Niederländische "Oranjes" wie man sie kennt.

Niederlande: Referendum könnte die gesamte EU treffen

Das berüchtigte EU/Ukraine-Abkommen führte zum Euromaidan-Aufstand in Kiew. Nun droht es zu kippen: wegen einer Kraftprobe um mehr Bürgermitbestimmung in den Niederlanden.

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Ruben Marsman, ein junger niederländischer Unternehmer aus der kleinen Provinzstadt Elst, kann sich glücklich schätzen: Im Februar bekam sein Unternehmen, die Raspoetin BV, von der Regierung eine Subvention in der Höhe von 47.943 Euro für eine PR-Kampagne gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine – jenes Vertragswerk, dessen vorläufiges Platzen 2013 zum Euromaidan-Aufstand in Kiew und in der Folge zum Krieg im Donbass führte.

Marsman verwendete das Geld, um seine Argumente auf 200.000 Rollen Klopapier zu drucken und diese zu verteilen. Er findet, dass es keinen Grund gibt, ein Land wie die Ukraine in das „Chaos“ hineinzuziehen, das die EU seiner Meinung nach ist. Daher will er „für Wirbel sorgen“, indem er die Menschen dazu bringt, sich mit dem Abkommen den Hintern auszuwischen.

Hintergrund der PR-Aktion: Am Mittwoch dieser Woche stimmen die Niederländer, bekannt für ihre Unverblümtheit und Direktheit, über das Ukraine-Abkommen ab – im Rahmen eines „konsultativen Referendums“, dem ersten in der Geschichte des Landes. Laut Umfragen liegen Befürworter und Gegner Kopf an Kopf. Währenddessen wird der Rest der EU ein wenig nervös.

Denn das 323 Seiten umfassende Abkommen, das verspricht, Handelsbarrieren und Zölle zwischen der EU und der Ukraine zu beseitigen, wurde inzwischen bereits von beiden Seiten unterzeichnet und ratifiziert.

Dass die Niederländer über das Ukraine-Abkommen abstimmen, ist im Grunde ein misslicher Zufall.

Vom niederländischen Parlament wurde es ebenfalls abgesegnet, der größte Teil davon – 306 Seiten – ist bereits in Kraft getreten. Wenn allerdings die Niederländer beim Referendum dagegen stimmen, kann es die Regierung auf nationaler Ebene nicht ratifizieren. Das würde das gesamte Abkommen für 27 andere Länder und auch die Ukraine wertlos machen. Niemand in Brüssel weiß so richtig, was zu tun wäre, wenn dieser Fall eintreten sollte.

Jean-Claude Juncker, Präsident der EU-Kommission, hat kürzlich davor gewarnt, dass eine Ablehnung des Abkommens durch die Niederländer Russland Auftrieb verleihen würde. In einer weiteren Demonstration niederländischer Direktheit wurde Juncker daraufhin von der gesamten politischen Klasse des Landes (auch von Abgeordneten, die das Abkommen unterstützen) gemaßregelt: Er möge sich gefälligst aus den inneren Angelegenheiten der Niederlande heraushalten – und das, obwohl die Kommission den Scherbenhaufen aufräumen wird müssen, wenn es zu einem Nein kommt.

Dass die Niederländer über das Ukraine-Abkommen abstimmen, ist im Grunde ein misslicher Zufall. Es hätte jedes andere internationale Abkommen sein können, das seit vergangenem Sommer das Parlament passiert hat. Damals schaffte es eine Koalition aus mehreren Parteien nach jahrelangem Lobbying für mehr direkte Demokratie endlich, ein „beratendes Referendum“ (so die anfängliche Bezeichnung) einzuführen.

Seit 1. Juli 2015 kann ein derartiges Referendum von jeder Gruppierung erwirkt werden, die mindestens 300.000 Unterschriften dafür sammelt. Das Ergebnis ist nur gültig, wenn die Beteiligung bei über 30 Prozent liegt, und auch dann nicht bindend. Die Regierung könnte es also theoretisch einfach ignorieren. Aber nicht einmal diejenigen, die das Ukraine-Abkommen unterstützen, halten dies für klug. Immerhin findet das Referendum nur statt, weil die Bürger gehört werden wollen.

Das Referendum wurde von drei Seiten initiiert: erstens von den Betreibern eines Blogs namens Geenstijl (Stillos), der findet, dass die Regierung und die EU zu viele Entscheidungen ohne Einbeziehung der Bürger treffen. Für sie ist das Referendum eine „demokratische Alarmglocke“.

Zweitens von einem EU-kritischen Thinktank, der von dem jungen Juristen und Publizisten Thierry Baudet geführt wird. Baudet, der sich selbst als „wichtigsten Intellektuellen“ des Landes sieht, glaubt, dass die EU kein Friedensprojekt ist, sondern in den Krieg führt, und bekämpft das Ukraine-Abkommen daher wegen seines Inhalts.

Roos ist fixiert darauf, Macht von Brüssel zurückzuerkämpfen.

Die dritte Gruppe, Burgercomité EU, behauptet, das Abkommen sei nicht auf Handel ausgerichtet, sondern in Wahrheit darauf, die Ukraine auf eine EU-Mitgliedschaft vorzubereiten.

Eine der dominanten Figuren von GeenStijl ist Jan Ross. Viele hassen ihn („ausgenommen möglicherweise meine Mutter, aber nicht einmal da bin ich mir sicher“, wie er selbst sagt), schätzen jedoch seinen Blog. Dieser wird täglich von Hunderttausenden gelesen und besteht im Wesentlichen darin, sich anti-elitär und anti-internationalistisch über alles Mögliche aufzuregen und praktisch jeden zu beschimpfen. Sogar Diplomaten werfen verstohlen einen Blick darauf, um der Gesellschaft die Temperatur zu messen.

Roos ist fixiert darauf, Macht von Brüssel zurückzuerkämpfen. Das Ukraine-Abkommen interessiert ihn im Grunde überhaupt nicht, er hat es nicht einmal gelesen. Roos kaperte einfach das erste internationale Abkommen, das im vergangenen Sommer das Parlament passiert hatte, und begann Stimmen zu sammeln. Binnen weniger Wochen hatte er 440.000 beisammen. Ihm geht es in erster Linie um Mobilisierung.

Überraschenderweise verhält sich die Regierung, eine Koalition aus Rechtsliberalen und Sozialisten, neutral. Sie hat das Vorhaben mit viel Input unterstützt, wie andere Regierungen auch. Alle niederländischen Mainstream-Parteien auf nationaler Ebene und im EU-Parlament haben den Deal abgesegnet, die meisten Abgeordneten, ohne viel darüber nachzudenken. Die einzigen Parteien, die offen für ein Ja eintreten, sind die linksliberale Partei D66 und die Grünen.

Das Schweigen erzählt viel über die politische Atmosphäre, die sich in den Niederlanden über die vergangenen Jahre entwickelt hat: Rechtspopulisten, angeführt von Geert Wilders und seiner PVV (Freiheitspartei), sind laut Umfragen nunmehr die größte Partei. Ihre Gegner bleiben aber lieber in Deckung, weil sie von Wilders’ aggressivem Auftreten und seiner konfrontativen Rhetorik schockiert sind. Premierminister Mark Rutte von der rechtsliberalen VVD widerspricht ihm praktisch nie. Er hat Angst, den rechten Rand seiner Partei an Wilders, der früher selbst VVD-Mitglied war, zu verlieren, wenn er zu weit in die Mitte geht – eine Strategie, die jener der ÖVP ähnelt.

Rob de Wijk, ein Historiker und auf internationale Angelegenheiten spezialisierter Thinktank-Mitarbeiter, hat die Abstimmung ein „Referendum der Böswilligkeit“ genannt. Und sie passt auch perfekt zu der Antiglobalisierungswelle, die im Moment durch Europa schwappt: Vor zwei Jahren kippte ein Referendum in der Schweiz die EU-Politik der Regierung. Die Griechen stimmten im vergangenen Sommer über die Troika-Auflagen ab und hielten dabei die gesamte Eurozone in Atem. Im Juni wird Großbritannien über den Brexit entscheiden.

Viele Niederländer halten das Ukraine-Referendum für lächerlich.

Die Globalisierung hat dazu geführt, dass viele Entscheidungen internationalisiert wurden – über den Euro, über Banken, über Handel. Gleichzeitig ist die Politik komplett national geblieben. Und nun haben die Bürger das Gefühl, dass alles über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Nationale Parlamente haben in vielen Fällen das Recht, über Eurozonen-Strategien oder internationale Handelsabkommen zu entscheiden, stellen Überzeugungen aber zugunsten von Partei- und Realpolitik hintan und nicken die Deals der Regierungen ab.

In seinem neuen Buch „Le Bon Gouvernement“ („Die gute Regierung“) konstatiert der französische Soziologe Pierre Rosanvallon, dass die Parlamente heute „die Wünsche der Regierung nach unten zum Volk kanalisieren“ statt umgekehrt die Wünsche des Volks hinauf zur Regierung. Dies führe zu weit verbreitetem Unmut und Misstrauen gegenüber der politischen Führung, was laut Rosanvallon auch die immer geringere Wahlbeteiligung und den immer lauteren Ruf nach direkter Demokratie erklärt.

Viele Niederländer halten das Ukraine-Referendum für lächerlich, weil es in Wahrheit nicht auf ein Handelsabkommen abziele, sondern darauf, die Regierungspolitik als Ganzes zu beschädigen.

Aber diejenigen, die dazu tendieren, mit Ja zu stimmen, stehen vor einem interessanten Dilemma: teilnehmen oder nicht? Wenn sie dem Referendum fernbleiben, können sie dazu beitragen, die Beteiligung unter 30 Prozent zu halten. Wenn die Beteiligung hoch ist, würde es aber auf ihre Stimme ankommen.

Letztlich ist das Referendum für sie genauso symbolisch – und in gewisser Hinsicht genauso bedeutend – wie für den Mann aus Elst, der mit Regierungsgeld Klopapier drucken ließ. Oder wie für einige Politiker im Parlament, die angeblich ein paar Rollen bestellt haben. Aber egal, wie das Referendum ausgeht: Am Mittwochabend werden sich viele Niederländer fragen müssen, ob sie der Demokratie damit gedient oder vielmehr geschadet haben.

Caroline de Gruyter ist Europa-Korrespondentin der niederländischen Tageszeitung „NRC Handelsblad“ und ständige Mitarbeiterin von Carnegie Europa. Sie lebt in Wien.