es im Iran auch davor: die sogenannte „Grüne Bewegung“ 2009 gegen Wahlfälschung oder die Unruhen 2019 wegen der hohen Benzinpreise. Was ist diesmal anders?
Atai
Im Jahr 2019 hatte sich der Protest an der verheerenden wirtschaftlichen Lage und der Verarmung weiter Schichten entzündet. Damals waren die Forderungen der Demonstranten noch in ein religiöses Gewand gehüllt. Die Menschen riefen „Allahu Akbar“, also „Gott ist groß“. Jetzt sehen wir eine sehr klare und direkte Sprache, die sich nicht mehr alter Slogans bedient. Der Slogan „Habt keine Angst, wir sind alle zusammen“ wurde umgewandelt in ein „Habt Angst!" Und er ist in Richtung der Sicherheitskräfte gerichtet. Diese junge Generation ist nicht mehr bereit, Pfand an das Regime zu zahlen. Diese Proteste werden weitergehen, auch wenn es jetzt vielleicht erst einmal ruhiger werden wird.
Das Regime hat eine Internetsperre verhängt. Können Frauen überhaupt noch Videos und Botschaften auf Instagram oder Twitter posten?
Atai
Vereinzelt gibt es immer noch Videos. Viele sind von Instagram zu Twitter gewandert, weil es dort einfacher ist, Botschaften zu teilen. Der Kontakt mit Menschen vor Ort ist immer noch möglich, aber das, was jetzt gerade passiert ist eine groß angelegte Verhaftungswelle. Von Studentinnen, Anwälten, Aktivisten und Journalistinnen. Zwei Protagonistinnen aus meinem Buch wurden ganz am Anfang der Proteste verhaftet. Eine erzählt, dass sie in einem völlig überfüllten Gefängnis mit rudimentärer Versorgung gelandet ist. Demonstrantinnen haben Angst, im Gefängnis gefoltert oder sogar erschossen zu werden. Zur Internetzensur kommt also zusätzlich der Druck dazu, dass jede und jeder jederzeit abgeholt werden kann. Vor diesem Hintergrund finde ich es bewundernswert, dass es immer noch viele Solidaritätsbekundungen gibt. Von Kulturschaffenden aber auch seitens ganz normaler Frauen, die in Teheran plötzlich ohne Kopftuch auf die Straße gehen. Dieser zivile Ungehorsam lässt sich nur schwer wieder einfangen.
Ihr Buch erzählt die Geschichte des Iran aus der Perspektive mehrerer Frauen. Welcher Form der Diskriminierung sind sie im Alltag ausgesetzt?
Atai
Der Iran steht, was die rechtliche Diskriminierung von Frauen angeht, an einer der letzten Stellen weltweit. Die staatlichen Bekleidungsvorschriften sind die direkteste Erfahrung von Diskriminierung. Frauen, deren Kopftuch beim Autofahren verrutscht, können geblitzt werden. Dann kann es sein, dass Sie eine Strafzahlung leisten müssen oder dass das Auto für mehrere Wochen konfisziert wird. Das ist mehreren meiner Bekannten passiert. Frauen im Iran müssen sich Freitagspredigten anhören, bei denen ranghohe Geistliche ganz offen zu Gewalt gegen schlecht verschleierte Frauen aufrufen. Frauen müssen immer noch eine Erlaubnis einholen, wenn sie auf Reisen gehen. Im Falle einer Scheidung bekommen sie nicht automatisch das Sorgerecht. Wenn sie sich überhaupt scheiden lassen dürfen. Denn es gibt keine weltlichen Gerichte, sondern nur Gerichte, denen Kleriker als Richter vorsitzen.

Zur Person

Golineh Atai, geboren 1974 im Iran, ist eine deutsche Fernseh-Korrespondentin, die jahrelang für ARD und WDR aus Russland und dem Nahen Osten berichtet hat. Seit 2022 leitet sie das ZDF-Büro in Kairo. 2014 wurde sie als Journalistin des Jahres in Deutschland ausgezeichnet.

Sie wurden 1974 in Teheran geboren, flohen aber als Fünfjährige mit ihrer Mutter nach Deutschland. Ihre Mutter wollte nicht, dass ihre Tochter in einem so repressiven System aufwächst. Sind Sie ihr heute dankbar?
Atai
Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, auch wenn ich weiß, dass die Emigration für sie schmerzhaft war. Heute ist meine Familie auf der ganzen Welt verstreut. Nur noch die alte Generation ist im Iran geblieben. Selbst in meiner Familie väterlicherseits, die viel religiöser geprägt ist, beobachte ich, dass viele auswandern, insbesondere die Jüngeren. Tatsächlich hat die Frauenfrage in meiner eigenen Familiengeschichte eine ganz entscheidende Rolle gespielt. In der Schule wurde ich oft gefragt: Woher kommst du? Warum bist du hier? Immer wenn meine Mutter dabei war, dann hat sie gegenüber dem deutschen Lehrpersonal geantwortet: „Meine Tochter ist hier, weil wir im Iran ein System haben, dass Mädchen systematisch benachteiligt. Von diesem Zwang wollte ich meine Tochter befreien.“ Das habe ich als Kind mitbekommen und das hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Meine Mutter ist viele Risiken eingegangen. Sie war im Juli 1980 auf einer der letzten Demonstration gegen die Zwangsverschleierung.
Auch heute ist das Risiko groß, geschlagen, verschleppt oder sogar getötet zu werden. Schenken die Demonstrantinnen trotzdem Hoffnung?

 

Atai
Auf der einen Seite hat man Sorge um sie. Auf der anderen Seite ist das, was sie tun, unglaublich ermutigend. Auf meinen Buchpräsentation bin ich oft gefragt worden: Hast du Hoffnung?
Und, was haben Sie geantwortet?
Atai
Unzählige Male habe ich beim Signieren diesen einen Satz auf die erste Seite geschrieben: „Manchmal ist das Hoffnungsvollste, dass du tun kannst, ohne Angst in die Dunkelheit zu starren.“ Genau das machen die Protagonistinnen meines Buches. Sie spenden Licht, indem sie mit ihrer Form des Protestes und des zivilen Ungehorsams Tausende andere Frauen inspirieren.
Hätten Sie gedacht, dass es am Ende so viele Frauen sein würden?
Atai
Nein, um ehrlich zu sein. Ich habe natürlich festgestellt, dass die Stimmung in der Gesellschaft unglaublich gereizt ist und dass es immer wieder zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen Frauen und Sittenwächtern kommt. Aber dass sich das in so einer Explosion entladen würde, habe ich mir letztes Jahr noch nicht vorstellen können.

 

Mahsa Amini ist zum Symbol des Widerstands geworden. Spielt es eine Rolle, dass sie Kurdin ist?
Atai
Nein, ich kann nicht feststellen, dass es im Iran eine kurdische Sonderrolle gibt. In den letzten Jahrzehnten waren einfach zu viele Frauen von den Vergehen der Sittenpolizei betroffen. Belästigung und Gewalt durch die Sittenwächter sind Erfahrungen, die millionenfach in jeder iranischen Familie passiert sind. Jede iranische Familie kann sich daran erinnern, wie der Vater gedemütigt zur Polizeiwache gehen mussten, um die Töchter freizukaufen. Es gibt zahlreiche Geschichten von meinen iranischen Freundinnen im Westen, die sich an Peitschenschläge und Demütigungen erinnern. Die Geschichte von Mahsa Amini vereint das ganze Land, weil fast jede Familie im Iran solche Erfahrungen gemacht hat. Was ich aber bemerkenswert finde ist, dass viele Aktivistinnen die besondere Rolle von Demonstrantinnen in den kurdischen Gebieten hervorheben. Die politische Tradition des Protests ist dort verwurzelt. Auch der Ruf der Demonstrantinnen im Iran „Frau, Leben, Freiheit!“ geht auf die Kurden zurück.
Welche Rolle spielt es, dass die iranische Diaspora in westlichen Hauptstädten demonstriert?
Atai
Eine große Rolle. Ich habe gestern eine wunderschöne Illustration gesehen. Sie zeigt den Rücken einer Demonstrantin, deren Rücken mit Einschusslöchern übersäht ist. Diese Narben wurden miteinander verwoben, sozusagen als Symbol für die Verbundenheit iranischer Städte mit der Diaspora. Das Bild soll ausdrücken: Der Schmerz, den wir erfahren, ist ein gemeinsamer Schmerz. Es wird sehr aufmerksam wahrgenommen, was im Westen passiert. Die Botschaft der Menschen ist: Lasst uns hier nicht allein in der Dunkelheit sitzen, sondern seid diejenigen, die unsere Botschaft im Westen unters Volk bringen. Und das haben tatsächlich ganz viele Iranerinnen und Iraner in der Diaspora gemacht.
Wie kann die Politik Solidarität mit den Menschen signalisieren?
Atai
Es gibt viele Möglichkeiten, an die wir bislang erstaunlicherweise noch nicht gedacht haben. Sehr viele Töchter und Söhne der Machtelite leben, arbeiten und studieren im Westen. Wie kommt das eigentlich, dass die so einfach eine Einreiseerlaubnis bekommen, etwa in Kanada oder den USA, wo sehr viele Iranerinnen und Iraner leben, aber auch in Deutschland. Es stellt sich aber auch die Frage, wie wir mit Geldwäsche umgehen. Es gibt sehr viele Anzeichen dafür, dass Geld des Regimes im Westen gewaschen wird. Gerade eben hat die Hackergruppe „Anonymous“ Dokumente dazu erhalten. Wir können aber auch Konten und Vermögen einfrieren. Es gibt sehr viele Möglichkeiten. Das zeigt Schweden. Dort wurde ein Straftäter, der 1988 an einem Massaker im Iran beteiligt war, zu lebenslanger Haft verurteilt. Das sendet ein starkes Signal: Die Straftäter der Islamischen Republik Iran können überall verurteilt werden.

Das Buch

Golineh Atai war fünf Jahre alt, als sie mit ihren Eltern den Iran verließ – aber das Land und seine Entwicklung haben sie immer beschäftigt. Wie der Gottesstaat der Mullahs das Land im Griff hält und jede demokratische Regung erstickt, zeigt sie in ihrem Buch, das den Iran auf ganz besondere Weise porträtiert: aus dem Blickwinkel von neun Frauen.

Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. Gebunden, 320 Seiten, 22,00 EUR

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.