Ausland

Avraham Burg: "Sagt laut, was ihr denkt!"

Der frühere Knesset-Präsident Avraham Burg fordert das Ausland auf, keine Rücksicht darauf zu nehmen, wie Kritik in Israel aufgenommen wird.

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Ihr öffentlich geäußertes Urteil über die neue israelische Regierung könnte nicht härter ausfallen: Sie zerstöre die Demokratie, übe sich in fundamentalistischem Extremismus, rücke Israel in Richtung einer Theokratie Welche Reaktion erhoffen Sie sich eigentlich vom Ausland?
Burg
Lassen Sie mich einen Schritt davor beginnen: Was wir heute in Israel beobachten, hat sich über Jahrzehnte angebahnt und bricht jetzt aus wie ein Vulkan. Nichts davon ist gänzlich neu, weder die Ideen noch die Richtung. Wohl aber die Intensität.
Haben die Entwicklungen nicht eine neue Qualität gewonnen?
Burg
Eine neue Quantität. Die Regierungen der jüngeren Vergangenheit haben allesamt keine Lösung für die zwei großen Fragen gefunden: die Besatzung der Palästinensergebiete und die Priorität der Demokratie gegenüber der Theokratie. Jetzt sind die fundamentalistisch-theokratischen Kräfte und die Kräfte, die die Besatzung der Palästinensergebiete betreiben, stärker denn je.
Sie sind ein Politiker der Opposition. Ist Ihre Kritik nicht einfach eine übliche Reaktion eines Regierungsgegners?
Burg
Das ist eine berechtigte Frage. Aber ich höre in Israel auch die Stimmen von Leuten, die in der politischen Rechten groß geworden sind, hohe Positionen hatten und sehr betroffen und besorgt sind. Höchstrichter, Intellektuelle, Hightech-Unternehmer, Menschen unterschiedlichster politischer Herkunft-wenn sie alle Position gegen die Regierung beziehen, ist klar, dass es sich um ein tiefgreifendes Problem handelt.
Österreich hat-ebenso wie Deutschland-eine historische Verantwortung gegenüber dem Staat Israel. Wer hierzulande die Regierung Israels kritisiert, gerät rasch in den Verdacht, Antisemit zu sein. Welche Haltung gegenüber Israel erwarten Sie von der österreichischen Regierung?
Burg
Natürlich ist das ein heikler Punkt. Die USA und Deutschland-Österreich ist wegen seiner Kleinheit nicht so bedeutend-geben Israel grünes Licht, was immer es tun will. Solange sie jede Kritik-auch gerechtfertigte!-an Israel beeinspruchen, dienen sie als Waschmaschine für alle Grausamkeiten, die Israel begeht. Es ist eine unglaubliche Strategie der konservativen Regierungen Israels, jede Kritik mit Antisemitismus zu verschmelzen. Eine falsche Strategie, aber eine erfolgreiche. Israels Regierung stülpt den Vorwurf des Antisemitismus über jegliche Kritik, und die andere Seite, also Österreich und Deutschland, akzeptieren diese Vermischung. Es ist quasi unmöglich geworden, kritisch über Israel zu reden.
Sehen Sie einen Ausweg?
Burg
Wenn die österreichischen und deutschen Intellektuellen und Medien und Thinktanks es nicht wagen, den Mund aufzumachen, sollten sie Israelis mehr Platz einräumen, dies an ihrer Stelle zu tun. Wenn ihr Angst habt, lasst es einfach uns sagen!
Welche Haltung sollten ausländische Regierungen einnehmen?
Burg
Ich erwarte von ausländischen Regierungen nicht, dass sie für uns Israelis die harte Arbeit machen. Das ist nicht ihre Aufgabe. Sie sollen nicht das tun und sagen, was für das demokratische Lager in Israel gut ist, sondern das, was sie auf Basis ihrer eigenen Werte für richtig halten! Für Österreich heißt das: Wenn euer Wertsystem auf Haider und Strache basiert, dann habt ihr wenig Handlungsbedarf. Wenn es aber auf Kreisky und Vranitzky basiert, dann sagt laut, was ihr denkt, egal was wir Israelis dabei fühlen.
Kritiker der israelischen Regierungspolitik benutzen manchmal Begriffe wie "Apartheid" oder sie fordern einen Boykott gegen Israel. Sind das Worte und Maßnahmen, die Sie vermeiden würden?
Burg
Politische und historische Analogien sind schwierig. Beschreibt der Begriff "Apartheid" das Phänomen exakt? Ich weiß es nicht. Sollten wir die Begriffe benutzen, mit denen die Untaten der Siedler in Amerika gegenüber den Indigenen beschrieben wurden? Nein. Die Sprache des Holocaust? Nein. Es ist falsch, Tonspuren von irgendwoher zu nehmen und sie auf die israelische Situation anzuwenden. Jede Situation erfordert ihr eigenes Lexikon.
Wie beurteilen Sie die Gefahr, dass sich Antisemiten begeistert jeder Kritik an Israel anschließen?
Burg
Ich kümmere mich nicht darum, wer sich der Kritik anschließt. Wenn Sie der Ansicht sind, es sei falsch, was Israel in den besetzten Gebieten tut, dann sagen Sie es!
Die neue Regierung Netanjahu hat bereits zweimal für Aufregung gesorgt: Zunächst hat Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir den Tempelberg besucht, was als Provokation gesehen wurde, und jetzt liegt ein Gesetzesvorschlag für eine Justizreform auf dem Tisch, die nach Meinung der Kritiker die Demokratie gefährdet. Sehen Sie damit bereits rote Linien überschritten? Oder befürchten Sie Schlimmeres?
Burg
Beides. Es liegt in der Natur dieses rechtsgerichteten, fundamentalistischen Biests, dass es nie zufriedengestellt werden kann. Die Forderungen gehen immer weiter. Man will den Tempelberg übernehmen? Gaza neu besetzen? Das Westjordanland annektieren? Leuten die Staatsbürgerschaft aberkennen oder verweigern? Deportationen durchführen? Es gibt immer jemanden, der noch weiter gehende Ideen hat und die anderen bezichtigt, nicht nationalistisch oder patriotisch genug zu sein. Die Rhetorik ist jetzt schon schrecklich, das Koalitionsübereinkommen ist ein Buch der Schande, und das Schlimmste kommt erst.
Befürchten Sie, dass die Regierung mit der geplanten Beschränkung der Kompetenzen des Höchstgerichts einen grundlegenden Umbau des Staates vornimmt?
Burg
Angst ist nicht meine Motivation, um Politik zu machen. Aber es beunruhigt mich, dass die Leute in Israel noch nicht auf die Straße gehen, um zu protestieren. Aber das wird nicht lange so bleiben. Ich bin voller Hoffnung. Ich glaube nicht, dass die überwältigende Mehrheit die Lage so verkommen lässt. Sie werden in Massen auf die Straße gehen und die Regierung blockieren.

Dieses Interview wurde am Freitag, dem 6. Jänner, geführt. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Israel noch keine nennenswerten Demonstrationen gegen die Regierung. Am Samstag, dem 14. Jänner, kam es in Tel Aviv zu einer ersten Großkundgebung, an der 80.000 Menschen teilnahmen. Auch in Jerusalem und Haifa wurde demonstriert.

Wie sehen Sie die Rolle der jüdischen Diaspora? Soll sie Druck auf die israelische Regierung ausüben?
Burg
Israel gehört den Israelis, nicht den Juden. Es liegt in der Verantwortung der Israelis-der Juden und der Nichtjuden -unser politisches System zu formen und für unsere Werte zu kämpfen. Ich halte nichts von der Idee, dass es Beteiligte gibt, die nicht in Israel leben. Für mich gibt es keinen Unterschied, ob sich ein österreichischer Jude oder ein österreichischer Nichtjude äußert. Es ist eine große und befriedigende Sache, dem Weltjudentum anzugehören, aber Israel ist der Staat der Israelis.
Wie werden Sie den politischen Kampf führen?
Burg
Ich bin einer der Gründer einer neuen Bewegung; der ersten, in der jüdische und arabische Israelis völlig gleichberechtigt sind. Der Name in hebräischer und arabischer Sprache lautet übersetzt: "Alle seine Bürger" (All its Citizens).Wir wollen auf den Trümmern der früheren Linken eine neue, egalitäre Kraft aufbauen, die auch die junge Generation der arabischen Bevölkerung anspricht.

Avraham Burg, 68

war von 1999 bis 2003 Präsident des israelischen Parlaments, der Knesset. Er war Mitglied der linken Arbeitspartei Awoda. Ende des vergangenen Jahres gründete er eine neue Bewegung.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur