Italien: Ein Land am Abgrund

Paolo Berizzi, Autor des Buches „NazItalia“, über die rechtsextremen Tendenzen der neuen italienischen Regierung, die dominante Rolle von Innenminister Matteo Salvini und die Schwäche von Opposition und Zivilgesellschaft.

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profil: Wie würden Sie die derzeitige italienische Regierung charakterisieren? Berizzi: Sie ist nationalistisch-populistisch und drückt jeden Tag beide Augen gegenüber neofaschistischen Parteien und Bewegungen zu. profil: Wie äußert sich das konkret? Berizzi: Innenminister Matteo Salvini von der Lega führt sich wie ein Regierungschef auf. Er gibt die Themen vor – Themen, die exakt jenen der Neofaschisten entsprechen. Und er hat seine Ideen bei der neofaschistischen Partei CasaPound abgeschaut. profil: Vertreter der CasaPound bezeichnen sich selbst als „Faschisten des dritten Jahrtausends“. Die Lega ging 2014 und 2015 mit der CasaPound Wahlbündnisse ein. Ist die Lega folglich profaschistisch? Berizzi: Sie hat zumindest ganz offen mit den Neofaschisten koaliert, teilt deren politische Ideen und verbreitet deren Propaganda. Nach den Wahlen hat sich Salvini bei den Rechtsextremen für ihre Unterstützung bedankt und versprochen, dass er ihre Hilfe nicht vergessen werde.

Salvini unterschätzt die Gefahren für den Staat.

profil: Stimmt es, dass er seine Sympathie durch Kleidungscodes zum Ausdruck bringt? Berizzi: Ja, er trägt gern Modemarken, die auch von den Militanten der CasaPound getragen werden. profil: Salvini spricht im Hinblick auf den Neofaschismus immer wieder von „Folklore“, die man nicht überbewerten dürfe. Berizzi: Leider. Und damit unterschätzt er die Gefahren für den Staat. Salvini hat beispielsweise die Tageszeitung „la Repubblica“, für die ich arbeite, gerüffelt, weil sie über einen neofaschistischen Strandbadbesitzer berichtet hatte. profil: Sie sprechen von Gianni Scarpa, der im Sommer 2017 in seiner Badeanlage in Chioggia bei Venedig Plakate mit faschistischen Slogans aufgestellt und per Lautsprecher Reden gehalten hatte, in denen er das Mussolini-Regime verherrlichte. Berizzi: Salvini sagte damals, dass „la Repubblica“ aufrechte Italiener wie Scarpa in Ruhe arbeiten lassen sollte, und trat sogar in dessen Strandbad auf, um sich mit ihm zu solidarisieren.

profil: Scarpa wurde gerichtlich nie für seine Auftritte zur Rechenschaft gezogen. Warum? Berizzi: Weil wir eine Justiz haben, die unaufmerksam ist und zudem nicht zu begreifen scheint, was los ist. Die Klage gegen Scarpa wurde unter Hinweis auf die freie Meinungsäußerung fallengelassen. Er darf also weiterhin seine Reden schwingen und dabei beispielsweise fordern, dass Drogenabhängige umgebracht werden sollen. Währenddessen fordert Familienminister Lorenzo Fontana, auch er von der Lega, tatsächlich die Abschaffung des Gesetzes, das neofaschistische Propaganda unter Strafe stellt – und das 74 Jahre nach dem Ende des Faschismus in Italien! Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass der Faschismus hier in Italien nie ein Ende gefunden hat. Mein Buch trägt deshalb auch den Untertitel „Reise in ein Land, das sich als faschistisch wiederentdeckt“.

Die antifaschistische Bevölkerung scheint wie gelähmt zu sein.

profil: Hält die zweite Regierungspartei, die M5S, nicht dagegen? Berizzi: Innerhalb der Regierung hat eindeutig die Lega das Sagen, obwohl sie bei den Wahlen nur auf 17 Prozent gekommen ist und die M5S mit 32 Prozent auf fast doppelt so viel. Auch die M5S ist bereits durch antidemokratische Aussagen aufgefallen. Einige ihrer Spitzenpolitiker haben beispielsweise davon geredet, das demokratische System zu überwinden und gar zu zerstören. So hat schon Benito Mussolini gesprochen! profil: Was sagen eigentlich die Oppositionsparteien dazu? Berizzi: Sie wirken aufgrund des miesen Wahlergebnisses bei den Parlamentswahlen im Frühjahr wie ein schwer angeschlagener Boxer – vor allem die Sozialdemokraten vom Partito Democratico (PD). Als sie noch an der Regierung waren, sagten ihre Exponenten immer wieder, es gebe keinen Faschismus mehr in Italien. Ich habe den Eindruck, dass sie nie genau hingeschaut haben. Und das nutzen die Neofaschisten nun mithilfe von Parteien wie der Lega, die ähnlich wie sie denken, aus.

profil: Und wo bleibt die Zivilgesellschaft? Berizzi: Das frage ich mich auch. Wo sind die erklärtermaßen antifaschistischen Sozialzentren und Intellektuellen? Die antifaschistische Bevölkerung scheint wie gelähmt zu sein. Das macht es Demokratiegegnern sehr leicht. Wir haben eine Regierung, die den Neofaschisten wohlgesonnen ist, und wir haben eine antifaschistische Öffentlichkeit, die mehrheitlich schweigt. Diese beiden Anomalien stellen ein großes Risiko für Italien dar. profil: Sie sind Italiens führender investigativer Journalist beim Thema Neofaschismus. Haben Sie manchmal Angst? Berizzi: Seit Jahren werde ich in den sozialen Netzwerken und mit anonymen Briefen bedroht. Zum Glück habe ich in Bergamo, wo ich lebe, Polizeischutz, damit ich unbehelligt meiner Arbeit nachgehen kann. Einschüchtern lasse ich mich nicht, auch wenn diese Kräfte inzwischen ihre Leute an der Regierung haben.

Interview: Thomas Migge, Rom