Korrupte Polizei: Caramad Conley saß 20 Jahre unschuldig im Gefängnis

Caramad Conley wurde von korrupten Polizisten fälschlich des mehrfachen Mordes bezichtigt und saß 20 Jahre hinter Gittern - fast die Hälfte davon, obwohl seine Unschuld bekannt war. Zorn oder Selbstmitleid kennt er trotzdem nicht. Begegnung mit einem Kämpfer.

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Rubin sits like Buddha in a ten-foot cell An innocent man in a living hell. That’s the story of the Hurricane, But it won’t be over till they clear his name And give him back the time he’s done.

Bob Dylan, "Hurricane"

Bob Dylans Song "Hurricane" (1975) thematisiert die Verhaftung und Verurteilung des gleichnamigen Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Das Protestlied gilt seither als Hymne gegen jegliche Form rassistisch motivierter "Unrechts"-Sprechung.

VON TINA GOEBEL, SAN FRANCISCO

Eine Dreiviertelstunde zu früh erscheint Caramad Conley zum Interviewtermin am Telegraph Hill in San Francisco. "Mein gesamter Tagesablauf war für lange Zeit völlig fremdbestimmt, deshalb bin ich drei Jahre nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis noch immer etwas unsicher, was Termine anbelangt. Da bin ich lieber viel zu früh dran“, entschuldigt er sich.

Verständlich, dass sich 20 Jahre Gefängnis nicht so leicht abschütteln lassen. Verwunderlich ist eher die bemerkenswerte Ruhe, mit der Conley von der Ungerechtigkeit berichtet, die ihm widerfahren ist. Der heute 43-Jährige wurde unschuldig zu lebenslanger Haft verurteilt und saß 20 Jahre davon ab - als Opfer von zwei korrupten Polizisten, die nach seiner Verurteilung groß Karriere machten.

Mit Zorn und Selbstmitleid kann Conley dennoch nichts anfangen: "Das hätte mich ruiniert. Im Gefängnis ist es ohnehin schwer, psychisch gesund zu bleiben. Ich habe Insassen gekannt, die Selbstmord begangen haben, obwohl sie sich im Gegensatz zu mir an ein Entlassungsdatum klammern konnten.“

Caramad, sein Vorname, bedeutet auf Arabisch Freundlichkeit und Großzügigkeit und beschreibt seinen Charakter trefflich. Ironischerweise war es gerade dieser außergewöhnliche Name, der ihm half, seine Freiheit wiederzuerlangen.

Der Afroamerikaner trägt eine rote, ärmellose Jacke, dazu eine Brille. Er ist die Ruhe in Person. Nichts an ihm lässt erkennen, dass er die Hälfte seines Lebens in Gesellschaft von Schwerverbrechern verbracht hat.

Hinter der unscheinbaren Fassade steckt trotzdem ein Kämpfer. Conley will nun aktiv für ein gerechteres US-Rechtssystem eintreten: Niemandem soll das Schicksal widerfahren, dass ihn über mehr als die Hälfe seines Lebens die Freiheit gekostet hat.

Zahllose Fehlurteile

Doch genau das geschieht in den USA viel zu oft: Bürgerinnen und Bürger landen unschuldig hinter Gittern. Wie viele es sind, lässt sich schwer sagen. Die verfügbaren Zahlen sind alarmierend. Mathematiker haben im vergangenen Jahr 7482 Todesurteile untersucht und kamen zu dem Schluss, dass die Verurteilten in mindestens vier Prozent der Fälle unschuldig waren - also rund 300 Menschen. Noch höher liegt nach Einschätzung der Experten der Anteil jener, die zu Unrecht wegen Mordes eine lebenslange Haftstrafe verbüßen müssen.

Conleys Fall spiegelt nicht nur die Probleme des amerikanischen Justizsystems wider, sondern auch ein gesamtgesellschaftliches Misstrauen. Nicht erst seit den Ausschreitungen von Ferguson, die vergangene Woche neuerlich Tote und Verletzte gefordert haben, ist das Vertrauen vieler US-Amerikaner in Polizei und Gerichte ohnehin tief erschüttert.

Wie Conley sein Anliegen konkret vertreten wird, weiß er noch nicht. Die Öffentlichkeit mit seiner Geschichte wachzurütteln, wird ihm aber nicht schwerfallen - schließlich erinnert sie an einen Justizkrimi von John Grisham. Kein Wunder, dass bereits ein Buch in Vorbereitungen ist und auch Filmproduzenten Interesse zeigten.

Doch was genau ist passiert?

Es war nur ein lächerlicher Vorfall, der sich eines Abends im März 1989 ereignete und Conleys Schicksal besiegelte. Der Sohn eines afroamerikanischen Paares mit neun Kindern, war damals gerade einmal 19 Jahre alt und hatte im Sommer davor die High School in San Francisco beendet. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und wollte sich darüber klar werden, ob er auch in die Fußstapfen seines Vaters, seiner Tante und seines Bruders treten und eine Karriere bei der US-Army anstreben sollte.

An besagtem Tag geriet Conley in einen heftigen Streit mit einem seiner besten Freunde - und schlug ihm aus Zorn die Autoscheibe ein. "Ich habe mich am nächsten Tag entschuldigt und die Reparatur bezahlt, die Sache war damit gegessen. Mein Gott, ich war damals noch ein Teenager und habe kurz die Nerven verloren“, sagt er heute.

Später am Abend ereignete sich eine Straße weiter jedoch ein Mord, ein Bekannter von Conley wurde aus einem fahrenden Wagen erschossen. Bei ihren Ermittlungen erfuhr die Polizei von dem Vorfall mit der Autoscheibe, der nicht angezeigt worden war - und stellte einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen her. Und das, obwohl Conley zum Tatzeitpunkt längst zu Hause war.

Doch von diesem Tag an hatten ihn die Ermittler im Visier.

"Wir rätseln bis heute, wer die Morde tatsächlich verübt hat"

Am 8. April, wenige Wochen später, kamen bei einer Schießerei zwei weitere, gleichaltrige Freunde des Teenagers ums Leben, elf wurden verletzt. "Es war verrückt, es traf tatsächlich nur Personen, die ich gut oder zumindest flüchtig kannte. Wir rätseln bis heute, wer die Morde tatsächlich verübt hat. Viele sind überzeugt, dass es die Polizei selbst war, denn in Los Angeles ereigneten sich zu jener Zeit ähnliche Fälle, für die später Cops verantwortlich gemacht wurden“, erzählt Conley.

Die mysteriösen Morde konnten nicht aufgeklärt werden und Chefermittler Earl Sanders sowie dessen Partner Napoleon Hendrix - beide Afroamerikaner - gerieten öffentlich immer weiter unter Druck.

Da kam ihnen Conley gerade recht. Die Cops beschuldigten ihn, der Drahtzieher hinter den Morden zu sein, und konstruierten als Motiv einen Bandenkrieg. 1992, dreieinhalb Jahre, nachdem die Autoscheibe zu Bruch gegangen war, wurde er im Alter von 22 Jahren verhaftet.

"Niemand dachte, dass mir die Polizei etwas anhängen könnte, da sie nichts gegen mich in der Hand hatte. Und auch die Familien der Mordopfer haben für mich ausgesagt. Es war skurril, denn in San Francisco gibt es einfach keine Gangs. Was das ist, habe ich erst später im Gefängnis gelernt“, so Conley.

Doch dann geschah das Unfassbare: Plötzlich tauchten zwei Belastungszeugen auf. Einer davon war ein minderjähriger Freund von Conleys jüngeren Brüdern, der andere saß bereits im Gefängnis und war ihm völlig unbekannt.

Erst rund 20 Jahre später sollte die Wahrheit ans Licht kommen: Die Zeugen waren von Chefermittler Sanders bezahlt, beziehungsweise unter Druck gesetzt worden. Dem Inhaftierten wurden bessere Haftumstände versprochen.

Aufgrund der Zeugenaussagen wurde Conley im Jahr 1994 wegen zweifachen Mordes und Beteiligung an zehn weiteren Morden schuldig gesprochen. Das Urteil: Zwölf mal lebenslang plus 26 Jahre, ohne Chance auf Bewährung. "An die Urteilsverkündung kann ich mich kaum mehr erinnern. Ich stand unter Schock“, erinnert er sich an das Gerichtsverfahren.

Ich habe immer viel trainiert. Im Gefängnis hängt dein Leben von deiner körperlichen Konstitution ab.

Conley wurde in ein Gefängnis der höchsten Sicherheitsstufe eingewiesen, das den schlimmsten Verbrechern vorbehalten ist. Die Atmosphäre war ständig geladen, permanent kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Insassen - als Provokation reichte oft ein falscher Blick. Zwei Jahre nach Haftantritt wurde er bei der Essensausgabe von einem anderen Häftling mit einer selbst gebastelten Waffe attackiert, noch heute zeugt eine tiefe Narbe in seinem Gesicht davon. Es sei reines Glück gewesen, dass er überlebt habe, meint Conley: "Ich habe immer viel trainiert. Im Gefängnis hängt dein Leben von deiner körperlichen Konstitution ab. Ich habe nie einen Konflikt begonnen. Ich habe mich jedem gegenüber so verhalten, wie er zu mir.“

Doch auch wenn es sich nur um Selbstverteidigung handelte: bei Streitereien mussten alle Involvierten in das sogenannte Loch, die gefürchtete Isolationszelle - ein Mal saß er neun Monate am Stück.

In seiner Freizeit las Conley alles, was er in die Hände bekam, mitunter sogar Fachbücher über Finanz und Steuer. Und natürlich musste er auch wie alle anderen Häftlinge arbeiten: als Küchengehilfe, als Aufpasser im Gefängnishof ein Mal sogar als Friseur - und für die Privatwirtschaft draußen. Für die Jobs gab es maximal ein paar Cent pro Stunde.

"Gefängnisse sind ein Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft"

"Da verdient also jemand sehr gut daran, schließlich kostet die Arbeitszeit so gut wie nichts“, weist Conley auf den monetären Faktor der Gefängnisse hin: "Außerdem werden alle Anstalten in Amerika privat geführt und sind darauf aus, Geld zu verdienen. Für jeden Insassen erhalten sie 30.000 bis 40.000 Dollar Steuergeld vom Staat; sitzt derjenige für einige Zeit in einer Isolationszelle, können sie noch mehr verlangen. Es geht hier weder um Gerechtigkeit noch um einen menschenwürdigen Strafvollzug - die Gefängnisse in den USA sind ein Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft.“

Conley hatte sich bereits damit abgefunden, eines Tages hinter Gitter zu sterben. Doch dann kam es zu einer überraschenden Wende.

Im Jahr 2000 erschien im Wochenmagazin "Bay Guardian“ eine Titelgeschichte über Antoine Goff und John Tennison, die zehn Jahre zuvor zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Mordes verurteilt worden waren. Im Laufe der Zeit tauchten immer mehr Zweifel auf, ob sie tatsächlich die Tat begangen hatten. Nicht nur, dass der Fall stark jenem Conleys ähnelte - es waren auch die gleichen Ermittler am Werk: Sanders und Hendrix.

Da die Justiz nicht von selbst aktiv wurde, hatte Bruce Tennison, der Bruder von John Tennison, eine grandiose Idee. Bruce arbeitete damals in einem Parkhaus, in dem viele Anwälte und Richter ihre Autos abstellen - und klemmte eines Tages allen eine Ausgabe des "Bay Guardian“ mit der besagten Titelgeschichte unter ihre Scheibenwischer. Tatsächlich fand sich daraufhin ein Anwalt, der sich um den Fall von Tennison und Goff annahm.

Bei seinen Ermittlungen stieß er in einem alten Lagerhaus der Polizei auf unbeschriftete Kisten, in denen Sanders und Hendrix zurückgehaltene Unterlagen und Beweise versteckt hatten. 2003 wurden Goff und Tennison nach 13 Jahren unschuldig in Haft schließlich freigesprochen und erhielten Millionenentschädigungen von der Stadt San Francisco.

In den versteckten Schachteln fand sich jedoch auch Material über einen weiteren Fall. Der Name war so sonderbar, dass er dem Anwalt im Gedächtnis blieb: Caramad Conley. Währenddessen war das sogenannte "Innocents Project“ auf Sanders und Hendrix aufmerksam geworden - sie wollten nun alle Fälle der beiden aufrollen. Somit nahm sich auch ein Anwalt um Conleys Fall an. Und rein zufällig kam dieser ins Gespräch mit dem Verteidiger von Goff und Tennison.

Wäre ich nicht im Gefängnis gewesen, so hätte ich bestimmt längst mein eigenes Start-up gegründet.

Conley wusste also bereits 2003, dass er seine Unschuld beweisen konnte. Doch seine Strafe sah keine Begnadigung vor, weshalb es äußerst kompliziert war, eine Wiederaufnahme des Falles zu erwirken. So dauerte es neun weitere Jahre, bis er 2011 endlich als freier Mann das Gericht verlassen konnte. Für die insgesamt 20 Jahre hinter Gittern erhielt er 3,5 Millionen Dollar Entschädigung - eine lächerlicher Summe für jemanden, der seine besten Jahre im Hochsicherheitstrakt verbringen musste.

Sanders und Hendrix, die Karriere gemacht hatten und als Polizeikommandanten in Pension gegangen waren, mussten sich für ihre Verfehlungen nicht verantworten: Der eine war mittlerweile verstorben, der andere aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verhandlungsfähig.

Das Leben als freier Mann gestaltete sich für Conley jedoch schwieriger als erwartet. Er kam zurück in eine Welt, in der es das Internet gab, Smartphones und Social-Media-Netzwerke - im Gefängnis hatte er 2007 das erste Mal eine CD und einen Computer zu Gesicht bekommen. Handys kannte er nur aus der Werbung. Überall blinkte und piepste es, der Alltag hatte sich beschleunigt. "Ich war die erste Zeit, die ich bei meinem Bruder verbrachte, völlig überfordert. Ich war ja die Einsamkeit und Stille gewohnt“, erzählt Conley, der in seiner Zelle maximal zehn Bücher und Magazine aufbewahren durfte.

Nun besucht er IT-Kongresse im Silicon Valley, das direkt hinter San Francisco liegt. Gerne würde er einmal selbst in der Computerbranche arbeiten. Mittlerweile fragt ihn sein Bruder um Rat, wenn er Probleme mit seinem Smartphone hat: "Wäre ich nicht im Gefängnis gewesen, so hätte ich bestimmt längst mein eigenes Start-up gegründet“, meint Conley.

Vielleicht hätte er sich aber vorher noch bei der Army eingeschrieben, oder er hätte eine Familie gegründet. Er wird es nie wissen. Sicher weiß er nur, dass er um 20 Jahre seines Lebens betrogen wurde.