Ausland

Israel: Ausgestoßene im eigenen Land

Der Schriftsteller Doron Rabinovici argumentiert, warum es im aktuellen Konflikt in Israel um nicht weniger als die Zukunft des Landes geht.

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Von Doron Rabinovici 

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Die neue israelische Koalition, die auch rechtsextrem fundamentalistische Parteien umfasst, plant, den Obersten Gerichtshof und damit die unabhängige Justiz zu entmachten. Es geht nicht nur um eine Reform veralteter Strukturen, die einige durchaus gerechtfertigt fänden. Das ist ein Staatsstreich, sagt Moshe "Bogie" Jaalon, einst Generalstabschef, später Verteidigungsminister unter Regierungschef Benjamin Netanjahu. Jaalon, gewiss kein Linker, kämpft gegen das Regierungsvorhaben, und der alte Soldat sagt: "Das ist der wichtigste Krieg in meinem Leben."

Selbst Reuven Rivlin, ehemaliger Staatspräsident, auch einst Politiker in Netanjahus Likud-Partei, verurteilt die geplante "Vereinnahmung der Jurisdiktion". Hunderttausende Israelis gehen seit Wochen auf die Straße. Mit ihnen demonstrieren Veteranen der legendären Elitetruppe Sajeret Matkal, die etwa 1976 in Entebbe die von Terroristen entführten Geiseln befreite. Auch die Mehrheit der Kampfpiloten der berühmten Fliegerstaffel 69 und viele Milizsoldaten aus angesehenen Spezialeinheiten drohen zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, den Übungseinberufungen nicht nachzukommen. 150 Cyber-Experten wollen sich nicht mehr zum Dienst melden, sollte die Koalition ihre Pläne umsetzen. Unterdessen ziehen internationale Investoren Milliarden an Dollar ab, denn ohne Rechtssicherheit und ohne offene Gesellschaft kann die moderne Start-up-Nation kaum weiter gedeihen.

Das reine Mehrheitsrecht ohne unabhängige Justiz führt in die unumschränkte Tyrannei, denn das, was Demokratie auszeichnet, bedeutet eben nicht, demjenigen, der in einem Stimmengang obsiegt, die absolute Macht auszuhändigen. Demokratie braucht Gewaltenteilung und den Rechtsstaat, um die Menschenrechte, die Freiheit der Presse und den Minderheitenschutz zu garantieren. Wie sollte sonst eine Regierung daran gehindert werden, etwa die Freiheit der Kunst und der Lehre einzuschränken, kritische Medien zu verbieten, arabische Parteien vom Urnengang auszuschließen oder das Wahlrecht so zu verbiegen, bis die Opposition keine Möglichkeit mehr hätte, je wieder zum Zug zu kommen? Wer könnte dieses Prinzip denn besser verstehen als jenes Volk, das in der Vergangenheit nicht selten erlebte, wie die Willkür einer Majorität gegen Außenseiter loszuschlagen vermag? Adolf Hitler stieg auch durch Wahlen zur Macht empor. Kein Wunder, wenn 134 der bedeutendsten Koryphäen jüdischer Geschichtswissenschaft-darunter etwa Dina Porat, David Biale, Shmuel Feiner, Derek Penslar oder Michael Brenner-in einem Brief feststellten, die Regierung gefährde nicht nur die Demokratie, sondern auch die Existenz der Nation. Die Gründer Israels, so führten die Gelehrten aus, beschränkten nicht ohne Grund die Befugnisse der Regierenden.

DORON RABINOVICI

geboren 1961 in Tel Aviv, lebt seit 1964 in Wien. Er ist Schriftsteller und Historiker. Zuletzt erschienen: "Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte",herausgegeben gemeinsam mit Christian Heilbronn und Natan Sznaider (Suhrkamp, 2019),und der Roman "Die Einstellung" (Suhrkamp, 2022).

Vor einer Verfassung war 1948 zurückgeschreckt worden-teils auch, um das Verhältnis zwischen Staat und Religion in der Schwebe zu halten. Die jüdische Orthodoxie, für die nur die Thora der letztgültige Gesetzestext ist, sollte nicht von Beginn an vor den Kopf gestoßen werden. Geplant war, die Verfassung später auszuarbeiten. Kaum gegründet, entbrannte der Konflikt ums Land. Zugleich stand die Masseneinwanderung von Millionen jüdischer Menschen noch bevor. Das eigentliche Staatsvolk war erst im Entstehen.

Aus dem Provisorium wurde die Dauerlösung. Israel kennt-wie Großbritannien, Kanada oder Neuseeland-keine Verfassung. Der Oberste Gerichtshof wacht deshalb als alleiniger Hüter des Rechts über die grundlegenden Gesetze, gegen deren Inhalt bisher nichts mit einfacher Mehrheit in der Knesset beschlossen werden darf. Ohne diese höchste Instanz der Jurisdiktion erstirbt die pluralistische Demokratie.

Die Koalition plant nicht nur die Entmachtung des Gerichts, sondern zudem geht es darum, die Richter und Richterinnen von nun an durch die Regierung selbst auszuwählen. Eine ganze Batterie an Veränderungen soll durch das Parlament gepeitscht werden-ohne Rücksicht auf Einwände der Opposition und der Zivilgesellschaft.

Den rechtsextrem theokratischen Fraktionen geht es nicht allein um eine neue Regierung, sondern um ein neues Regime. Der jetzige Finanzminister Bezalel Smotrich, Vorsitzender der religiös nationalen Partei, sagte im Herbst: "Ich mag ein Rechtsextremist, ein Homophober, ein Rassist, ein Faschist sein, aber mein Wort gilt", und wer will ihm da widersprechen? Smotrich propagierte schon vor Jahren die Trennung der jüdischen Frauen von den arabischen in den Entbindungsstationen. Die Abgeordneten der rassistisch fundamentalistischen Fraktionen befürworten die Aufhebung der Gesetze gegen die Diskriminierung von Homosexuellen. Sie streben die Annexion der besetzten Gebiete an. Sie hetzen gegen die Palästinenser wie auch gegen die eigenen arabischen Staatsbürger im Kernland.

Teile der Koalition wollen das israelische Rückkehrrecht, das allen von Antisemitismus Verfolgten eine Heimstatt im Lande Israel verspricht, nur noch jenen zugutekommen lassen, die nach streng orthodoxem Verständnis jüdisch sind. Die Mehrheit der jüdischen Diaspora, die etwa Teil der Reformbewegungen ist, und auch viele, die längst in Israel leben, wären von einem Moment zum anderen nicht mehr Teil des zionistischen Projekts.

Benjamin Netanjahu sind die theokratischen Bestrebungen seiner Regierungspartner kein besonderes Anliegen. Aber er will die Koalition nicht gefährden und zudem im Amt bleiben, ohne fürchten zu müssen, vom Gericht wegen seiner Korruptionsverfahren belangt, abgesetzt und womöglich sogar zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden.

Vielen Israelis ist, als werde ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen. Israel erklärte immer stolz, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Die religiöse Sehnsucht nach dem verheißenen Land spielte zwar im Zionismus immer eine gewisse Rolle, doch eine Theokratie wäre seinen Vordenkern nie in den Sinn gekommen. Theodor Herzl stritt für einen liberalen Judenstaat. Wenn die Demokratiebewegung scheitert, droht das Land, das gegründet wurde, damit Juden nicht mehr Ausgestoßene sind, sondern in Würde und Freiheit leben können, zu einem zu werden, in dem Juden, die in Freiheit und in Würde leben wollen, Ausgestoßene sind.

Was in Israel geschehen könnte, wird auch anderswo von Rechtsrechten propagiert. Sagte nicht FPÖ-Chef Herbert Kickl vor wenigen Jahren, das Recht habe der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht. Die Entmachtung der unabhängigen Justiz und die Aushöhlung der Demokratie sind in Budapest und in Warschau bereits verwirklicht. Aber Ungarn und Polen sind eingebunden in das Regelsystem der Europäischen Union. Israel hingegen ist von autoritären Regimen und von Feinden wie der Hamas, dem Islamischen Dschihad, den iranischen Mullahs und der Hisbollah umgeben, ist zudem durch den Konflikt mit dem palästinensischen Volk, durch die Besatzung und den Terror geprägt. Was, wenn die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung sich zusehends fremd im eigenen Land fühlen sollte? Wird Israel im Notfall nach außen geeint genug auftreten können, wenn es innerlich so schmerzlich gespalten ist? Wohlstand und Sicherheit Israels ruhen zum großen Teil auf den Schultern der modernen und säkularen gesellschaftlichen Gruppen.

Vielleicht ist es das, was Moshe "Bogie" Jaalon meint, wenn er vom wichtigsten Krieg seines Lebens spricht. Die Hunderttausenden, die nun durch die Städte des Landes ziehen, tragen die Fahne Israels mit sich herum. Sie kämpfen nicht allein für ein liberales Rechtssystem. Es geht um nicht weniger als die Zukunft eines freien Israel.