Interview

Militärexperte Reisner zum Ukraine-Krieg: "Jetzt herrscht Katerstimmung“

Nach anfänglicher Solidarität zeigen sich Bruchlinien in der Frage nach der Unterstützung der Ukraine.

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profil: Wie weit will Moskau im Angriff auf die Ukraine gehen, mit welchen Gebieten könnte sich Putin zufriedengeben?

Markus Reisner: Aus aktueller Sicht ist das Ziel der Russen die unmittelbare "Befreiung" der Oblaste Luhansk und Donezk. Luhansk haben sie fast komplett eingenommen, in Donezk fehlt noch ein nicht unbeträchtlicher Teil im Westen inklusive der Städte Slowjansk, Kramatorsk und Bachmut. Gelingt es, sie zu erobern, kann Moskau behaupten, die beiden Oblaste "befreit" zu haben – und zusätzlich nahezu gänzlich Cherson und einen Teil Saporischschjas. Das könnte bis Ende des Sommers gelingen. Es ist denkbar, dass die Russen dann sagen: Gnädigerweise geben wir der Ukraine die Option zu verhandeln.

profil: Ab wann ist umgekehrt für Kiew der Zeitpunkt gekommen, Verhandlungen anzustreben, um ihre verbliebenen Gebiete zu sichern?

Reisner: Der Zeitpunkt ist dann gekommen, wenn die Ukraine nicht mehr in der Lage ist, sich zu verteidigen. Gelingt den Russen ein Durchbruch im Donbass, dann sollten die Ukrainer tunlichst versuchen, Verhandlungen zu erreichen und sich neu zu konsolidieren. Die Ukraine könnte betonen, Kiew gehalten zu haben und sich regenerieren zu müssen. Das Problem ist aus Sicht der Ukraine, dass 35 Millionen Menschen durch den kalten Winter gebracht werden müssen – und die Abhängigkeit von russischem Gas ist auch in der Ukraine hoch. Im Frühling kommt es darauf an, ob der Westen Kiew weiter unterstützt. Die Ukraine könnte eine Offensive planen und versuchen, Cherson zurückzuerobern oder die Russen aus ihrem Brückenkopf über den Fluss Dnepr zurückzuwerfen. Die Russen könnten ihrerseits versuchen, Odessa einzunehmen – womit die Ukraine zum Binnenstaat würde.

profil: Das klingt sehr pessimistisch. Allgemein hat sich der Blick des Westens auf die Ukraine in den vergangenen Wochen geändert. Der Optimismus ist einer gewissen Kriegsmüdigkeit gewichen...

Reisner: Die Wirtschaftssanktionen haben Russland nicht so hart getroffen, wie man sich das gewünscht hat. Jetzt herrscht Katerstimmung. Glaubt man den nachrichtendienstlichen Berichten etwa der Briten, müssten die Russen morgen zusammenbrechen. Sie tun es aber nicht. Nach anfänglichem Scheitern im Angriff auf vier Fronten hat die russische Armee seit Anfang Mai in diesem Krieg die Initiative. Gleichzeitig hat sich das Narrativ vor allem in den englischsprachigen Medien geändert. Jetzt dominiert die Frage: Was bedeutet Sieg? Wie weit sind wir bereit, die Ukraine zu unterstützen? Diese Frage wird vor allem in den USA laut. Biden kritisiert den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mittlerweile offen – und die USA hat auch die Waffenlieferungen massiv reduziert. Sie schicken zwar jetzt noch einmal vier Mehrfachraketenwerfer-Systeme in die Ukraine, aber um wirklich etwas auszurichten, bräuchte es von diesen Systemen mindestens hundert.

profil: Die Debatte über den Krieg in der Ukraine scheidet auch in Europa die Geister. Die Gräben verlaufen entlang der Frage, ob man schnellstmöglich Frieden um jeden Preis anstreben oder besser alles tun sollte, um Putin zu schlagen. Welches Lager hat Recht?

Reisner: Weder Europa noch die NATO sind geeint, die Bruchlinien wurden schon vor Monaten sichtbar. Die Balten, die Niederlande, Polen und Großbritannien wollen, dass Russland zum Rohstofflieferanten ohne Relevanz in der Geopolitik wird. Die anderen, darunter Deutschland, Frankreich und Italien, sagen, wir brauchen einen Deal mit Moskau, denn unsere Sanktionspakete haben nicht den gewünschten Erfolg erzielt. Gleichzeitig spielt Putin mit der Reduktion der Gaslieferungen seine eigene Wirtschaftskarte aus. Unsere Sanktionen können auf lange Sicht durchaus Erfolg haben. Die Frage ist, wer zuerst in die Knie geht: Die Russen oder der Westen.

Die EU mit der NATO im Hintergrund, ist an den Grenzen ihrer friedlichen Expansion angekommen und muss sich die Frage stellen, ob es für die weitere Expansion kämpfen will.

profil: Die Folgen eines Sieges Russlands dürften enorm sein. Was ist nun die richtige Seite?

Reisner: Das ist die entscheidende Frage. Wir vertreten eine demokratische Werteordnung, die Russland zum wiederholten Male verletzt. Wollen wir uns selbst treu bleiben, müssten wir zur Verteidigung dieser Werte beginnen, den Aggressor zurückzuschlagen – auch mit militärischer Gewalt. Die Alternative ist, das Risiko zu scheuen und zu akzeptieren, dass Russland uns überrumpelt hat – was Folgen für die Zukunft hätte. Es gibt nur diese beiden Optionen: Entweder wir treten mit der Waffe in der Hand in diesen Krieg ein oder wir akzeptieren, dass sich Russland die Ukraine Stück für Stück einverleibt und möglicherweise später die baltischen Staaten angreift. Wir sind an einem Punkt angelangt, den Historiker später beschreiben werden: Ein Großreich, nämlich die demokratische EU mit der NATO im Hintergrund, ist an den Grenzen ihrer friedlichen Expansion angekommen und muss sich die Frage stellen, ob es für die weitere Expansion kämpfen will.

profil: Gibt es keinen Mittelweg? Der Westen könnte doch auch schwere Waffen liefern, die es der Ukraine ermöglichen, Russland zurückzudrängen und in Verhandlungen zu zwingen?

 

Reisner: Dazu ist es zu spät, das hätte man viel früher tun müssen. Will man jetzt noch maßgeblich etwas verändern, müssen Waffen in massivem Ausmaß geschickt werden. Die Russen haben den Donbass bereits operativ eingekesselt: Sie können den Zugang durch Einsatz ihrer Waffen öffnen und schließen. Sie schließen ihn nicht, weil die Ukraine laufend Soldaten und Waffen hineinschickt, die die Russen zerstören können. Sie haben die Ukrainer, wo sie sie haben wollten: in einem Kessel.

profil: Gibt es noch Hoffnung für die Ukraine?

Reisner: Wie gesagt: Zuerst gilt es, die beiden genannten Grundfragen für uns zu beantworten. Entscheiden wir uns für eine weitere Unterstützung der Ukraine, dann gibt es nur dann eine Chance, wenn der Westen über die kommenden Wochen und Monate massiv Waffen liefert. Möglicherweise muss die Ukraine auch überzeugt werden, die angelieferten Waffen zu sammeln und dann geschlossen zum Einsatz zu bringen. Es bringt wenig, jedes Geschütz in kleinen Mengen zu nutzen. Ein ukrainischer Brigadegeneral sagte vor kurzem in überraschender Offenheit, man könne die amerikanischen Haubitzen M777 nur ein paarmal einsetzen, bevor Gegenfeuer Schäden an den Geschützen anrichtet, die man dann in Polen reparieren muss – ein unglaublicher Aufwand. So sind die Waffen nicht massiv einsetzbar. Im Donbass hat Russland mit dem Einsatz der Artillerie eine massive Überlegenheit, die die Ukrainer Tag für Tag abnützt. Gelingt es nicht, diese Überlegenheit zu brechen, dann können die Ukrainer das nicht durchhalten. Es braucht entweder den Einsatz einer Luftwaffe – und die hat die Ukraine nicht mehr. Oder aber die Ukraine erhält mehr Artillerie mit höherer Reichweite. Deswegen fordert Kiew Mehrfachraketenwerfer mit einer Reichweite, die die Geschütze der Russen übersteigt.

profil: Zugesagt sind gerade einmal zehn Stück aus den USA, Großbritannien und Deutschland. Reicht das überhaupt – selbst, wenn sie schnell geliefert werden?

Reisner: Was heißt schnell? Es handelt sich um komplexe Systeme. Es wurden jetzt Soldaten ausgebildet, aber es stellt sich auch die Frage nach der Munition und wie diese Geschütze verteilt werden. Die Anzahl der zugesagten Mehrfachraketenwerfer ist zu gering, um wirklich einen Unterschied zu machen. Da wird es vielleicht das ein oder andere Video geben von der spektakulären Zerstörung eines russischen Gefechtsstands. Aber es reicht nicht für einen Zusammenbruch der russischen Fronten.

profil: Wieso wird nicht viel mehr geliefert? Allein die USA verfügen über hunderte solcher Systeme.

Reisner: Vergessen Sie nicht den Zustand der europäischen, aber auch der amerikanischen Streitkräfte! Man hat die Bestände vieler dieser Waffengattungen reduziert, selbst in den USA. Was die Ukraine fordert – dreihundert Mehrfachraketenwerfer-Systeme – gibt es in ganz Europa nicht. Deutschland hat davon eine zweistellige Stückzahl, viele dieser Systeme existieren in Europa gar nicht mehr. In Österreich haben wir zumindest noch die alten Zwillingsflak-Geschütze zur Flugabwehr im Nahbereich. So etwas gibt es in Deutschland nicht mehr, die haben ihren Flugabwehrkanonenpanzer Gepard abgeschafft und jetzt versucht, wieder welche heranzukarren. Die Munition musste in Südafrika gekauft werden. In Großbritannien kamen die Panzerabwehrwaffen für die Ukraine teils aus aktiven Armeebeständen, da gibt es keine großen Lager, an denen man sich bedienen kann. Und in den Niederlanden gibt es Widerstand gegen die Lieferung gepanzerter Artilleriegeschütze, weil sie dann selbst keine mehr hätten. Die zentral- und osteuropäischen Staaten hoffen, durch das Liefern ihrer alten Systeme aus Sowjetzeiten an die Ukraine im Gegenzug von NATO-Staaten moderneres Gerät zu bekommen. Nur: Das muss alles erst produziert werden – und das kostet bei komplexen Systemen Monate, wenn nicht Jahre. Die Frage ist: Haben wir diese Zeit noch?

profil: Wie sieht es mit den Erschöpfungserscheinungen bei den Russen aus?

Reisner: Ich habe noch keine festgestellt. Die Russen bringen im Schnitt jede Woche mindestens zwei vollbeladene Militärzüge heran. Ich sehe aber keine ukrainischen Militärzüge, die haufenweise Material in den Donbass bringen. Gäbe es das, hätten wir Videos davon gesehen. Es gibt auch kaum noch, wie zu Beginn des Krieges, Bilder von getöteten oder gefangengenommenen russischen Soldaten. Auf der anderen Seite zirkulieren viele Videos von verwundeten, getöteten, gefangenen und demoralisierten Ukrainern. In Videos sagen viele von ihnen, sie könnten ohne schwere Waffen wir nicht mehr weiterkämpfen.

profil: Zuletzt gab es vermehrt Meldungen über Deserteure. Wie wirkt sich all das auf die Moral der Soldaten aus?

Reisner: Sehr schlecht, deswegen auch die Videos, von denen Kiew behauptet, sie waren gefälscht. Zuletzt gab es im ukrainischen Parlament die Überlegung, eine Weisung einzuführen, nach der desertierende Soldaten militärgerichtlich verurteilt werden können und ihnen im schlimmsten Fall Erschießung droht. Das wurde zwar nicht angenommen, ist aber ein Hinweis darauf, dass es tatsächlich vermehrt Deserteure gibt.

profil: Auch im Westen macht sich eine gewisse Rhetorik der Eskalation breit. Aus Großbritannien und Deutschland hieß es zuletzt von oberster militärischer Stelle, man müsse sich auf den Dritten Weltkrieg einstellen – und darauf, notfalls Nuklearwaffen einzusetzen. Wie ist das zu lesen?

Reisner: Solche Meldungen sind Informationsbomben in einem Informationskrieg. Wenn Moskau sagt, dass es seine nuklearen Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt, dann geschieht das in dem Wissen, dass das Europas Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Bei der Strategie „Escalate-to-De-escalate“ wird zuerst gedroht und eskaliert, um dann wieder zu deeskalieren. Die Aussage aus Deutschland war radikal – und der Versuch, Russland im Informationskrieg zu zeigen, dass wir nicht bereit sind, sein Verhalten hinzunehmen. Je besser es für die Russen in der Ukraine läuft, desto geringer ist die Gefahr eines russischen Atomwaffeneinsatzes. Dieses Thema ist erst wieder bei einer Überregionalisierung des Konflikts oder bei einer direkten Bedrohung Russlands am Tisch.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.