„Ich bin ein bisschen verrückt“

Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando über Sizilien, die Mafia, den Erzbischof und die EU

Interview. Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando über Sizilien, die Mafia, den Erzbischof und die EU

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Interview: Marianne Enigl

profil: Sie können als Bürgermeister in Palermo spontan nicht einmal auf einen Espresso gehen, weil Sie lange auf der Abschussliste der Mafia ganz oben standen und daher ständig von Leibwachen umgeben sind. Dennoch scheint es für Sie ein Leben ohne Politik nicht zu geben.
Leoluca Orlando: Ich bin ein bisschen verrückt, denn nur ein Verrückter kann sich entscheiden, noch einmal Bürgermeister von Palermo werden zu wollen.

profil: Sie haben die Stadt schon drei Mal regiert, Ihr Kampf gegen die „Cosa Nostra“ vor 30 Jahren hat Ihnen den Ruf eines „Guten Paten von Palermo“ eingebracht. Warum sind Sie vor zwei Jahren wieder in die Arena gestiegen?
Orlando: Ich wollte – und ich wollte nicht. Aber ich habe keine Chance, ich liebe diese Stadt zu sehr.

profil: Was fasziniert Sie an Palermo so sehr?
Orlando: Palermo ist besser als die Palermitaner. Im Wahlkampf habe ich den Menschen gesagt: „Ihr seid nicht so gut wie diese Stadt.“ Und dennoch haben sie mich wieder gewählt. Mein Parteienbündnis hat 14 Prozent bekommen, ich 74 Prozent!

profil: Ist es richtig, dass Hillary Clinton Sie einmal als Vize-Generalsekretär der UNO ins Spiel gebracht hat?
Orlando: Ja, das war im Jahr 2002. Generalsekretär Kofi Annan wollte einen Italiener. Als er Silvio Berlusconi, damals Ministerpräsident, meinen Namen nannte, hat Berlusconi aber abgelehnt.

profil: Mit welcher Begründung?
Orlando: Er hat einfach „Nein“ gesagt, ohne Warum.

profil: Ist Silvio Berlusconi politisch jetzt am Ende?
Orlando: Ich denke, Berlusconi ist vorbei. Aber der Berlusconismus lebt weiter, er ist eine Kultur geworden, ein Lebensstil. Berlusconi hat in unserer nationalen Kultur die negativen Aspekte unseres Wesens hervorgebracht. Wir hatten auch davor Korruptionsfälle, aber mit Berlusconi ist die Korruption System geworden. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Käufer und Verkäufer, zwischen dem, der kontrolliert, und dem, der kontrolliert wird. Der Unterschied zwischen Staat und Markt ist völlig verschwunden. Ich hatte keine Angst vor Berlusconi, sondern vor dem Berlusconismus, denn plötzlich hat ein kleiner Berlusconi neben mir gewohnt, neben jedem von uns.

profil: Und wie stehen Sie zum neuen Ministerpräsidenten Matteo Renzi?
Orlando: Matteo Renzi ist eine große Hoffnung. Er hat eine Botschaft, als junger Politiker war er Mitglied meiner Partei „La Rete“ („Das Netz“).

profil: Sehen Sie sich als sein politischer Vater?
Orlando: Nein! Oder ja, man könnte es so sagen. Alles Neue in Italien hat Verbindungen mit meinen Erfahrungen. Das gilt auch für die Leute, die sagen: „Nein, nein, wir wollen mit Orlando nichts zu tun haben.“ Ich habe schon immer vor dieser Art der Kultur gewarnt, die früher nur für Süditalien typisch war und es jetzt in ganz Italien ist. In ihr zählt nicht mehr, wer man ist, sondern wem man gehört.

profil: Und warum gehören Sie niemandem?
Orlando: Ich habe keinen Clan. Keine Partei. Ein Mal denke ich sozialistisch, ein anderes Mal nicht. Aber eines ist sicher: Ich habe nie etwas für meine Familie getan. Ich habe sechs Geschwister, sie haben nie gesagt: „Lucca, mach etwas für uns!“

profil: Ihr Vorname Leoluca ist typisch für Corleone, die einstige Mafiahochburg. Ihre Mutter kommt aus der aristokratischen Familie der Cammaratas, der einstigen Barone von Corleone.
Orlando: Ja, mein Großvater ist im heutigen Stadthaus von Corleone geboren, der Palazzo hat einst der Familie gehört.

profil: Warum sind Sie in die Politik gegangen?
Orlando: Dafür ist Piersanti Mattarella verantwortlich. Als er in den 1970er-Jahren Präsident der Region Siziliens wurde, war ich ein junger Rechtsprofessor in Palermo, und er hat mich als Berater geholt. Mattarella war mein Meister, er war modern und hatte eine Vision: Die Papiere, die Finanzen, müssen in Ordnung sein. Als er am 6. Jänner 1980 von der Mafia ermordet wurde, hat seine Familie zu mir gesagt: „Lucca, du musst in die Politik! Wenn du es nicht machst, würde Piersanti zwei Mal sterben.“

profil: International ist Palermo heute selten wegen Korruption in den Schlagzeilen. Gibt es sie nicht mehr?
Orlando: Seit ich wieder Bürgermeister bin, habe ich der Staatsanwaltschaft ungefähr 70 Korruptionsfälle übergeben. Viele sitzen deshalb im Gefängnis, aber ich habe dazu nie eine Pressekonferenz gemacht. Wir müssen gegen die Mafia sein, aber nicht ständig darüber reden. Wir haben kein Wasser in Palermo, wir haben ständig verstopfte Straßen. Gehen wir deshalb zum Staatsanwalt? Das funktioniert nicht. Ein Politiker muss konkrete Probleme lösen.

profil: Ihr Vorgänger im Rathaus war Parteimann von Berlusconis „Forza Italia“ und soll Ihnen nichts als einen riesigen Schuldenberg hinterlassen haben.
Orlando: Als ich die Stadt im Juli 2012 wieder übernommen habe, war ich 18 Monate lang verrückt und hysterisch. Jetzt bin ich nur noch verrückt, denn endlich habe ich die Kassen in Ordnung. Wissen Sie, wie viel Geld im Jahr 2011 von der EU nach Palermo geflossen ist? 35.000 Euro! Es war eine Politik, als wäre Palermo im Krieg gegen Europa gewesen. Und ich habe 400 Millionen europäische Euro bekommen! 400 Millionen, und dafür habe ich keine falschen Euro gedruckt.

profil: Stimmt die Geschichte, dass die Stadt damals mehr als 100 Busfahrer anstellte, aber nur einer einen Busführerschein hatte?
Orlando: Ich habe eine Gruppe eingesetzt, die kontrolliert, ob die Leute überhaupt arbeiten, und danach mussten viele gehen. Ich habe mir gesagt, mit der großen Zustimmung bei der Wahl muss ich etwas ändern, und bin wie ein Kommissar vorgegangen. Ich habe meine vielen Wählerstimmen wie den Fetthöcker eines Kamels genützt, um in die Wüste zu gehen. Palermo ist reich, aber wir sind unterentwickelt. Denn wir benützen das nicht, was wir haben. Berlusconi ist reich, aber unterentwickelt, denn er benutzt das, was er besitzt, nicht korrekt. Ein Mafiaboss ist reich, aber unterentwickelt.

profil: Was machen die Mafiabosse mit ihrem Geld?
Orlando: Die Mafiabosse tragen heute Businessanzüge, aber sie leben wie Tiere. Sie pervertieren Werte wie Ehre, Familie, Freundschaft, religiösen Glauben. Die sizilianische Mafia hat im Namen der Ehre, der Familie und des Glaubens gemordet.

profil: Papst Franziskus hat als erster Papst überhaupt gewagt, für die Opfer der Mafia eine Messe zu lesen, und die „Männer und Frauen der Mafia“ zur Bekehrung aufgerufen, sonst drohe ihnen die Hölle.
Orlando: Papst Franziskus bin ich zum ersten Mal bei seiner Einladung an ehemalige Jesuitenschüler begegnet. Ich wurde als der Beste unter ihnen vorgestellt und habe ihm gesagt: „Papst Franziskus, ich danke dir. Durch dich haben wir endlich Luft zum Atmen bekommen, nach so vielen Jahren schlechter Luft aus dem Vatikan

profil: Und was hat der Papst geantwortet?
Orlando: Er hat mich umarmt. Zwei Kardinälen hat das gar nicht gefallen, das war der alte Vatikan. Ich habe dem Papst auch für seine Absage an die Verrücktheit des Geldes gedankt. Ich habe großen Respekt vor Geld, weil ich es brauche. Aber wenn Geld der Supergott ist, gibt es keinen Unterschied zwischen einem Mafia-Stall in Corleone und einem Finanzzentrum.

profil: Was ist Ihre Vorstellung von Europa?
Orlando: Sie werden gleich sagen, dass ich ein Verrückter bin, wenn ich verlange, dass Europa auf Aufenthaltserlaubnisse verzichten soll. Haben Sie oder habe ich ausgesucht, wo wir geboren werden? Nein. Und es ist ein Menschenrecht, zu entscheiden, wo man leben und sterben will. Ich kann nicht akzeptieren, dass es nur für die Menschen im Westen gelten soll und ungefähr vier Milliarden Menschen diese Freiheit nicht haben.

profil: Wie soll Europa sich das leisten können?
Orlando: Das heutige Europa hat keine Zukunft. Wir brauchen neues Blut. Ich finde es schade, dass meine beiden Töchter Europäer geheiratet haben, und ich habe sie gefragt: „Warum nicht einen Afrikaner?“

profil: Haben Sie keine Angst vor Rassismus?
Orlando: Ich bin gewählt worden, obwohl ich schon im Wahlkampf die Abschaffung der Aufenthaltserlaubnis gefordert habe. In Sizilien ist niemand ein Fremder. Es hat viele Demonstrationen von Arbeitslosen gegen mich gegeben. Aber nie hat einer von ihnen gesagt: „Signore Sindaco, es ist nicht richtig, dass Afrikaner Arbeit haben und ich nicht.“

profil: Gilt das für ganz Sizilien?
Orlando: Palermo und Sizilien sind wie ein Mosaik, wir brauchen einen Rahmen. In der Vergangenheit waren die aristokratischen Familien und die Mafia der Rahmen. Dann waren es der Faschismus und die Mafia, und nach dem Zweiten Weltkrieg die Politik und die Mafia. Ich habe natürlich gegen die korrupten Elemente gekämpft, aber ich habe nicht die Rolle eines Staatsanwalts.

profil: Was ist Ihre politische Rolle?
Orlando: Meine Aufgabe ist es, einen neuen Rahmen zu schaffen. Und der besteht aus Respekt nicht nur vor Gesetzen, sondern vor den Menschenrechten. Ein Stein darinnen ist die größte Gay-Parade in Südeuropa, die wir hier mit der „Palermo Pride“ im Vorjahr organisiert haben. Der Erzbischof war entsetzt, aber ich habe ihm gesagt: „Eminenz, es geht um Menschenrechte. Denn die einzige Waffe gegen die Kultur der Mafia ist der Respekt vor den Menschenrechten.“ Es waren 300.000 Leute da, Kinder, Familien, alle. Ich war mit einer jungen Frau und ihren beiden Töchtern dabei – meinen Enkelinnen. Wir sind nicht perfekt, aber wir sind nicht intolerant.

profil: Viele Palermitaner hatten sich von Ihnen einen neuen Frühling wie in den 1980er-Jahren versprochen und sind enttäuscht: Es gehe zu wenig weiter. Ein großes Problem ist Jugendarbeitslosigkeit. Was tun Sie da?
Orlando: Ja, wir haben ungefähr 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, viele gehen weg. Aber ich musste zuallererst die Finanzen in Ordnung bringen. Ich weiß, die Leute verstehen nicht, was ich in diesen eineinhalb Jahren getan habe. Aber wie soll ich ihnen jede Einzelheit erklären? Wir haben jetzt ein Anti-Korruptions-Projekt. Wir machen, was ich elektronische Stadtversammlung nenne: Da haben wir über Stadtplanung abgestimmt, über Fußgängerzonen, über die Küste, über vieles. Jetzt sind wir am Ende des Tunnels angekommen. Wir sind die erste europäische Großstadt, die der EU schon fertige Projekte bis zum Jahr 2020 vorgestellt hat. Wenn das alles gut läuft, werden die Palermitaner keinen Orlando mehr brauchen.

profil: Woher nehmen Sie bis heute Ihre Energie?
Orlando: Ich liebe das Leben. Und meine Mission ist, Wurzeln und Flügel zusammenzubringen. Die Sizilianer haben nur Wurzeln, sie werden in ihren Wurzeln sterben. Ich möchte, dass sie auch Flügel bekommen. Andiamo! Gehen wir!

Zur Person

Leoluca Orlando, 66
Zum profil-Gespräch bat der Bürgermeister von Palermo an einem Sonntag in die symbolträchtige Villa Niscemi. Samt prachtvollem Park von der Stadt angekauft, wurde sie der Spekulation entzogen und den Palermitanern geöffnet. Orlando gilt als einer der couragiertesten Gegner der Mafia. Nach dem Austritt aus der Democrazia Cristiana gründete er die überparteiliche Anti-Korruptions-Bewegung „La Rete“ („Das Netz“) und wurde dann Sprecher von „Italia dei Valori“ („Italien der Werte“). Als junger Rechtsprofessor beriet er den Präsidenten Siziliens Piersanti Mattarella, der 1980 Opfer der Mafia wurde. Ab 1985 war Orlando drei Mal Stadtchef in Palermo und schaffte es, die damals von jährlich 250 Mafiamorden erschütterte Metropole weitgehend von der „Cosa Nostra“ zu befreien. Er war Abgeordneter im italienischen und im EU-Parlament, seit Mai 2012 regiert er wieder in Palermo. Großprojekte in der verkehrsgeplagten Stadt sind Straßen- und U-Bahn-Bau. Bücher u. a.: „Ich sollte der Nächste sein“ (2002) und „Leoluca Orlando erzählt die Mafia“(2008).

Foto: Sandro Scalia