Ukraine-Krieg

Russlandexperte Mangott: „Der Krieg kommt jetzt in nahezu jedem Haushalt an“

Exakt 14 Minuten und 20 Sekunden: So lange dauerte die Rede von Wladimir Putin heute Morgen. Der Russlandexperte Gerhard Mangott hat den ganzen Tag damit verbracht, sie zu analysieren. Im Interview mit profil zieht er seine Lehren daraus.

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Sie haben heute über nichts anderes gesprochen und nachgedacht als Putins Rede. Welche Lehren ziehen Sie daraus?
Mangott
Putin hat lange gezögert, diesen Schritt zu setzen. Aus Angst vor den politischen Konsequenzen und Risiken, die diese Teilmobilmachung mit sich bringt. Aus militärischer Notwendigkeit hat er sich jetzt doch durchgerungen. Er hat das getan, was aus Sicht der russischen Armee getan werden muss, nämlich die Reihen der Armee gestärkt. An manchen Frontabschnitten sind sie sehr ausgedünnt, weil viele Soldaten gefallen sind und noch mehr verwundet wurden. Viele haben auch ihren Dienst quittiert. All das hat die erfolgreiche Offensive der Ukraine erst ermöglicht. Es war der Armeeführung klar: Wenn es keine personelle Verstärkung gibt, sind weitere erfolgreiche Offensiven der Ukraine nicht nur wahrscheinlich, sondern nahezu sicher.
Putin hat also eine sehr unpopuläre Entscheidung getroffen.
Mangott
Ja, denn bislang war die Strategie der Führung, den Anschein einer Normalität aufrechtzuerhalten. Jetzt, wo Väter und Söhne von ihren Familien getrennt oder aus ihren Betrieben herausgerissen werden, kommt der Krieg nahezu in jedem Haushalt an. Das könnte die Stimmung in der Bevölkerung drehen. Und genau das war die Befürchtung Putins. Ich glaube trotzdem nicht, dass sich eine Mehrheit gegen den Krieg bilden wird und es zu andauernden großen Protesten kommt. Viele Oppositionelle sind im Gefängnis oder haben Russland verlassen. Und es gibt strikte Zensurgesetze, die jeden Ansatz der Diskreditierung der russischen Streitkräfte unter Strafandrohung stellen. Es wird Proteste geben, aber sie werden Putin nicht gefährlich.
Von „Krieg“ spricht Putin aber noch immer nicht, oder?
Mangott
Ich hätte es für möglich gehalten, dass er genau das in dieser Rede erstmals tut. Aber er hat explizit weiter von einer Spezialoperation gesprochen. Ich denke, das hat auch einen Grund. Nachdem er bereits eine Teilmobilmachung verkündet hat, wollte Putin die Gesellschaft nicht noch mehr schocken und den Kriegszustand ausrufen.
Der Westen deutet diese Rede als Zeugnis von Schwäche. Wie sehen Sie das?
Mangott
Der deutsche Kanzler Scholz sprach von einem Akt der Verzweiflung. Das halte ich dann doch für übertrieben. Ja, die Rede ist eine Reaktion auf militärische Schwäche, aber sie ist kein Zeichen der militärischen Verzweiflung. Sonst könnte man ja die Hoffnung haben, dass der Krieg bald zu Ende ist.
Das Gegenteil ist der Fall. Putin eskaliert mit seiner Rede. In einer neuen Form?
Mangott
Die Referenden im Donbass werden das gewünschte Ergebnis bringen und die Annexion dieser Gebiete wird rasch über die Bühne gehen. Spätestens am 28. September wird das der Fall sein. Dann sind die von Russland militärisch eroberten Gebiete nach der Lesart Moskaus offiziell russisches Staatsgebiet. Das hebt eine ukrainische Bodenoffensiven auf eine neue Ebene.
Warum?
Mangott
Eine Offensive gegen ein von Russland reklamiertes Gebiet wäre eine neue Situation. Dann würden ukrainische Soldaten den Fuß auf von Russland beanspruchten Boden setzen. Deswegen spricht Putin davon, alle zur Verfügung stehenden Mitteln auch einzusetzen.
Er sagt wortwörtlich: „Das ist kein Bluff.“
Mangott
Damit will er die Ukraine abschrecken, weiter Offensiven durchzuführen und den Westen, Kampfpanzer und weiterreichende Artillerie zu liefern. Dass sich die Ukraine abschrecken lässt, halte ich für unwahrscheinlich. Im Westen wird es keine geschlossene Reaktion geben. Aber die meisten westlichen Staaten lassen sich von Russland nicht abschrecken.

Dass sich die Ukraine abschrecken lässt, halte ich für unwahrscheinlich.

Gerhard Mangott

Russlandexperte Gerhard Mangott: "Zu spekulieren, ob Putin blufft oder nicht, halte ich in dieser dramatischen Situation für unangebracht."

Putin droht auch mit Nuklearwaffen. Laut der russischen Militärdoktrin können diese eingesetzt werden, wenn die Existenz des Landes auf dem Spiel steht. Also auch, wenn die ukrainische Armee den Donbass zurückzuerobern versucht?
Mangott
Das ist die große Unsicherheit. In der Nukleardoktrin ist von einem konventionellen Angriffskrieg die Rede. Da denkt man an eine militärische Niederlage Russlands bis hin zur Besetzung weiter Teile Russlands. Aber natürlich kann ein Präsident jederzeit sagen: Der Versuch, die Krim oder den Donbass zurückzuerobern, setzt die territoriale Integrität Russlands in Frage. Insofern würde ihm das den Einsatz von Nuklearwaffen eröffnen.
Gehören Sie zu jenen Beobachtern, die die Nukleardrohung ernst nehmen?
Mangott
Ja, ich nehme sie ernst. Zu spekulieren, ob Putin blufft oder nicht, halte ich in dieser dramatischen Situation für unangebracht. Der Einsatz von Nuklearwaffen ist das Mittel der letzten Wahl, zum Beispiel, wenn sich ein militärisches Desaster für Russland abzeichnet. Das würde sicherlich in einem Stufenprozess ablaufen. Zuerst würde Putin explizit mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohen und nicht verdeckt wie bisher. Wenn das die Ukrainer nicht aufhält in ihrem Vormarsch, könnte auch eine Testdetonation auf unbewohntem Gebiet durchgeführt werden, um noch deutlicher zu machen, dass Russland es ernst meint. Wenn die Ukraine dann immer noch nicht einlenkt, schließe ich den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen im ukrainischen Hinterland leider nicht aus.
Wie könnte eine geschlossene Reaktion des Westens auf diese Rede aussehen?
Mangott
Auf der rhetorischen Ebene wird man versuchen, Geschlossenheit zu signalisieren. Aber wenn es darum geht, welche zusätzlichen Waffen an die Ukraine geliefert werden sollen, hört die Geschlossenheit auf. Gerade die deutsche Regierung hat immer argumentiert, dass es das Eskalationsrisiko nicht zulässt, unbedacht vorzugehen. Scholz wird dabei bleiben: Das Risiko ist zu hoch, um diese Waffenlieferungen durchzuführen.
Was bedeutet eine Teilmobilmachung für die Ukraine, und wie wahrscheinlich ist es, dass Putin die Zahl der Reservisten ausweitet?
Mangott
Das hängt vom Verlauf des Krieges ab. Es könnten mehr werden. Die Reservisten werden für verschiedene Zwecke eingesetzt: Die Reihen an der Front zu stärken, Rotation von Truppen zu erlauben, die seit mehr als 200 Tagen kämpfen und längst Heimaturlaub zur Erholung bräuchten. Putin braucht auch Soldaten, um eroberte Gebiete militärisch zu überwachen und vor dem Angriff ukrainischer Partisanen zu schützen.
Putins Rede ist voller absurder Falschinformation. Er sagt, dass der Westen Russland angreife, ja sogar zerstören wollte. Müssen westliche Regierung darauf antworten?
Mangott
Die Rede ist in der Tat eine Verdrehung der Tatsachen. Aber diese Skizzierung einer Bedrohungssituation war für Putin notwendig, um Verständnis in der Bevölkerung für die Teilmobilmachung zu erwecken. Der Westen muss jetzt auf allen Kanälen hinweisen, dass es keine nukleare Drohung des Westens gegen Russland gibt. Dass der Westen keinen Krieg gegen Russland führen will und Russland auch nicht aufteilen möchte. Es gibt zwar Bewegungen, die von einer Aufspaltung Russlands sprechen, aber das ist nirgendwo offizielle Politik.
Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.