„Drohen und stören, wo es geht“

Ivan Krastev: „Drohen und stören, wo es geht“

Interview. Der Politologe und Osteuropa-Experte Ivan Krastev über das Dilemma des Kremls mit der Ukraine

Drucken

Schriftgröße

Interview: Tessa Szyszkowitz

profil: Auf der Krim haben Aktivisten vergangene Woche Regierungsgebäude gestürmt und ukrainische Fahnen durch die russische ersetzt. Wird die Halbinsel jetzt russisch?
Ivan Krastev: Selbst auf der Krim wollen durchaus nicht alle heim nach Russland. Die Russen haben die Lage in der Ukraine vollkommen falsch eingeschätzt. Sie haben alle ihre Eier in den Korb von Viktor Janukowitsch gelegt. Der ist nun weg – und zwar endgültig. Der Kreml hat sich viel zu lange auf die alten sowjetischen Seilschaften verlassen, aber diese sind inzwischen den meisten verhasst. Deshalb improvisieren die Russen jetzt. Sie werden sicher keine Panzer schicken. Sie haben bei einem Treffen des pro-russischen Lagers in Charkiw (ostukrainische Stadt, Anm.) vergangene Woche gemerkt, dass es wenig Lust auf Abspaltung gibt. Selbst die Partei der Regionen des gestürzten Präsidenten will einen Kompromiss.

profil: Vergangene Woche begannen in Westrussland Militärmanöver – offiziell, um die Einsatzbereitschaft der Truppen zu testen. Deutet das auf eine Intervention hin?
Krastev: Die Russen werden eher drohen und stören, wo es geht – zum Beispiel, indem sie ständig neue Rechte für die russische Minderheit fordern. Aber der Kreml hat kein Interesse an einer Eskalation, weil die Vorgänge in der Ukraine Russland stark betreffen. Ein wirtschaftlicher Bankrott der Ukraine würde etwa russische Banken so schwer treffen, dass er auf jeden Fall verhindert werden muss. Deshalb arbeiten Teile der russischen Führung an der Stabilisierung, nicht Radikalisierung der Lage.

profil: Was kann Russland dann eigentlich tun?
Krastev: Zum Beispiel die Wahlen im Mai boykottieren. Schließlich hieß es in dem Abkommen zwischen Opposition und Janukowitsch in der Vorwoche, dass es Präsidentschaftswahlen im Dezember geben soll. Russland könnte argumentieren, dass vorgezogene Wahlen im Mai nicht gesetzeskonform sind. Aber eigentlich hat Russland keine klare Position. Der an sich als besonnen geltende Premierminister Dmitri Medwedew schwingt radikale Reden. Ich denke, das soll signalisieren, dass selbst die moderaten Kräfte beim Thema Ukraine keinen Spaß verstehen. Putin hingegen schweigt. Offenbar weiß er noch nicht, wie er reagieren soll.

profil: Mit welchen Personen der neuen Führung in Kiew kann Russland gut?
Krastev: Am Ende seiner Herrschaft stand Janukowitsch völlig unter der Fuchtel von Oligarchen – hauptsächlich von Rinat Achmetow, dem reichsten Mann des Landes. Die Ukraine braucht jetzt eine pro-russische Partei, die nicht von Oligarchen kontrolliert wird. Das aber ist nicht so einfach. Julia Timoschenkos Entlassung aus dem Gefängnis war, nehme ich an, auch mit den Russen vorher abgesprochen. Aber das ist das Problem mit den Russen: Sie sind stark genug, in der Ukraine im Geschäft zu bleiben. Aber sie sind zu schwach, um die Ukraine in die geplante Eurasische Union zu lotsen.

profil: Würden die pro-russischen Ukrainer im Osten für eine Annexion an Russland stimmen?
Krastev: Die Pro-Russen im Osten wollen nicht Teil Russlands werden – nicht einmal jene 25 Prozent der ukrainischen Bevölkerung, die vorwiegend russisches Fernsehen sehen und damit heftiger Propaganda ausgesetzt sind: Dort ist ja ständig von der Bedrohung durch die Neonazis die Rede. Das macht den Menschen im Osten Angst. Aber sie wollen weder Annexion noch eine Teilung des Landes. Die meisten fordern nur, dass der russische Einfluss sprachlich, kulturell und ökonomisch erhalten bleibt.

profil: Und die Westukrainer, flirten sie mit dem polnischen Nachbarn?
Krastev: Zum ersten Mal haben die Menschen in Lwiw (westukrainischer Verwaltungsbezirk mit der gleichnamigen Hauptstadt, früher Lemberg, Anm.) das Gefühl, dass sie gewonnen haben. Kiew ist jetzt Lwiw näher als Donetsk im Osten. Doch auch die Westukrainer wollen das Land keineswegs spalten, sie wollen nur erreichen, dass die Ukraine pro-europäischer wird. Polen spielt derzeit eine gute, pragmatische Rolle. Außenminister Radek Sikorski weiß genau, wie wichtig eine ökonomisch stabile Ukraine ist.

profil: Soll die EU der Ukraine die Mitgliedschaft anbieten?
Krastev: Das wird nicht so leicht gehen. Wenn man die Ukraine in die EU holt, dann muss man für das Land in den nächsten fünf bis zehn Jahren viel Geld zahlen. Das wird die Griechen, Italiener und Spanier gar nicht freuen. Die Kluft zwischen Nord und Süd in der EU ist in der Frage der Osterweiterung extrem tief. Ein EU-Beitritt der Ukraine wäre also sowohl finanziell als auch politisch sehr belastend für die EU – und für Russland eine Demütigung. Es wäre sicher besser, gemeinsam mit Russland nach einer guten Lösung zu suchen.

profil: Also eine Garantie seitens der EU und den USA, die Ukraine weder in die NATO noch in die EU zu holen, gleichzeitig aber Finanzhilfe anzubieten?
Krastev: Ja. Das wird ein langer Kampf – zumal Russland alle drei Monate über die Gaspreise für die Ukraine entscheidet. Das hält die Ukrainer an der kurzen Leine.

profil: Ist Vitali Klitschko zuzutrauen, der nächste starke und demokratische Präsident zu werden?
Krastev: Sein Vorteil ist, dass er als unverbraucht und nicht korrupt gilt. Aber vielleicht ist Klitschko nicht der große Politiker. Es muss jetzt jedenfalls ein Präsident mit frischem Gesicht her. Bisher war die Korruption der Kitt der ukrainischen Führung. Man hielt sich gegenseitig an der Macht. In den vergangenen 20 Jahren hat sich zwar die ukrainische Identität gefestigt. Doch was passiert, wenn die korrupte Elite jetzt verjagt wird? Neue Politiker könnten auftauchen, die weniger korrupt sind – aber sehr viel nationalistischer oder separatistischer. Das ist die Gefahr.

Zur Person
Ivan Krastev, 49, ist einer der führenden politischen Experten für Osteuropa und Russland. Der aus Bulgarien stammende Politologe wurde vergangenes Jahr vom angesehenen britischen „Prospect Magazine“ in die Liste der „World Thinkers 2013“ aufgenommen – gemeinsam mit Größen wie dem Physiker Peter Higgs, dem EZB-Chef Mario Draghi und dem chinesischen Dissidenten-Künstler Ai Weiwei. Krastev leitet das Center for Liberal Strategies in Sofia und forscht am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Seine bekanntesten Bücher sind „In Mistrust We Trust: Can Democracy Survive When We Don’t Trust Our Leaders“ (2013), „The Anti-American Century“ (2007, mit Alan McPherson) und „Shifting Obsessions: Three Essays on the Politics of Anticorruption“ (2004). Zur Zeit bereitet er ein E-Book über die jüngsten Protestbewegungen in Russland, der Türkei und andernorts vor. profil erreichte ihn auf Vortragsreise in New York.