Österreicher in Hand der IS-Miliz

Libyen: Von IS entführter Österreicher - Chronik eines Überfalls

Libyen: Von IS entführter Österreicher - Chronik eines Überfalls

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Als die Geländewagen vor dem Ölfeld von al-Ghani auftauchten, wusste Ali*, dass es zu spät war. In der Hügellandschaft in Zentrallibyen hatten sich die feindlichen Kämpfer der Anlage, die von dem österreichisch-maltesischen Unternehmen Vaos betrieben wird, unbemerkt genähert. Ein Konvoi von 50 Jeeps sei herangebraust, sagt Ali, die Fahrzeuge seien mit Fahnen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ beflaggt gewesen.

Ali, der als Wächter arbeitet, hatte an jenem Freitag, dem 6. März, seinen freien Tag und rastete nahe der Zufahrt zum Camp. Weil er nicht im Dienst war, trug er keine Uniform. Das rettete ihm das Leben.

Ich sollte nicht weiter mit den Ungläubigen gemeinsame Sache machen

Der junge Mann, der aus dem Süden Libyens stammt, berichtet im Gespräch mit profil von über 100 maskierten Kämpfern, die am Überfall beteiligt gewesen seien. „Erst schlugen sie mich und nahmen mir das Telefon ab“, erzählt er. „Als ich dann aber sagte, ich sei nur ein Koch, ließen sie mich in Frieden. Sie gaben mir sogar Schokolade und einen 50-Dinar-Geldschein und brüllten mich an, ich sollte nicht weiter mit den Ungläubigen gemeinsame Sache machen.“ Ali sagt, einige der Männer hätten mit marokkanischem und tunesischem Akzent gesprochen.

Gegen seine Kollegen gingen die Angreifer mit äußerster Brutalität vor. Acht junge Männer, die wie Ali als Wachen arbeiteten, wurden mit großen Fleischermessern enthauptet. „Solche, wie wir sie zum Zerteilen der großen Stücke in der Küche verwenden“, sagt Ali. Ein neunter Kollege starb an einem Herzanfall, während er von seinem Versteck aus die Szene beobachtete. Nach den Morden durchkämmten einige der Männer die Gebäude des Camps. „Sie gingen gezielt vor und schienen gewusst zu haben, dass sich hier Ausländer befanden. Sie hatten Minibusse mitgebracht, um Gefangene abtransportieren zu können“, sagt Ali.

Neun internationale Mitarbeiter entführt

Und tatsächlich: Die neun internationalen Mitarbeiter des Vaos-Camps blieben unverletzt und wurden vor Alis Augen mit vorgehaltenen Waffen zum Einsteigen gezwungen. „Dann fuhren die Terroristen mit ihnen davon.“ Die Geiseln kommen aus fünf Nationen: Dalibor S., ein 39 Jahre alter Camp-Manager, ist Österreicher, die anderen Entführungsopfer sind ein tschechischer Staatsbürger, vier Filipinos, zwei Bangladescher und ein Ghanaer. Ali ist inzwischen in sein Dorf zurückgekehrt, wo er mit seiner Familie wohnt. Er fürchtet immer noch um sein Leben und möchte deshalb anonym bleiben. Noch einmal werde er nicht so viel Glück haben wie an diesem 6. März, sagt er. Mit Dalibor S. ist erstmals ein Österreicher der gefürchteten Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) in die Hände gefallen. Das Unternehmen Vaos, das seine Hauptniederlassung in Linz hat und auf Malta registriert ist, muss um seine acht Mitarbeiter bangen, denn der IS ist berüchtigt für die extreme und demonstrativ zur Schau gestellte Brutalität, mit der er seine Gefangenen behandelt. Das österreichische Außenministerium hat nach eigenen Angaben keinen Kontakt zu den Entführern und verfügt demnach vorerst über keinen Beweis, dass die Geiseln am Leben sind. Auch Lösegeldforderungen gibt es noch nicht.

Hätte man die Gefahr früher erkennen müssen?

Derzeit kann wohl niemand den Geiseln helfen. Sie sind Opfer eines Terroranschlags in einem Land, in dem es keine Staatsgewalt gibt. Doch eine Frage drängt sich auf: Hätte man die Gefahr für die Arbeiter an den libyschen Ölfeldern früher erkennen müssen? Ehe der IS al-Ghani am 6. März überfallen hat, ist er langsam, sehr langsam, näher gekommen. Jeder musste das bemerkt haben. Auch die Verantwortlichen von Vaos.

Der Vorfall hat eine lange Vorgeschichte – und diese beginnt im 2000 Kilometer entfernten Raqqah, einer am Euphrat gelegenen Stadt im Osten von Syrien. Im März 2013 bringt der „Islamische Staat“ die 250.000 Einwohner zählende Stadt unter seine Kontrolle. Es ist die erste derartige Eroberung, die der von Abu Bakr al-Baghdadi geführten Gruppierung gelingt. Jetzt, zwei Jahre später, erstreckt sich das Herrschaftsgebiet der Terrormiliz von der syrisch-türkischen Grenze den Euphrat entlang, über die irakische Grenze hinaus und weiter im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris bis nahe an die irakische Hauptstadt Bagdad. Der IS kontrolliert damit ein Territorium von der Fläche Belgiens mit einer Bevölkerung von acht Millionen Menschen. Von Anfang an ist der Betrieb erbeuteter Ölfelder eine der Haupteinnahmequellen des IS.

IS-Miliz unter Druck

Doch im September des Vorjahres geraten al-Baghdadi und seine Schergen unter Druck. Nach dem Angriff der Milizen auf die an der türkisch-syrischen Grenze gelegene Stadt Kobane formiert sich ihnen gegenüber eine internationale Koalition. Über 60 Staaten beteiligen sich seither an der von den USA angeführten Offensive gegen den IS, darunter auch die Europäische Union, Kanada, die Nato, Saudi-Arabien und die Türkei. Sie schaffen es, der Miliz empfindliche Schläge zu versetzen.

Für Al-Baghdadi bedeutet jede militärische Niederlage und jede zerstörte Raffinerie mehr als nur einen Gebietsverlust und das Wegbrechen von Einnahmen. Tausende ausländische Unterstützer hat der IS-Chef seit der Einnahme von Raqqah mit dem utopischen Versprechen eines grenzübergreifenden Kalifats angelockt. Nachdem die Expansion im syrisch-irakischen Kernland ihren vorläufigen Zenit erreicht hat, droht Al-Baghdadi den Nimbus des Unbesiegbaren einzubüßen. Seine Strategie: anderswo Boden gut zu machen.

Kein anderes Land bietet sich dabei so sehr an wie Libyen. Bald nach dem Sturz des Langzeitherrschers Muammar Al-Gaddafi im Oktober 2011 stehen einander dort zwei Regierungen und zwei Parlamente unversöhnlich gegenüber: Die von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Führung residiert im Osten in der Stadt Tobruk, eine von Islamisten dominierte Gegenregierung kontrolliert von der Hauptstadt Tripolis aus den Westen des Landes.

1000 Kilometer liegen die Zentren der verfeindeten Lager voneinander entfernt. Die Front des Machtkampfes verläuft exakt durch jene Gebiete, in denen sich 70 Prozent der Öl- und Gasreserven des Landes befinden. Kurz nach Gaddafis Tod hat die Ölproduktion hier für kurze Zeit dank Unternehmen wie Vaos dasselbe Volumen erreicht wie vor Ausbruch der Revolution 2011. Doch dann dringt der IS schleichend in das Vakuum vor, das im post-revolutionären Libyen entstanden ist. Das Risiko für die Ölarbeiter wächst.

Belegschaft von 62 auf 14 Personen reduziert

Wieso Vaos seine Mitarbeiter in Libyen belassen hat, wollte das Unternehmen auf Anfrage von profil nicht beantworten. In einer Aussendung nimmt Vaos jedoch zu diesem Thema Stellung: Demnach habe das Unternehmen die Belegschaft in al-Ghani bereits im Februar dieses Jahres von 62 auf 14 Personen reduziert. Das Camp sei in einer gesicherten Zone gelegen und von bewaffnetem Wachpersonal geschützt worden. Die Beschäftigten hätten das Recht gehabt, jederzeit auf Kosten des Unternehmens abzureisen, so die Vaos-Geschäftsführer in ihrem schriftlichen Statement. „Wer blieb, tat dies freiwillig“, heißt es darin. Vaos ist seit 30 Jahren in Libyen tätig, während der Revolution hat das Unternehmen nach eigenen Angaben alle seine Mitarbeiter ausgeflogen.

Die österreichische Regierung hebt die Reisewarnung für Libyen während der Revolution 2011 auf Stufe sechs an – das Maximum innerhalb der Sicherheitsmatrix des Außenministeriums –, und warnt seither nicht nur vor der Einreise ins Land, sondern empfiehlt auch dringend die Ausreise.

Die IS-Miliz fasst in Libyen immer mehr Fuß und betrachtet das neu eroberte Territorium als doppelte Chance: Einmal als Einfallstor nach Afrika, wo sich zuletzt die nigerianische Terror-Gruppe Boko Haram als Teil des „Islamischen Staates“ deklariert hat und wo sich laut algerischen Medienberichten bereits Teile der „Al-Kaida im Maghreb“ dem IS angeschlossen haben.

Brutstätte des islamistischen Widerstandes

Und als Vorbrücken nach Europa: 350 Kilometer Luftlinie sind es von der libyschen Küstenstadt Derna bis zur griechischen Mittelmeerinsel Kreta. Derna gilt als Hochburg der Islamisten in Libyen. Die erste libysche Gruppe, die den Anschluss an den „Islamischen Staat“ proklamiert hat, stammt aus Derna. Im Oktober 2014 leistet der „Islamische Jugend-Rat“ dem selbsternannten Kalifen al-Baghdadi den Treueschwur. Die Region trägt von da an als Teil des Kalifats den Namen „Wilayat Barqa“. Die 200.000 Einwohner-Stadt Derna wird nach denselben ultrakonservativen Gesetzen regiert wie die besetzten Gebiete im Irak und in Syrien. Als sogenannter Emir fungiert der aus dem Jemen stammende Abu al-Baraa al-Azdi. Dass ausgerechnet Derna zum Brückenkopf des IS in Libyen wurde, ist kein Zufall. Die Stadt war unter Gaddafi eine Brutstätte des islamistischen Widerstandes gegen das Regime in Tripolis. Von hier aus zogen Freiwillige in den „Heiligen Krieg“ nach Afghanistan, aus keiner anderen ausländischen Stadt schlossen sich so viele Kämpfer der Al-Kaida im Irak an, der Vorgängerorganisation des IS.

Doch längst reicht die Macht des IS über die alte Hochburg im Osten Libyens hinaus. Anfang 2015 entstehen weitere Stützpunkte. Im Jänner tauchen Kämpfer in einer entlegenen Sahara-Region im Süden Libyens auf, im Februar paradieren Konvois mit IS-Fahnen durch die für den Ölhandel wichtige Hafenstadt Sirte. In Sirte rufen die IS-Milizen die Gründung des „Wilayat Tarablus“, der libyschen Kalifat-Provinz im Westen aus und setzen den Tunesier Abu Thalha als Emir ein. Es ist die Gruppe der IS-Miliz in Sirte, der die meisten Experten den Mord an 21 ägyptischen Gastarbeitern, allesamt koptische Christen, zurechnen. Ob diese oder ein anderer IS-Vebründeter für den Angriff auf das al-Ghani-Ölfeld verantwortlich ist, bleibt unklar.

Bereits im August des Vorjahres beschließt das Außenamt in Wien, den Sitz der österreichischen Botschaft aus Sicherheitsgründen nach Tunesien zu verlegen, und legt den letzten noch verbliebenen Österreichern in Libyen nahe, das Land zu verlassen. Mitte Februar, kurz nach der Veröffentlichung des Videos, das die Enthauptung der entführten ägyptischen Gastarbeiter zeigt, schließen Italien und Frankreich als letzte westliche Nationen ihre Botschaften in Tripolis.

Lage in Libyen verschärft sich dramatisch

Ab Februar dieses Jahres verschärft sich die Lage rund um die Ölanlagen dramatisch. Bei einem Überfall auf eines der größten Ölfelder des Landes, in Mabrouk, sterben mindestens zwölf Menschen, darunter vier Philippiner. Drei weitere Philippiner gelten seither als vermisst. Die Regierung in Tobruk macht den libyschen IS-Ableger für den Angriff verantwortlich. Am 3. März überrennt die Miliz abermals das Ölfeld in Mabrouk und greift zusätzlich die Anlagen von Bathi an. Die libysche Öl-Behörde sieht sich anschließend zu der Bekanntmachung gezwungen, nicht mehr für die Sicherheit bei der Ölförderung garantieren zu können und erklärt die Verträge der Unternehmen mit der Regierung für außer Kraft gesetzt.

Die Folge: Fortan stehen die Terminals von Sidra und Ras Lanuf still, die für die Hälfte des Erdöl-Outputs Libyens verantwortlich sind. Die philippinische Regierung hebt ihrerseits die Reisewarnung für Libyen auf die höchste Stufe, was die verpflichtende Evakuierung aller noch in Libyen aufhältigen Philippiner zur Folge hat. Die Zahl der Philippiner in Libyen sinkt von 13.120 auf rund 4000.

Mitte Februar legt das staatliche Öl-Unternehmen NOC Vaos laut eigenen Angaben nahe, die Region zu verlassen. Vaos bestreitet, eine solche Aufforderung erhalten zu haben. Doch just am 6. März, dem Tag des Überfalls auf das al-Ghani-Feld, habe das Unternehmen die Evakuierung von zwei Camps angeordnet. Doch während die 51 Mitarbeiter in Zella, südwestlich von al-Ghani, noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden konnten, kam die angebliche Order für das Team in al-Ghani zu spät.

Es war der verhängnisvolle Freitag, als Ali die Geländewagen auftauchen sah.