Entschlossen, aber umstritten: Nadija Sawtschenko.

Nach der Freilassung: Sawtschenko geht in die Politik

Sie war Wladimir Putins bekannteste Kriegsgefangene. Heute ist sie die umstrittenste Politikerin der Ukraine. Ein Besuch bei der Kampfpilotin und Abgeordneten Nadja Sawtschenko.

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Sie hat keine Zeit - nicht für rote Ampeln, nicht für ganze Sätze. An einem brütend heißen Sonntagmittag im August rast ein weißer Skoda Fabia durch die Straßen von Kiew. Auf dem Beifahrersitz eine junge Frau, deren Kleidung nicht so recht zu ihrer Frisur passen will: Die elegante hellblaue Bluse und die schwarze Weste kontrastieren mit dem militärischen Undercut, den Nadja Sawtschenko trägt.

Gerade ist die Abgeordnete auf dem Weg zu einer Sitzung, bei der hinter verschlossenen Türen nichts Geringeres verhandelt werden soll als das Schicksal ihres Landes. Eine Gesetzesreform, welche die Verfolgung korrupter Beamter erleichtern würde, droht zu platzen. Und wer, wenn nicht sie, wäre dazu berufen, das zu verhindern?

Unter dem Hashtag #SaveOurGirl wurde in den sozialen Netzwerken Sawtschenkos Freilassung gefordert.

Nadja Sawtschenko war bis vor wenigen Monaten die bekannteste ukrainische Kriegsgefangene. Nun ist sie die umstrittenste Politikerin des Landes. Heldengestalt und Feindbild in einem - ihre Geschichte erzählt genauso viel über die 35-jährige selbst wie über die prekären politischen Verhältnisse in ihrer Heimat.

Nach einer steilen militärischen Karriere - unter anderem war sie die erste Frau, die an der Universität der Luftstreitkräfte in Charkiw studieren durfte und zur Kampfpilotin ausgebildet wurde - hatte sich Sawtschenko im Krieg um den Donbass 2014 einer Freiwilligen-Miliz angeschlossen. In der Ostukraine kämpfte sie gegen kremltreue Separatisten, geriet in Gefangenschaft, wurde unter ungeklärten Umständen nach Russland gebracht und des zweifachen Mordes angeklagt. Sie soll einen Mörserangriff koordiniert haben, bei dem zwei Journalisten ums Leben kamen, was Sawtschenko bestreitet.

Es folgten ein Schauprozess und die Verurteilung zu 22 Jahren Gefängnis durch ein russisches Gericht. Monatelang hielt das Schicksal der Frau die ukrainische Öffentlichkeit in Atem. Unter dem Hashtag #SaveOurGirl wurde in den sozialen Netzwerken ihre Freilassung gefordert; ein TV-Sender richtete eine eigene Website zu ihrem Fall ein; in Kiew kam es bei Demonstrationen zu Vandalenakten gegen die russische Botschaft. Bilder aus dem Gerichtssaal zeigten eine vom Hungerstreik gezeichnete Gefangene.

Anders als die Polit-Prominenz residiert Sawtschenko nicht in einem Chalet hinter einem meterhohen Zaun, sondern teilt sich Haus und Lift mit ihren Nachbarn.

Noch während sie in Haft saß, wurde Sawtschenko in das ukrainische Parlament gewählt. Die Partei "Vaterland", geführt von der umstrittenen Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, hatte bei der Kriegsgefangenen angefragt, ob sie antreten würde. Sie sagte zu - zum Spaß, wie sie heute erzählt. "Ich dachte nicht, dass ich da lebend wieder rauskomme. Wenn dein Leben am seidenen Faden hängt, dann kannst du es dir erlauben, so zu scherzen."

Doch dann war plötzlich alles ganz anders. Ende Mai kam Sawtschenko im Zuge eines Gefangenenaustauschs frei.

Drei Monate später in Kiew. Vor der Sitzung wirkt Sawtschenko müde und ausgelaugt. Sie zündet sich eine Zigarette am Küchenfenster an. Der Blick geht auf einen Innenhof, in dem sich eine McDonald's-Filiale mit Ukraine-Fahne befindet. Eine Autosirene heult. Wenig später geht es hinunter zum Wagen, Sawtschenkos Schwester Wera klemmt sich hinter das Lenkrad und tritt das Gaspedal durch.

Nach ihrer Freilassung aus russischer Haft ist Nadja in ihre alte Wohnung in Troeschina, einem monotonen Plattenbauviertel im Osten Kiews, gezogen. Mehr als drei, vier Stunden täglich schläft sie nicht, erzählt sie. Wie denn auch? Im Gefängnis bekam sie 200 Briefe pro Woche. Heute sind es 200 Briefe -jeden Tag. Sie enthalten keine Aufmunterungen mehr, sondern konkrete politische Forderungen. Um alle Termine unterzubringen, hat sie Leute auch schon mal um vier Uhr früh empfangen. "Ein Abgeordneter sollte immer für sein Volk da sein", sagt sie.

Es sind Sätze wie dieser, die Sawtschenko beliebt gemacht haben: als Figur mit Rückgrat, die so anders ist als die korrupten Wendehälse in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. Anders als die Polit-Prominenz residiert sie nicht in einem Chalet hinter einem meterhohen Zaun, sondern teilt sich Haus und Lift mit ihren Nachbarn. Eine Kiewerin aus einfachen Verhältnissen, die als erste Frau in der Ukraine ein Kampfflugzeug steuerte und 2004 als Zeitsoldatin im Irak ihr Leben aufs Spiel setzte. "Unsere Nadja", die Wladimir Putin die Stirn bot. Das Bild, als sie den russischen Richtern bei der Urteilsverkündung den Mittelfinger entgegenstreckte, ging um die Welt. "Nadja Sawtschenko ist ein Symbol für den Kampf der Ukraine", sagte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und attestierte ihr den "wahren, starken, ukrainischen Kampfgeist einer Soldatin, die ihre Heimat nicht verrät".

Wenn mein Land mich braucht, dann werde ich aber auch Präsidentin sein. (Sawtschenko)

Als Politikerin ist Sawtschenko bisher allerdings mit abenteuerlichen bis wirren Initiativen aufgefallen. Im Interview mit profil schlägt sie vor, die geheimen Friedensverhandlungen von Minsk per Video öffentlich zu übertragen. Wenige Tage zuvor ist sie mit Müttern von ukrainischen Kriegsgefangenen in den Hungerstreik getreten, um den Austausch der Gefangenen zu beschleunigen.

"Im Juli sagte sie noch, der Präsident brauche diktatorische Vollmachten", kritisiert der ukrainische Politologe Wladimir Fesenko: "Im August ist sie dann dafür eingetreten, die Vollmachten des Präsidenten maximal zu beschränken."

Inzwischen ist sie für viele zur Buhfrau der ukrainischen Politik geworden. Dass sie vorschlug, direkt Verhandlungen mit den pro-russischen Separatisten zu führen, wie auch von Moskau immer wieder gefordert, brachte ihr den Vorwurf, eine "Agentin des Kreml" zu sein, und einen Shitstorm in den sozialen Medien ein. "Putin hat sie zu uns geschickt, um eine Revolution zu provozieren", meinte Wadim Rabinowitsch, ein Politiker des "Oppositionellen Blocks". Als "trojanisches Pferd von Putin" bezeichnete sie der Chefberater des ukrainischen Innenministers, Anton Heraschenko. Zuletzt wurde sogar eine Petition gestartet, um Sawtschenko den Orden "Held der Ukraine" (die höchste Auszeichnung des Landes, die ihr 2015 verliehen worden war) abzuerkennen und ihren Geisteszustand zu überprüfen. Ukrainische Psychiater zweifeln öffentlich an ihrer Zurechnungsfähigkeit. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass auch in Russland versucht wurde, Sawtschenko als verrückt einzustufen.

Richtet sich ihr Kampfgeist, den Poroschenko einst so pathetisch pries, nun auch gegen den ukrainischen Präsidenten? Den Wunsch, selbst für das höchste Amt zu kandidieren, wie sie kurz nach ihrer Freilassung ankündigte, bekräftigt sie auch im Gespräch mit profil. "Wenn es nötig ist, dann werde ich wieder als Soldatin kämpfen", sagt Sawtschenko in ihrem weißen Skoda, dessen Innendach mit den Abzeichen diverser ukrainischer Freiwilligenbataillone tapeziert ist: "Wenn mein Land mich braucht, dann werde ich aber auch Präsidentin sein."

Der Wunsch nach einem demokratischen Umbau und die Sehnsucht nach einer starken Erlöserfigur: Es ist genau dieser Widerspruch, an dem sich die ukrainische Politik seit der Unabhängigkeit vor 25 Jahren immer wieder zerreibt.

Das Establishment von Kiew hat gute Gründe, sich vor der exzentrischen "Lady Dynamite" zu fürchten. "Die Macht betrachtet sie als gefährliche Konkurrentin", kommentiert der ukrainische Politologe Ruslan Bortnik. Immer noch halten sie die Menschen auf Straßen von Lemberg bis Charkiw an, um sich mit ihr fotografieren zu lassen. Der Mangel an politischer Erfahrung wirkt in einem Land, das seit der Unabhängigkeit unter seiner korrupten Elite litt, für viele noch immer mehr als Tugend denn als Makel. Sawtschenkos Statements klingen nicht nach den demokratischen Slogans des Maidan-Aufstands, sondern eher nach Donald Trump. "Die Politiker verstehen nichts von den Problemen des Volks", knurrt sie. Als "Schmutzkampagne" tut sie jegliche Kritik an ihrer Person ab. "Der Krieg und die Korruption müssen sofort beendet werden!", fordert sie. Nur wie?

Der Krieg im Donbass, an die zwei Millionen Binnenvertriebene im Land, Korruption und Wirtschaftskrise: Die Probleme der Ukraine sind groß. "Meine Schwester hat einmal zu mir gesagt: ,Nadja, die Menschen brauchen einen Helden'", erzählt Sawtschenko: "Ich wollte nie ein Symbol sein, aber wenn es notwendig ist, dann bin ich auch das."

Der Wunsch nach einem demokratischen Umbau und die Sehnsucht nach einer starken Erlöserfigur: Es ist genau dieser Widerspruch, an dem sich die ukrainische Politik seit der Unabhängigkeit vor 25 Jahren immer wieder zerreibt. Es gibt kaum ein Land, das seine Helden schneller auf dem Müllplatz der Geschichte entsorgt als die Ukraine. Wiktor Juschtschenko, der Sieger der Orangen Revolution 2004? Hatte seine Gunst innerhalb von zwei Jahren verspielt. Arseni Jazenjuk, der nach dem Maidan mit seiner neu gegründeten Partei "Volksfront" einen Überraschungserfolg landete und Premier wurde? Musste nach nur 18 Monaten das Feld räumen.

Dass viele Ukrainer in Nadja Sawtschenko ein politisches Heilsversprechen sehen oder sahen, liegt nicht nur an ihrem Namen (auf Deutsch übersetzt: "Hoffnung"). Es liegt wohl auch daran, dass die "Vaterlandspartei" von Julia Timoschenko bei den Parlamentswahlen 2014 einen sehr emotionalen Wahlkampf führte. Sawtschenko kandidierte damals auf dem ersten Listenplatz der Partei - wie Jahre zuvor Timoschenko selbst, die unter ihrem Widersacher Wiktor Janukowitsch im Gefängnis saß.

Die politische Kampagne der Partei hat viel zur Mythenbildung um Sawtschenko beigetragen - und zugleich Timoschenko, der beim Maidan-Aufstand wenig Sympathien entgegengebracht worden waren, vermutlich erst den Einzug in das Parlament ermöglich. Zu den jüngsten Initiativen und Vorschlägen ihrer streitbaren Abgeordneten hüllt sich die Partei derweil in Schweigen. Eine Nachfrage von profil blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Ich habe mein ganzes Leben lang für etwas gekämpft . Ich lege meine Hände nicht in den Schoß, ich weine nicht, sondern nehme die Dinge selbst in die Hand. (Sawtschenko)

Knapp nach 14 Uhr bremst sich der weiße Skoda vor dem Amtsgebäude im Süden Kiews ein, Sawtschenko springt aus dem Wagen. Am Eingang des Glaspalasts spricht Alexandra Drik, eine junge Anti-Korruptions-Aktivistin, aufgeregt in die Mikrofone von Kamerateams. Die Gesetzesreform, welche die Einrichtung einer Datenbank über die Vermögensverhältnisse von bis zu einer Million Beamter ermöglichen soll, sei ein wichtiger Puzzlestein im Kampf gegen die Korruption, sagt sie. Das Gesetz wurde bereits im Oktober 2014 im ukrainischen Parlament - unter großem internationalen Lob -beschlossen, aber bis heute nicht umgesetzt.

Um zu verhindern, dass Beamte den Prozess weiter sabotieren, hat Drik Aktivisten, Journalisten und Politiker kontaktiert. Aber es ist Sommerpause, gekommen sind bloß eine Handvoll Aktivisten und Journalisten - und nur eine von den 421 Parlamentsabgeordneten, die Zutritt zu den geheimen Verhandlungen hat: Nadja Sawtschenko. Ein grimmiges Selfie mit Passanten, ein paar launige Kommentare für die Kameras, dann eilt sie in das Gebäude.

Als sie später wieder herauskommt, ist das Ergebnis durchwachsen. Die Behörde, ein dem Präsidenten direkt unterstellter Informationsdienst, hat den geplanten Start der Datenbank wegen ominöser Sicherheitsbedenken vorerst abgeblasen. Auf Druck der Öffentlichkeit hin wird die Datenbank aber immerhin zwei Wochen später, am 1. September, an den Start gehen.

Aber diese kleine Verzögerung ficht Sawtschenko nicht an: "Ich habe zwei Jahre verloren", sagt sie: "Ich habe mein ganzes Leben lang für etwas gekämpft . Ich lege meine Hände nicht in den Schoß, ich weine nicht, sondern nehme die Dinge selbst in die Hand."