And the winner is …

Russland: Hat Wladimir Putin bereits gewonnen?

Russland. Hat Wladimir Putin breits gewonnen?

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Erinnert sich eigentlich noch irgendjemand an die Krim? Als vergangene Woche in ganz Russland Regionalwahlen abgehalten wurden, waren auch die Bewohner der Halbinsel im Schwarzen Meer aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben - als Bürger einer Teilrepublik der Föderation. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Die Kreml-Partei Jedinaja Rossija ("Geeintes Russland“) siegte nach Angaben der Behörden mit 70,47 Prozent.

Die internationale Aufmerksamkeit für die Wahlen hielt sich in Grenzen. Dabei hätte es jeden Grund gegeben, sie zu hinterfragen. Denn völkerrechtlich gesehen ist die Krim trotz ihrer Annexion im vergangenen März beileibe keine russische Teilrepublik, sondern gehört immer noch zur Ukraine.

Aber darüber wird kaum mehr geredet. Pflichtschuldige Kritik an der "Unrechtmäßigkeit“ der Wahlen, etwa von der deutschen Bundesregierung, musste reichen. Es ist, als hätte die internationale Gemeinschaft die Tatsachen, die Russland auf der Krim geschaffen hat, bereits stillschweigend akzeptiert.

Wladimir Putin ist drauf und dran, den Krieg um die Ukraine zu gewinnen: Dieser Befund mag angesichts der dahinterstehenden Aggressionspolitik ernüchternd sein - von der Hand zu weisen ist er aber nicht. Man mag noch so viel darüber spekulieren, dass der Kreml-Chef am Ende als Verlierer dastehen wird, weil die wirtschaftlichen Kosten seines militärischen Abenteuers Russland in den Abgrund reißen: Ein solches Ende ist indes noch lange nicht in Sicht.

Es ist auch wenig zielführend, Putins Erfolg an der Realisierung imperialer Fantastereien wie der zuletzt propagierten Errichtung von Neurussland festzumachen - nicht zuletzt, weil sich nur schwer abschätzen lässt, ob sie ernst gemeint oder nur Teil einer Drohkulisse sind. Besser, man misst Putin daran, was Russland bislang tatsächlich zu tun bereit war: erstens, sich die - territorial überschaubare, klar abgegrenzte und mit relativ wenig Aufwand zu sichernde - Krim einzuverleiben, und zweitens, die pro-russischen Rebellen in der Ostukraine mit Truppen und schweren Waffen zu unterstützen.

Die Annexion der Krim wird nicht mehr rückgängig zu machen sein und ist damit ein - wenngleich sündteuer erkaufter - Sieg für den Kreml. Die Kumpanei mit den Aufständischen im Donbass trägt dazu bei, die Ukraine instabil zu halten, russische Einflusszonen zu schaffen, Investoren abzuschrecken und damit Kiew in seiner West-Orientierung zu behindern - ein erklärtes Motiv Putins. Tatsächlich kommen die Reformen in der Ukraine nicht voran, das Assoziierungsabkommen mit der EU wurde nur in einer Kompromissvariante unterzeichnet und soll frühestens Ende 2015 komplett in Kraft treten.

Die mahnende Wirkung der chaotischen Zustände auf die Öffentlichkeit und die Opposition in Russland ist ein durchaus erwünschter Nebeneffekt für die Regierung in Moskau.

Die Ankündigung von Sanktionen gegen Europa sind im Gegensatz zu den genuinen Zielen Putins zunächst lediglich Reaktionen auf die Vorgangsweise des Westens - ebenso wie die zuletzt kolportierte, wenig überzeugende Drohung mit einem Einmarsch in EU-Hauptstädten wie Riga, Vilnius, Tallinn, Warschau und Bukarest. Letztere soll in einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko gefallen sein, berichtete die "Süddeutsche Zeitung“ vergangene Woche unter Berufung auf eine Gesprächszusammenfassung des Auswärtigen Dienstes der Europäischen Union. Die Regierung in Kiew wollte das vorerst nicht bestätigen.

Weitaus relevanter als das militärische Imponiergehabe ist ein anderer Punkt, den Putin gegenüber Poroschenko angesprochen haben soll. "Er könne durch bilaterale Kontakte Einfluss nehmen und eine, Sperrminorität‘ im Europäischen Rat bewirken, die für Russland negative Entscheidungen verhindere, soll Putin demnach gesagt haben“, berichtet die "Süddeutsche“. Im Klartext: Der Kreml-Chef traut sich zu, Europa zu spalten, was die Sanktionen gegen Russland betrifft.

Vorvergangene Woche hatte die EU ihre Zwangsmaßnahmen im Hinblick auf die Ukraine-Krise bereits zum dritten Mal ausgeweitet. Über zwei Dutzend prominente Separatistenführer in der Ostukraine und russische Politiker wurden Einreiseverbote verhängt, Anleihen großer russischer Energie- und Rüstungshersteller dürfen nicht mehr an europäischen Finanzmärkten gehandelt werden. Forderungen nach einer vierten Sanktionsrunde sind bereits auf dem Tisch. Sie soll Russland von der zivilen Nuklearzusammenarbeit und vom internationalen Finanzdaten-Transfersystem Swift ausschließen.

Inzwischen regt sich bei einigen EU-Mitgliedern jedoch bereits Widerstand gegen die Zwangsmaßnahmen. Schon Anfang September hatte etwa die Slowakei Bedenken angemeldet - als eines von mehreren Ländern. Auch Bulgarien, Ungarn und Zypern geben zu verstehen, dass sie sich lieber heute als morgen vom europäischen Kräftemessen mit Russland absentieren würden.

Alle haben handfeste ökonomische Gründe dafür. Bei Ungarn und Bulgarien kommen aber auch ideologische hinzu. Der ungarische Premierminister Viktor Orban etwa wetterte bei einer Rede Ende Juli gegen die "in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien“, erklärte die "nach dem staatlichen Organisationsprinzip der liberalen Demokratie aufgebauten Gesellschaften“ zum Auslaufmodell - und lobte im Gegensatz dazu die "illiberalen“ Systeme, namentlich in Singapur, China, Indien, der Türkei und Russland.

Bulgarien wiederum ist durch Schrift, Religion und eine jahrhundertelange Geschichte eng mit Russland verbunden. Seit dem Scheitern der sozialistisch dominierten Regierung nach einem Debakel bei den EU-Wahlen im Juni ist in Sofia zwar ein europafreundliches Expertenkabinett am Ruder, gleichzeitig herrscht aber über parteipolitische Grenzen hinaus ein russophiles Sentiment, das von enttäuschten Hoffnungen nach dem EU-Beitritt noch verstärkt wird.

Die EU kann Sanktionen gegen Russland nur einstimmig beschließen. Das Murren unter den Mitgliedsstaaten ist bereits vernehmbar und wird wohl immer lauter werden, je länger die Krise andauert - und die Wirkung der Zwangsmaßnahmen auf das Verhalten der Kreml-Führung ausbleibt.

Die Regierung in Moskau muss sich zwar bereits mit ersten schmerzhaften Folgen für die Wirtschaft des Landes herumschlagen: Der Rubel-Kurs verfällt, eine Rezession droht. Die Verhaftung eines an und für sich als loyal geltenden Oligarchen wird von Beobachtern als Zeichen für Machtkämpfe im Dunstkreis Putins interpretiert.

Zudem lässt sich inzwischen nicht mehr verheimlichen, dass in der Ukraine bereits dutzende russische Soldaten ums Leben gekommen sind: Das kommt bei der Bevölkerung, die zwar ein mächtiges Vaterland, aber keinen Krieg will, gar nicht gut an.

Trotzdem: Putin hat eine intakte Chance, weitere Sanktionen zu verhindern und ihre Auswirkungen damit auf einem Niveau zu stabilisieren, das sich für Russland noch einige Zeit ertragen lässt. Damit würde er die EU des einzigen Zwangsmittels berauben, das sie tatsächlich einzusetzen bereit ist. Waffengewalt, das ist längst klar, wird sie ihm nämlich nicht entgegensetzen.

Die Krim bliebe damit unumstritten russisch, und Putin könnte die Ukraine so lange als Faustpfand benutzen, bis die Regierung in Kiew und die EU sich Bedingungen beugen, die ihm zu Gesicht stehen. Womit der Kreml-Chef möglicherweise bereits fast alles erreicht hat, was er realistischerweise erhoffen konnte.

Und was er darüber hinaus noch alles will, weiß möglicherweise nicht einmal er selbst.

Mitarbeit: Milena Österreicher