Netanjahu und Minister Ben-Gvir.
Ausland

Was wird aus Israel und wie gehen wir damit um?

Rassismus, Homophobie, Annexionsbestrebungen – die neue israelische Regierung ruft blankes Entsetzen hervor. Doch Kritik an Israel gerät rasch unter Antisemitismusverdacht.

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Der Begriff „Israelkritik“ mag harmlos klingen, aber er hat es in sich. Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, nennt ihn in einer Reihe mit „Verschwörungserzählungen“ und „Holocaust-Verharmlosung“, wenn er vor Antisemitismus warnt. Wer Israelkritik übt, steht im Verdacht, camoufliert antisemitisch zu agieren. Man kritisiert „Israel“, meine aber in Wahrheit „die Juden“, oder konkret: den „Judenstaat“, der besser nicht existieren sollte.

Vor diesem Hintergrund liest sich die aktuelle Berichterstattung über Israel einigermaßen spektakulär. „Extremisten“ säßen in der neuen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, urteilt dessen Vorgänger Yair Lapid; das Editorial der „New York Times“ nennt sie die „extremsten Elemente der israelischen Politik“, von „Fundamentalisten“ schreibt die „Jerusalem Post“; das Regierungsprogramm sei ein „faschistisches Manifest“, wettert der Menschenrechtsanwalt Michael Sfard in der israelischen Zeitung „Haaretz“; Avraham Burg, der frühere Knesset-Präsident, sieht in Israel eine „zerstörte Demokratie“. Weitere Vokabel im Zusammenhang mit dem neuen Kabinett: rechtsextrem, ultrareligiös, ultranationalistisch …

So einhellig harsch war die Einschätzung einer eben erst ernannten israelischen Regierung noch selten. Aber selbst wenn man die Warnung vor verstecktem Antisemitismus in der Kritik an Israel sehr ernst nimmt, fällt es schwer, das harte Verdikt zu bestreiten.

Eine kurze Vorstellung einiger Regierungsmitglieder:

Arje Deri, Innen- und Gesundheitsminister; kürzlich zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt wegen eines Steuerdelikts; zuvor bereits zwei Jahre wegen Bestechlichkeit im Gefängnis; vom Höchstgericht als Minister abgelehnt.

Avi Maoz, stellvertretender Minister, Chef der Partei Noam, deren vorrangiges Ziel der Kampf gegen Homosexuellen-Rechte ist, bezeichnet sich selbst als „stolzer Homophober“.

Itamar Ben-Gvir, Sicherheitsminister; war Anführer der Jugendorganisation der Kach-Partei, die als terroristische Organisation verboten wurde; Ben-Gvir wurde deshalb wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und rassistischer Hetze verurteilt und vom Armeedienst ausgeschlossen.

Bezalel Smotrich, Finanzminister; befürwortet die Annexion des Westjordanlandes; bezeichnete die Gay Pride Parade als „schlimmer als Geschlechtsverkehr mit Tieren“; argumentierte für getrennte Geburtsabteilungen von Juden und Arabern, denn: „Ich will nicht, dass meine Frau neben einer Frau liegt, deren Baby in 20 Jahren unser Kind töten will.“

Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident; akzeptierte alle oben Genannten, um eine Regierungsmehrheit zu haben, die ihn davor bewahrt, dass seine Korruptionsverfahren fortgeführt werden.

Dieses Kabinett trägt viele Merkmale rechtspopulistischer, illiberaler Regierungen, wie man sie aus Ungarn oder Polen kennt, auch aus den USA unter Donald Trump. Dazu kommen zwei Gründe, diese israelische Regierung als weit gefährlicher für die liberale Demokratie einzuschätzen als die Rechtsregierungen der genannten Länder.

Der erste ist die extrem religiöse Ausrichtung einiger der Koalitionsparteien. „Messianische Kräfte, für die das demokratische Israel, das die zionistischen Vorväter ins Auge fassten, ein Gräuel ist“, seien jetzt am Werk, beschreibt die „Jerusalem Post“ die Motivlage. Auch der frühere Knesset-Präsident Avraham Burg warnt im profil-Interview vor „theokratischen Kräften“. Ihnen und ihren Vorstellungen eines jüdischen Staates stehe die Demokratie im Weg.

Der zweite Grund, weshalb die Demokratie in Israel durch die rechtsreligiöse Regierung besonders bedroht ist, liegt in der Schwäche wesentlicher staatlicher Institutionen. Israel verfügt über keine Verfassung, sondern nur über Grundgesetze, die mit einfacher Mehrheit geändert werden können. Der Staatspräsident hat eine weitgehend repräsentative Funktion. Die Knesset ist ein Einkammerparlament. Bleibt also nur eine einzige mächtige Gegenspielerin der Regierung und ihrer Knesset-Mehrheit: das Höchstgericht.

Kein Wunder also, dass die neue Regierung als eine ihrer ersten Initiativen eine Justizreform plant, die dieses Höchstgericht schwächen soll. Seine Urteile sollen per einfacher Knesset-Mehrheit überstimmt werden können, die Bestellung der Höchstrichter soll stärker in den Einfluss der Regierungsparteien wandern.

So baut eine rechtspopulistische Regierung einen Staat um. Alles, was antiarabischem Rassismus, Homophobie oder ultrareligiösen Vorschriften im Weg stehen könnte, wird bekämpft. Neben der Schwächung des Höchstgerichts betreffen erste Gesetzesvorschläge auch eine Einschränkung des Demonstrationsrechts.

Man braucht kein Hellseher zu sein, um zu wissen: Es wird in nächster Zeit noch viel Kritik an Israels Regierung hageln. Aber handelt es sich dabei dann womöglich um die suspekte Form der antisemitisch motivierten „Israelkritik“?

Als Test, ob Antisemitismus im Spiel ist, gilt etwa die „3-D-Regel“, dergemäß gefragt wird, ob die Kritik an Israel Dämonisierung, doppelte Standards oder Delegitimierung enthält.

Wird Israel derzeit dämonisiert? Da in der Berichterstattung darauf hingewiesen wird, dass ein Gutteil der Bevölkerung über die Politik der Regierung entsetzt ist, muss klar sein, dass sich die Kritik nicht undifferenziert auf Israel als Ganzes bezieht.

Liegen doppelte Standards vor? Da kommt es wohl darauf an, mit welchen Staaten man Israel vergleichen will. Die Kritik an Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro, Ex-US-Präsident Donald Trump – um drei Beispiele zu nennen – ist oder war nicht minder heftig als die an Netanjahu. Ein weiterer beliebter Vorhalt lautet, die Beschäftigung der internationalen Medien mit Israel sei angesichts seiner Größe überdimensioniert – von einer „Negativ-Obsession“ schreibt Publizist Erwin Javor in profil. Die intensive Berichterstattung liegt jedoch daran, dass Israel eine der Konfliktparteien im Nahost-Konflikt ist, dazu der wichtigste Verbündete der USA in der Region, die einzige Demokratie im Umkreis, und schließlich: eine Atommacht.

Zielen die Kritiker auf eine Delegitimierung ab? Sogar die des Antisemitismus“ unverdächtige Vereinigung „Jüdische Österreichische Hochschüler:innen“ (JÖH) hat Sorge, sich diesem Vorwurf auszusetzen. Sie weist in ihrem Statement zur neuen Regierung sicherheitshalber zunächst darauf hin, dass die Existenz des Staates Israel „nicht angezweifelt“ werden dürfe, ehe sie den „antiarabischen und antipalästinensischen Rassismus, die Queerfeindlichkeit und reaktionären Geschlechterbilder“ der Regierung Netanjahu anprangert. Ex-Knesset-Präsident Avraham Burg sagt im profil-Interview, es sei eine „unglaublich erfolgreiche Strategie“ der israelischen Regierungen, über jede Kritik den Vorwurf des Antisemitismus zu stülpen.

Israel steht traditionell unter besonderem Schutz. Die USA nutzen ihr Veto im UN-Sicherheitsrat, um Verurteilungen hintanzuhalten. Der renommierte US-Thinktank Carnegie Endowment for Peace fordert in einem Beitrag mit dem Titel „Wie die Biden Regierung mit der neuen israelischen Regierung umgehen soll“, dass diese Blanko-Unterstützung ein Ende haben solle.

Diese Frage ist auch für Österreich von Interesse, das seit der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz einen Kurs der uneingeschränkten Unterstützung Israels verfolgt. Ein aktueller Fall illustriert dies: Die Palästinensische Autonomiebehörde hat den Internationalen Gerichtshof angerufen, damit dieser eine rechtliche Beurteilung der Besatzung der Palästinensergebiete durch Israel vornimmt. Bei der Abstimmung über diesen Antrag votierte Österreich dagegen. Die israelische Regierung bezeichnet die palästinensische Initiative als „politischen Terrorismus“ und verhängte scharfe Sanktionen gegen die Autonomiebehörde. Gegen diese Strafmaßnahmen wiederum wandte sich eine Petition, die unter anderem 24 der 27 EU-Mitglieder unterzeichneten – Österreich jedoch nicht.

Außenminister Alexander Schallenberg begründet dieses Vorgehen im profil-Interview damit, dass die palästinensische Initiative noch weiter vom politischen Dialog über eine Zweistaatenlösung wegführen würde. Angesichts einer israelischen Regierung, die mit der Zweistaatenlösung absolut nichts am Hut hat und stattdessen die Erweiterung der jüdischen Siedlungen im Westjordanland unterstützt, ist diese Rechtfertigung allerdings ein wenig kurios.

Schallenberg beteuert, den Maßstab der Menschenrechte an Israel ebenso anzulegen wie an jeden anderen Staat. Angesichts von Rassismus, Homophobie und einem „jüdisch-ethnischen Vorherrschaftsanspruch“ (Avraham Burg in einem Gastkommentar in der „Süddeutschen Zeitung“) der israelischen Regierung droht eine Kollision zweier Maximen der österreichischen Außenpolitik: dem Bekenntnis zur Unterstützung Israels und dem Bekenntnis zu den Menschenrechten.

Israelkritik – im lauteren, nichtantisemitischen Sinn – zu üben, wird niemandem erspart bleiben.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur