In Gaza hungern Menschen. profil hat mit einer Mutter gesprochen, die verzweifelt nach Essen sucht, und mit Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, die am Helfen gehindert werden.
Wenn Fatima (Name von der Redaktion geändert) eine Sprachnachricht an profil schickt, dann meldet sie sich stets mit dem Satz: „Ich bin noch am Leben.“ Sie sei den ganzen Tag auf der Suche nach Essen, erzählt die 38-jährige zweifache Mutter. Wenn sie es schafft, ein bisschen Mehl aufzutreiben, backt sie ihren Töchtern kleine Fladen über dem Feuer. Danach ist der Hunger der Mädchen noch immer nicht gestillt, doch Fatima kann ihnen nicht mehr geben. Für zwei Kilogramm Mehl hat sie zuletzt 90 Dollar bezahlt. Sie sagt, dass sie am Verhungern ist.
„Was habe ich getan, dass mir all das passiert?“, fragt Fatima.
Was habe ich getan, dass mir all das passiert?
Nahrungsmittel in Gaza kosten laut dem israelischen Ökonomen Yannay Spitzer von der Hebrew University of Jerusalem 50- bis 100-mal mehr als vor Kriegsbeginn. „Das gab es noch nie, nicht einmal während der Hungersnot in Irland im 19. Jahrhundert“, sagte er kürzlich zum US-Sender CNN.
Natasha Davies sieht die Folgen davon. Einmal pro Tag macht die Krankenpflegerin, die für die NGO Ärzte ohne Grenzen arbeitet, einen Rundgang durch ihr Zeltlager. Es liegt neben einem Feldspital in Deir al-Balah, einer Stadt in Zentral-Gaza, in die vergangene Woche israelische Soldaten einrückten. „Es gibt mittlerweile keine einzige Person mehr im Lager, die nicht unterernährt ist“, sagt Davies.
Die Krankenpflegerin arbeitet für die NGO Ärzte ohne Grenzen.
Die Menschen haben schon zuvor Hunger gelitten. Aber jetzt haben wir einen Punkt erreicht, an dem man von absichtlichem Aushungern sprechen muss
Natasha Davies
Die Anzahl jener, die moderate bis akute Unterernährung aufweisen, habe sich verdreifacht, bei ihren Rundgängen sehe sie dehydrierte Menschen, Kinder mit geschwollenen Bäuchen und mit Wassereinlagerungen an den Füßen. Nur einmal am Tag gibt es eine kleine Mahlzeit, zumeist Reis.
„Es gibt keine Politik des Aushungerns. Es gibt keinen Hunger in Gaza“, sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Anfang der Woche.
Mehr als 100 Hilfsorganisationen, darunter Ärzte ohne Grenzen, widersprechen. „Die Menschen haben schon zuvor Hunger gelitten. Aber jetzt haben wir einen Punkt erreicht, an dem man von absichtlichem Aushungern sprechen muss“, sagt Davies im Gespräch mit profil.
Es drohe das „schlimmste Szenario einer Hungersnot“, hieß es am Dienstag auch von der internationalen Initiative zur Überwachung von Unterernährung. Damit die von den UN und der WHO unterstützte Organisation eine formelle Hungersnoterklärung herausgeben kann, braucht sie allerdings Daten, die wegen des fehlenden Zugangs zu Gaza nicht verfügbar sind.
„Gaza ist ein Friedhof für Kinder geworden“, sagt Ricardo Pires, der als Pressesprecher für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef arbeitet und eben von einer Reise aus Gaza zurückgekehrt ist. Zwei Tage lang hat Pires mehrere Krankenhäuser an unterschiedlichen Orten in Gaza besucht. „Mehr als 18.000 Kinder sind in diesem Krieg bereits gestorben. Jeden Tag kommen rund 28 weitere hinzu – eine gesamte Schulklasse. Ich habe so etwas in meiner Zeit bei Unicef noch nie erlebt“, sagt er.
Laut Unicef sind mittlerweile im Gazastreifen alle Kinder unter fünf Jahren, das sind mehr als 320.000, von akuter Mangelernährung bedroht. Vergangene Woche gingen Fotos von bis auf die Knochen abgemagerten Kindern um die Welt.
Pires arbeitet als Pressesprecher für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef). Profil erreicht ihn am 31. Juli, einen Tag, nachdem er aus Gaza zurückgekehrt ist.
Es bräuchte 500 bis 600 Lastwagen pro Tag. Derzeit sind es laut UN-Angaben durchschnittlich nur 100.
Ricardo Pires
Der internationale Druck steigt
Das lässt auch Israels Verbündete nicht kalt: Frankreich und Kanada kündigten an, Palästina als Staat anzuerkennen, und Großbritannien droht damit, sollte Israel bis September keine Waffenruhe verkünden sowie konkrete Schritte in Richtung Zweistaatenlösung unternehmen. Die EU-Kommission drohte mit Sanktionen in der Wissenschaftszusammenarbeit.
Nach internationalem Druck kündigte Israels Armee am vergangenen Wochenende Waffenpausen für Hilfslieferungen über die Grenze und mittels Flugzeugen an. Aber die Hilfe reiche nicht aus, sagt Pires: „Lkw kommen in den Gazastreifen, aber laut unseren Informationen sind es nur rund 100 am Tag über einen einzigen Grenzübergang – zu wenige. Es bräuchte 500 bis 600 Lkw pro Tag.“
Die Videos von Paletten, die an Fallschirmen in Richtung Boden segeln, vermitteln den Eindruck rascher Hilfe, doch Hilfsorganisationen kritisieren das als wenig effektiv und in manchen Fällen sogar tödlich. Die Pakete wiegen bis zu einer Tonne, und wo sie landen, lässt sich schwer koordinieren. Es kommt vor, dass Menschen davon erschlagen werden oder beim Versuch, sie zu bergen, ums Leben kommen.
Dabei gäbe es einfachere Wege, sagt Ricardo Pires: „Unicef allein hat mehr als 1400 Lkw, die in Jordanien, Ägypten und Israel bereitstehen. Wir könnten Gaza mit humanitärer Hilfe fluten, wenn der politische Wille da wäre.“
Im Feldspital der Krankenpflegerin Natasha Davies ist mit Stand Mittwochvormittag noch keine Hilfe angekommen. „Die Situation ist dieselbe wie bei meiner Ankunft im Gazastreifen vor drei Wochen“, sagt sie. Seit die umstrittene amerikanische Gaza Humanitarian Foundation (GHF) im Mai ihre Arbeit aufnahm, kamen laut UN-Angaben mehr als 1000 Menschen bei dem Versuch, an Nahrung zu gelangen, ums Leben. „90 Prozent unserer Patienten der letzten 40 Tage wurden bei den GHF-Stellen verwundet. Manche kommen mit Kopfschüssen oder Bauchwunden zu uns“, sagt der Arzt Fahd Haddad gegenüber profil. Auch ein Neffe Fatimas, der Mutter mit den beiden Töchtern, ist bei einer Essensausgabe durch einen Kopfschuss ums Leben gekommen, erzählt sie. Der 14-Jährige habe versucht, Mehl für seine Familie zu besorgen.
Mittlerweile gibt es in Gaza kaum mehr Orte, an dem sich Menschen sicher fühlen können. Israel hat 88 Prozent des Gebietes zur Militärzone erklärt. Weite Teile der Bevölkerung sind in drei verschiedenen Zonen auf einer Fläche in der Größe Eisenstadts zusammengepfercht. Seit Beginn des Krieges, den die Hamas mit dem Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst hatte, wurden in Gaza laut dem von der Hamas geführten Gesundheitsministerium rund 60.000 Menschen getötet.
Die israelische Armee würde mitunter wahllos das Feuer eröffnen, sagt der freie Journalist Alaa Al-Scharif, der unter anderem für den deutschen Sender ZDF gearbeitet hat. Er berichtet davon, wie israelische Panzer in der südlichen Stadt Chan Yunis Flüchtlinge ins Visier genommen hätten. Ein Autofahrer habe ihn und seinen Kameramann aus der Situation gerettet. Der Journalist schickt das Foto einer Schutzweste mit der Aufschrift „Presse“, die er zu diesem Zeitpunkt getragen habe: „Wir haben diese Westen abgelegt, weil sie sowieso nichts bringen.“ Mehr als 170 Journalisten starben laut der Internationalen Journalisten-Föderation seit Kriegsbeginn in Gaza.
Der freie Journalist hat unter anderem für den deutschen Sender ZDF gearbeitet. Profil hat mit ihm für diesen Artikel Nachrichten über WhatsApp ausgetauscht.
Angaben wie von Alaa Al-Scharif lassen sich unabhängig nicht prüfen, decken sich jedoch mit vorhergegangenen Berichten.
Nach Angaben der UNO sind rund 1,9 Millionen Menschen Binnenvertriebene – das entspricht 90 Prozent der Bevölkerung. Sie schlafen in Zelten, Massenquartieren oder kommen bei Verwandten unter. Denn sie haben kein Zuhause mehr: Mehr als 90 Prozent der Häuser in Gaza sind unbewohnbar, jedes dritte Haus ist komplett zerstört. 18 Krankenhäuser, die Hälfte der Spitäler Gazas, mussten schließen, von den übrigen Krankenhäusern ist kein einziges vollständig funktionsfähig, meldet Ärzte ohne Grenzen.
Dr. Fahd Haddad ist ärztlicher Leiter eines Feldspitals in Zentral-Gaza. Die Gesundheitseinrichtung wird gemeinsam von dem Gesundheitsministerium Gazas und der NGO „Ärzte ohne Grenzen“ betrieben. Zuvor war er Leiter der Abteilung für Notfallmedizin im al-Aksa-Krankenhaus in der Stadt Deir al-Balah, die ebenfalls im zentralen Gazastreifen liegt.
Die Krankenhäuser, die noch in Betrieb sind, sind heillos überfüllt, erzählt der Arzt Fahd Haddad, der für Ärzte ohne Grenzen ein Feldspital in Zentral-Gaza leitet: „Wir müssen Patienten in der Notaufnahme am Boden behandeln, weil wir die Betten woanders brauchen.“ Er schätzt, dass das Gesundheitssystem in einem Monat komplett zusammenbricht, wenn sich nichts ändert: „Menschen werden an kleinen Wunden oder Komplikationen sterben, wenn es dazu kommt.“
Fatima, die Frau mit zwei kleinen Töchtern, hatte noch im Mai zumindest ein paar eiserne Reserven: Bohnen, Thunfisch aus der Dose, auf dem Markt konnte sie manchmal sogar Gurken, Tomaten und Zwiebeln kaufen. Heute sagt sie, dass sie den ganzen Tag unterwegs ist, um Nahrung zu finden. Was sie bekommt, rationiert sie, damit sie ihren Kindern am nächsten Tag zumindest eine kleine Portion geben kann.
seit Juli 2025 im Außenpolitik-Ressort. Davor freier Journalist für APA, Kurier und die deutsche Nahostfachzeitschrift zenith. Schwerpunkt Nahost / Kaukasus / Osteuropa.