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Ausland

Kosovarische Präsidentin: „Ich setze keine großen Hoffnungen in Vučić“

Schon lange nicht mehr war die Angst vor einem militärischen Konflikt im Kosovo so groß wie im vergangenen Jahr. Jetzt haben sich die EU und die USA einen Ruck gegeben, um eine Lösung zu finden. Aber geht das überhaupt so schnell? Ein Gespräch mit Vjosa Osmani.

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Vjosa Osmani kommt gerade aus dem Vatikan zurück. Die 40-Jährige hatte eine Audienz bei Papst Franziskus, an und für sich nichts Ungewöhnliches für ein Staatsoberhaupt, auch wenn die Mehrheit der Kosovo-Albaner Muslime sind. Aber Osmani ist keine gewöhnliche Präsidentin. Sie repräsentiert einen Staat, der seit Jahren um internationale Anerkennung kämpft. Auch der Vatikan hat die Unabhängigkeit des Kosovo nie anerkannt. Aber das ist Osmanis kleinstes Problem. Es gibt viel größere Baustellen. 25 Jahre nach dem Krieg sieht Serbien seine ehemalige Provinz nach wie vor als Teil des eigenen Staatsgebietes. Jetzt kommt Schwung in die Verhandlungen – und das ausgerechnet auf Initiative des sonst eher zurückhaltenden deutschen Kanzlers Olaf Scholz. Es geht um viel. Misslingt der Versuch, dann könnte der Streit um den Kosovo zu einem eingefrorenen Konflikt mitten in Europa werden.

Frau Osmani, während Sie in Italien waren, hat der serbische Präsident Aleksandar Vucic Lösungsvorschläge im Dialog um die Unabhängigkeit Ihres Landes angekündigt. Haben Sie seine Rede gehört?
Osmani
Ich muss mir Vucics Reden nicht anhören, um zu wissen, was er sagen wird. Seine Taktiken sind absolut vorhersehbar. Er versucht, sich als Friedensstifter zu inszenieren. In der Praxis macht er dann genau das Gegenteil. Seine Worte haben sich leider nie bewahrheitet.
Viele haben die Rede dahingehend gedeutet, dass Vucic endlich für einen Kompromiss bereit ist.
Osmani
Er behauptet das, aber noch einmal: Das ist seine Taktik. Kurz vor einer Einigung setzt er sich hin und sagt: Wir sind bereit für eine Lösung. Sobald die Vereinbarung auf dem Tisch liegt, kommt er seiner Verpflichtung nicht nach.
Das ist schon einmal passiert?
Osmani
Ja, zum Beispiel, als wir über das Abkommen über die seit dem Kosovo-Krieg vermissten Personen gesprochen haben. Gegenüber dem EU-Westbalkanbeauftragten Miroslav Lajcák gab Vucic grünes Licht für ein derartiges Abkommen. Aber dann, als Vertreter von Kosovo und Serbien nach Brüssel reisten, flog Vučić nach Belgrad zurück, ohne irgendetwas unterzeichnet zu haben. Dieses Abkommen hätte es möglich gemacht, die serbischen Archive zu öffnen, um mehr über die während des Krieges nach Serbien Verschleppten herauszufinden.
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Vjosa Osmani, 40,

ist seit April 2021 Präsidentin des Kosovo. Die 40-jährige Juristin hat Völkerrecht in den USA studiert und an der Verfassung des Kosovo mitgearbeitet. 2011 wurde sie Abgeordnete. Nach Querelen kehrte sie ihrer Partei LDK den Rücken und trat 2021 auf einer gemeinsamen Liste mit Albin Kurti an, der heute Premierminister ist.

Sie glauben also nicht an einen Deal mit Vučić ?
Osmani
Ich setze keine großen Hoffnungen in Vučić. Ich will nicht behaupten, dass er nichts unterzeichnen wird. Er hat viele Vereinbarungen unterzeichnet, darunter drei, seitdem ich 2021 Präsidentin wurde. Bei einem ging es um Nummernschilder in den serbischen Gemeinden im Norden. Bei einem um die Anerkennung von kosovarischen Personalausweisen an den Grenzübergängen zu Serbien und bei einem um ein Energieabkommen. Vučić hat keine dieser Vereinbarungen umgesetzt. Mit Serbien muss man immer zweimal verhandeln: Einmal muss man sie überzeugen, zu unterzeichnen, und das zweite Mal, das Unterzeichnete auch wirklich umzusetzen. Letzteres ist schwieriger als das Erste.
Vučić sagt, dass die EU und USA massiven Druck auf Serbien ausüben, um eine Einigung zu erzwingen. Ist das sinnvoll?
Osmani
Ganz im Gegenteil. Es wird viel zu wenig Druck auf Vučić ausgeübt. Er liebt es, der „Drama-King“ zu sein und zu übertreiben. Die Realität ist, dass es aus dem Westen sehr viel Appeasement ihm gegenüber gibt. Und das, obwohl Vučić alles andere als prowestlich ist. Ich spreche hier von einem Vučić, dessen Land als einziges in Europa keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Ein Vučić, der in Serbien „humanitäre Zentren“ eröffnet, die de facto der russischen Spionage dienen.
Sie meinen das serbisch-russische humanitäre Zentrum in Niš. Es besteht der Verdacht, dass Russland von dort aus die Amerikaner ausspioniert, die im Kosovo eine der größten US-Basen Europas unterhalten. Um korrekt zu bleiben: Einen ultimativen Beweis für den Spionagevorwurf gibt es nicht.
Osmani
Es geht noch weiter. Wir sprechen von einem Vučić, der billige Verträge mit Gazprom abschließt, während Europa versucht, vom russischem Gas und Öl wegzukommen. Wir sprechen von einem Vučić, der Serbien zu einem sicheren Hafen für russische Kriminelle und Unternehmen gemacht hat, die auf EU-Sanktionslisten stehen. Wir sprechen von einem Vučić, der zu Putins größtem Stellvertreter in Europa geworden ist. Reisen Sie durch die Balkanregion, und fragen Sie, ob irgendjemand Angst hat, von Kosovo, Montenegro, von Albanien oder Nordmazedonien angegriffen zu werden. Niemand hat Angst vor uns. Aber alle fürchten sich vor einer Destabilisierung Serbiens. Vučić hat es längst verdient, von der EU sanktioniert zu werden, zum Beispiel durch das Einfrieren von Beitrittsgesprächen.
Aber wie sinnvoll wäre das? Umfragen zufolge wollen nur noch 35 Prozent der Serben in die EU.
Osmani
Der Abbruch der Beitrittsgespräche wäre eine Warnung an die Politiker des Landes. Dann wäre für die internationale Gemeinschaft klar, wo Serbien steht. Serbien ist nicht neutral. Serbien ist prorussisch. Wenn wir etwas aus den letzten Jahren lernen können, dann das: Appeasement ermutigt und bestärkt Autokraten darin, noch autokratischer zu werden. Putin ist dafür das beste Beispiel. Der Mann kam viel zu lange ungeschoren davon. Zuerst mit der von Moldau abtrünnigen Provinz Transnistrien, dann mit der Annexion der Krim. Das ist der Grund, warum in der Ukraine heute Krieg herrscht. Ich halte es deswegen für wichtig, der Politik von Vu č i ć jetzt etwas entgegenzusetzen und nicht dann, wenn es zu spät ist.
Das sagen Sie. Aber Serbien sagt: Damit wir den Kosovo anerkennen, wollen wir im Gegenzug etwas zurück. Was konkret könnte das sein?
Osmani
Genau diese Logik wird auch im Krieg in der Ukraine angewandt. Was soll Russland bekommen, damit der Krieg aufhört? Wenn uns die Geschichte eines gelehrt hat, dann: Wer Kriegsverbrecher belohnt, der ermutigt sie, dasselbe wieder zu tun.
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Vučić steht innenpolitisch unter Druck. Er will seinen Wählern sagen: Schaut her, das habe ich für die Anerkennung des Kosovo bekommen!
Osmani
Serbien hat bereits zu viel bekommen. Wir haben vor der Unabhängigkeit Zugeständnisse gemacht. In den zwölf Jahren seit dem Beginn der EU-Verhandlungen kamen viele weitere Zugeständnisse dazu (zum Beispiel Verhandlungen über die Bildung eines serbischen Gemeindeverbandes, siehe Kasten, Anm.). All das hat unser Land an den Rand der Funktionsunfähigkeit gebracht. Wir brauchen keine weitere Republika Srpska (serbische Entität Bosnien-Herzegowinas, Anm.) in unserer Region. Wir brauchen multiethnische Modelle und keine ethnische Trennung. Sie haben mich gefragt, was wir Serbien als Belohnung anbieten könnten. Meine Antwort lautet: Als Belohnung für was? Als Belohnung für die Begehung von Kriegsverbrechen? Als Belohnung für die Destabilisierung seiner Nachbarn? Ist es das, was die EU belohnen will? Serbien hat sich auch 24 Jahre nach dem Krieg nie für das, was in den 1990er-Jahren passiert ist, entschuldigt. Es hat die Verbrechen nie zugegeben oder die Täter vor Gericht gestellt.
Am Zaun vor Ihrem Büro hängt ein Plakat. Es zeigt grausam entstellte Körper, aber auch Porträts von lachenden Menschen. Sie sind während des Krieges verschwunden – und nie wieder aufgetaucht.
Osmani
Wir reden von knapp 2000 sogenannten vermissten Personen. Sie wurden mit Gewalt verschleppt, und die Vermutung liegt nahe, dass sie in serbischen Massengräbern liegen. Nur dann, wenn Serbien Lehren aus der Vergangenheit zieht, kann es eine Perspektive für einen langfristigen Frieden geben. Kosovo ist bereit, über die Rechte der serbischen Minderheit zu diskutieren. Aber das wäre ein Zugeständnis an die Serben, die in unserem Land leben, und nicht an Belgrad.
Nördlich der Stadt Mitrovica leben viele Serben. Es kommt regelmäßig zu Spannungen und Straßenblockaden. Viele dort erkennen nicht einmal Ihr Amt als Präsidentin an. Was würden Sie diesen Leuten antworten?
Osmani
Ich sage: Fallt nicht auf Propaganda herein, denn sie ist eine der zerstörerischsten Kräfte in einer Gesellschaft. In den 1990er-Jahren hat Slobodan Milošević (serbischer Präsident und Kriegsverbrecher, Anm.) die Serben dazu gebracht, hinter ihm zu stehen und Kriege zu führen. Das Ergebnis waren 150.000 getötete Zivilisten, massive Zerstörung und Millionen von Flüchtlingen. Vučić nennt Milošević heute einen großen Mann mit guten Absichten. Ich hoffe, dass sich die jungen Menschen im Kosovo, auch die Serben, kein Vorbild daran nehmen. Die Serben im Norden des Kosovo haben keine Angst vor mir. Sie haben Angst vor den aus Belgrad finanzierten und unterstützten kriminellen Banden, die Menschen bedrohen und einschüchtern. In der Vergangenheit gab es auch Morde. Autos wurden angezündet, Häuser niedergebrannt und so weiter. Davor haben die Menschen Angst.
Zur Zeit Jugoslawiens war Mitrovica eine multiethnische Stadt. Jetzt ist sie in einen serbischen Norden und einen albanischen Süden geteilt. Sie wurden 1982 in Mitrovica geboren. Können Sie sich noch an das friedliche Zusammenleben erinnern?
Osmani
Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Zeit. Und Mitrovica könnte wieder so werden: lebendig, multiethnisch, eine Stadt, in der jeder den anderen respektiert, unabhängig von Ethnie oder Religion. Voraussetzung dafür ist, dass Vučić aufhört, seine Nachbarn zu destabilisieren.
Wo wir wieder beim Dialog wären: Frankreich und Deutschland haben einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, der von der EU und den USA unterstützt wird. Haben Sie eine Kopie bekommen?
Osmani
Ja, natürlich.
Ich frage, weil gerade sehr viel über dieses Papier gerätselt wird. Es ist nicht öffentlich.
Osmani
Wir haben den Vorschlag ausgedruckt überreicht bekommen. Es geht um vier oder fünf Seiten. Für manche mag das nur ein Stück Papier sein. Aber hier geht es um die Zukunft unserer Kinder. Wir wollen, dass sie im Kosovo aufwachsen, ohne durchmachen zu müssen, was wir durchgemacht haben. Deswegen sind wir äußerst vorsichtig, wenn es um diesen Vorschlag geht.
Der Vorschlag sieht vor, dass Serbien den Kosovo nicht formell anerkennt, sondern Beziehungen aufnimmt und mit seiner Blockadepolitik aufhört. Ähnlich wie früher die DDR und Westdeutschland. Ist das nachhaltig?
Osmani
Noch viel weniger nachhaltig ist, was Serbien im Gegenzug für diese De-facto-Anerkennung angeboten wird. In dem Vorschlag ist von der „Selbstverwaltung der Serben“ die Rede. Wenn ich mich mit drei Juristen zusammensetze, werde ich mindestens zehn verschiedene Meinungen darüber bekommen, was das in der Praxis bedeuten soll. Die EU verwendet gerne eine zweideutige Sprache, damit beide Parteien die Abkommen so auslegen können, wie es ihnen gerade passt. Diese Strategie müssen wir hinter uns lassen. Denn wir sind es, die mit den Folgen leben müssen.
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Es gibt kein Land auf dem Balkan, das sich so lautstark mit der Ukraine solidarisiert wie der Kosovo. Dabei erkennt Kiew nicht einmal die Staatlichkeit Kosovos an.
Osmani
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, sobald die Ukraine diesen Krieg gewinnt, eine Anerkennung erhalten werden. Die Ukraine weiß – genau wie der Kosovo –, was es bedeutet, einen hegemonialen Nachbarn zu haben, der die eigenen Gebiete annektieren will. Aber dieses Land befindet sich gerade in einem schrecklichen Krieg. Deshalb liegt unser Hauptaugenmerk jetzt darauf, ihnen zu helfen, diesen Krieg zu gewinnen.
Im März 2022, einen Monat nach Beginn des Angriffskrieges, haben Sie dem US-Präsidenten Joe Biden einen Brief geschrieben, um für eine Aufnahme des Kosovo in die NATO zu werben. Haben Sie je eine Antwort bekommen?
Osmani
Ja, bei einem Treffen mit Außenminister Antony Blinken in Washington. Die US-Regierung unterstützt die euro-atlantische Integration des Kosovo voll und ganz.
Das reicht aber nicht aus, denn vier NATO-Mitglieder blockieren die Aufnahme des Kosovo. Spanien zum Beispiel – aus Angst vor dem abtrünnigen Katalonien.
Osmani
Diese Parallele habe ich nie verstanden. Kosovo und Katalonien lassen sich überhaupt nicht miteinander vergleichen, also rein historisch und rechtlich gesprochen. 2010 hat der Internationale Gerichtshof entschieden, dass die Unabhängigkeit des Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstoßen hat. Und abgesehen davon: Warum sollte sich Spanien mit einem Land wie Serbien vergleichen wollen, das sich des Völkermords schuldig gemacht hat?
Der Kosovo ist ein Produkt der NATO. Er würde ohne sie nicht existieren. Heute ist die NATO im Kosovo, aber der Kosovo nicht in der NATO. War der Westen nicht konsequent genug?
Osmani
Ich halte es für äußerst wichtig, dass der Westen den Kosovo weiterhin als einen gemeinsamen Erfolg betrachtet. Nicht zuletzt, um eine klare Botschaft an Putin und seine Freunde zu senden. Der Kosovo ist die größte außenpolitische Erfolgsgeschichte der westlichen Demokratien. Und diesen Erfolg sollte sich der Westen nicht nehmen lassen. Putin sagt: „Seht her, ihr habt hier versagt, ihr habt dort versagt, und ihr habt auch im Kosovo versagt!“ Nein, der Westen hat im Kosovo nicht versagt. Der Westen stand 1999 an der Seite der Unterdrückten. Er hat uns zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten verholfen. Und jetzt brauchen wir die Hilfe des Westens, um das, was wir gemeinsam erreicht haben, zu bewahren. Dazu müssen wir in die NATO aufgenommen werden. Es ist die allerletzte Meile. Das würde den Staatsaufbau im Kosovo abschließen, und das hätte positive Auswirkungen auf die gesamte Region und den gesamten europäischen Kontinent.
Österreichs Kontingent in der Friedenstruppe KFOR ist zuletzt auf 300 Soldaten gesunken. Sollte Wien aufstocken?
Osmani
Während das eine Land die Zahl senkt, erhöhen andere Länder ihre Kontingente. Am Ende ist die Gesamtanzahl wichtig. Natürlich wären mehr KFOR-Truppen gut, wenn es zu weiteren Spannungen mit Serbien kommt.
Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.