Martin Staudinger: Intelligente Grenzen

Auf Dauer nach der Logik des Nationalstaats gegen die Corona-Pandemie anzukämpfen ergibt wenig Sinn – und macht viel kaputt.

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In den vergangenen Wochen machten die Bürger von Moschendorf im Bezirk Güssing und Pinkamindszent im Komitat Vas (Ungarn) die gleiche unangenehme Erfahrung wie die Leute aus Kleinblittersdorf im Regionalverband Saarbrücken (Deutschland) und Grosbliederstroff im Département Moselle (Frankreich): Sie waren von einem Tag auf den anderen abgeschnitten – viele von ihren Freunden und Bekannten; manche von ihren Jobs; einige, die sich auf der anderen Seite der Grenze angesiedelt hatten, auch von der Versorgung in ihrem eigentlichen Heimatland.

Laut „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ konnten Tausende Franzosen ihre Arbeitsplätze in Deutschland zeitweise gar nicht, zeitweise nur unter Inkaufnahme stundenlanger Umwege erreichen, weil die Brücke zwischen Grosbliederstroff und Kleinblittersdorf gesperrt war. Gegenüber dem ORF Burgenland berichtete ein Österreicher, der seine Pension im unmittelbar neben Moschendorf liegenden Pinkamindszent verbringt, von seinen Schwierigkeiten, sich Medikamente aus der Apotheke in Österreich zu besorgen. Ähnlich erging und ergeht es unzähligen anderen Bewohnern von Grenzlandregionen in vielen Teilen Europas.

Die Schließung nationalstaatlicher Territorien zur Bekämpfung der Corona-Pandemie war eine verständliche Reaktion auf die völlig neue Situation, in der sich der Kontinent durch den Ausbruch der Seuche unversehens wiederfand. In der Not greift man auf scheinbar bewährte Problemlösungsmuster zurück, und der Erfolg gibt den Maßnahmen vorerst durchaus recht – epidemiologisch zumindest.

Wie es ökonomisch aussieht, ist freilich eine andere Frage. Immerhin wurden zur Eindämmung der Seuche ganze Volkswirtschaften weitgehend voneinander abgeriegelt. Der Schaden, der dadurch entstanden ist, lässt sich noch gar nicht ermessen. Schon klar: Nachher ist immer gut schlaumeiern. Aber dazulernen sollte auch nicht verboten sein.

Angesichts der Erwartung, dass es bis zu einer wirksamen Therapie zur Behandlung von Covid-19 – also die nächsten Monate, wenn nicht sogar Jahre – immer wieder zu Ausbrüchen der Krankheit kommen dürfte, wird das Konzept der nationalstaatlichen Abschottung im Corona-Krisenfall nämlich schwerlich durchzuhalten sein. Andernfalls riskiert Europa tatsächlich den wirtschaftlichen Kollaps.

Schon jetzt hat sich gezeigt: Den kleinen Grenzverkehr zwischen dem französischen Elsass – einem Gebiet mit vielen Corona-Infektionen – und dem deutschen Saarland zu stoppen, dürfte zu einem gewissen Zeitpunkt angebracht gewesen sein, um eine noch schnellere Ausbreitung der Pandemie zu verhindern. In anderen Grenzregionen des Landes, beispielsweise im Norden und Nordosten, wäre es nicht notwendig gewesen. Das Burgenland komplett vom Westen Ungarns abzuriegeln, war mangels eines Seuchen-Hotspots in der Umgebung wohl nicht notwendig.

Stur nationalstaatliches Handeln schadet unter dem Strich mehr als es nutzt.

Wenn es, was zu befürchten ist, in nächster Zukunft zu neuen Infektionsketten kommt, werden diese möglicherweise auch grenzübergreifend sein. Das heißt: Es wäre dann ebenso vernünftig wie effizient, sie auch grenzübergreifend und kleinräumig zu bekämpfen, statt gleich ganze Staaten in Quarantäne zu schicken. Warum soll sich beispielsweise Deutschland komplett von Polen und Dänemark abriegeln, bloß weil die Covid-19-Erkrankungen in einem Teil des Landes oder bei einem anderen Nachbarn wieder ansteigen? Warum sollen Ungarn, die Slowakei und Tschechien die Schotten zu Österreich dichtmachen, wenn das Virus (was hoffentlich nicht passiert) wieder in Vorarlberg umgeht?

Ob die seltsamen bilateralen Abkommen (Deutsche Touristen im Sommer doch nach Österreich? Tschechische Urlauber über einen Korridor an die Adria?), an denen derzeit herumprobiert wird, ein tragfähiges Konzept sind, ist mehr als fraglich. Sie wären Makulatur, sobald die Pandemie in irgendeinem Winkel eines der beteiligten Länder wieder aufflackert.

Um zu verhindern, dass in diesem Fall sofort wieder alles stillsteht, bräuchte es keine unverrückbaren, sondern vielmehr intelligente Grenzen. Sprich: die Möglichkeit, bei Bedarf flexible Demarkationslinien rund um Ausbruchsherde hochzuziehen. Das würde nicht nur ein umfassendes Monitoring voraussetzen, das gefährliche Entwicklungen etwa mithilfe von Tracking-Apps transnational in Echtzeit erfasst; sondern – ebenso wichtig, aber viel schwieriger zu entwickeln – ein Ausmaß an kontinentaler Solidarität, wie es die Mitglieder der europäischen Gemeinschaft bislang nur ungenügend bewiesen haben.

Wenn es bereits jetzt eine Lehre gibt, die Europa aus der Krise ziehen kann, dann läuft sie darauf hinaus, dass stur nationalstaatliches Handeln nur punktuell von Vorteil ist, unter dem Strich aber mehr schadet als nutzt.

Das ist zugegebenermaßen keine ganz neue Schlaumeierei. Allerdings auch eine, aus der bislang noch nie wirklich eine Lehre gezogen wurde. Doch auch hier gilt: Dazulernen sollte erlaubt sein. Und zwar nicht nur im Sinne der Bewohner von Kleinblittersdorf und Grosbliederstroff, Pinkamindszent und Moschendorf.

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