Sozialpsychologe Ottomeyer: „Stark wie die Klitschko-Brüder“

Klaus Ottomeyer über Putin als gefährliche Figur des gekränkten Mannes, die Überlebensschuld von Flüchtlingen und Geschlechterrollen.

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profil: Sie haben soeben ein Buch über „Angst und Politik“ veröffentlicht. Als in der Ukraine der Krieg ausbrach, war es gerade in Druck. Welches Kapitel würden Sie mit dem heutigen Wissen noch schreiben?

Ottomeyer: Ich würde mehr über den russischen Präsidenten Wladimir Putin schreiben. Er taucht zwar an zwei Stellen als gefährliche Figur auf: Einmal, wenn es um tschetschenische Flüchtlinge geht. Putin hat seinen Statthalter in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, nicht nur morden und foltern lassen, sondern war persönlich für die Zerstörung von Grosny verantwortlich. Und dann noch einmal im Zusammenhang mit syrischen Flüchtlingen. Auch die Bombardierung von Aleppo haben nicht abstrakt „die Russen“ zu verantworten, konkret Putin hat sie angeordnet. Was etwas unterbelichtet blieb, ist Putin als jene gefährliche Figur des gekränkten Mannes, als die er sich nun erweist, sprich, die Figur des Mannes, der in den vergangenen Jahrzehnten an Respekt und Reputation verloren hat. Sie geistert in der westlichen Kultur wie im islamistischen Dschihadismus herum, es gibt sie aber eben auch in der russischen Ausprägung. Und diese Figur will ihre alte Größe zurück.

profil: Was zeichnet die Figur Putin aus?

Ottomeyer: Putin tritt halbnackt und etwas exhibitionistisch auf, wenn er sich als Mann auf dem Pferd zur Schau stellt, der weder Angst vor Feinden noch vor der Natur hat. Und er repräsentiert den bewaffneten Mann, der angeblich bedrohte Frauen und Kinder beschützen muss. Auch diese Figur gibt es in westlicher Ausprägung als Rambo-Kämpfer ebenso wie im islamistischen Dschihadismus als Kämpfer, der die Frau vor der westlichen Dekadenz retten muss. Gemeinsam ist all diesen Macho-Kämpfern, dass sie sich auf eine fiktive Großgruppen-Identität berufen, im Fall Putins auf eine mythisch überhöhte eurasische Identität, die angeblich bedroht ist, mit der Lebenswirklichkeit von Menschen aber kaum etwas zu tun hat.

profil: Der Krieg in der Ukraine fördert auch im Westen ein Bild, das wir überwunden glaubten: Wer ein Mann ist, muss zur Waffe greifen. Lassen wir uns vom heroischen Freiheitskampf der Ukraine zu sehr mitreißen?

Ottomeyer: Dass der Mann mit persönlichem Einsatz und der Waffe in der Hand auf jeden Fall Frau und Kinder verteidigen muss, ist als Notfallmuster so tief in uns allen verwurzelt, dass man es durch bloße Kulturkritik schwer überwinden kann. Noch problematischer ist, dass es nicht nur auf der Seite der Verteidiger wirkt, sondern auch auf der Seite des Angreifers: Putin phantasiert sich ja auch als männlicher Beschützer, obwohl die Beschützten das gar nicht wollen. Die warnende Frage aber stellt sich zu Recht: Sollen der bewaffnete Mann, Aufrüstung und Militarisierung nach der Relativierung der Geschlechterrollen, die wir zum Glück hatten, wieder ein weltweites Muster der Ich-Bildung werden?

profil: Sehen Sie diese Gefahr?

Ottomeyer: Bis in die 80er-Jahre hinein gab es noch klare Muster des beschützenden Mannes – John Wayne, aber auch Politiker, die versuchten, John Wayne zu spielen – und auf der anderen Seite der zu beschützenden Frau, die mit den Kindern zusammen ist. Dieses Modell wurde von der Frauenbewegung aufgebrochen, nicht zuletzt nach der Niederlage der Männer im Vietnam-Krieg, durch Feminismus und den Kampf um Chancengerechtigkeit. Gleichzeitig passierte eine Wiederaufrichtung des starken Mannes, etwa durch den US-Präsidenten Ronald Reagan. Der Kulturkampf zwischen der einfühlsamen Kultur der Frauen und der Kultur der angeberischen, übermäßig selbstbewussten, in Wirklichkeit zutiefst gekränkten Männer hat nie aufgehört. Es besteht durchaus die Gefahr, dass die alten Muster zuschnappen und man den kämpfenden Helden wieder auf allen Seiten gut findet. Was dabei übersehen wird, ist die extreme Frauenfeindlichkeit von Diktatoren wie Putin. Kritische, selbstbewusste Frauen werden verfolgt und vernichtet.

profil: Jeder Mann, der in der Ukraine kämpft, hat einen Mann in sich, der weg will. Und jeder Ukrainer, der über die Grenze kommt, hat einen Mann in sich, der sich schuldig fühlt. Darüber können Betroffene kaum reden. Ist im Krieg und auf der Flucht kein Platz für Ambivalenzen?

Ottomeyer: Unter einer akuten Bedrohung kann eine introspektive Reflexion tatsächlich schwierig sein, weil es erst einmal um die Aktivierung von vertrauen Notfallmustern geht. Der autoritär unter Druck gesetzte oder der autoritäre Mensch neigt dazu, in Schablonen zu denken: Mann oder Frau, Gewinner oder Verlierer, gut oder schlecht. Auf lange Sicht sind das gefährliche, gewaltfördernde Muster, wir werden also kulturell und in den Traumabehandlungen auf die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, zurückkommen müssen. Das geht am besten in einer verständnisvollen Atmosphäre. Viele Männer, die jetzt in den Westen mitgekommen sind, haben nicht nur die typische Überlebensschuld von Flüchtlingen, sondern vielleicht auch die Überlebensschuld des Mannes, der als Soldat sein Land verteidigen sollte. Grundsätzlich haben alle Männer alle Seiten in sich, auch fürsorgliche und ängstliche. Manche Männer zeigen sich auch in Medien sehr berührt, etwa der Überlebende in Butscha, der sich lange versteckt hat und vor der Kamera angesichts der Zerstörungen absolut erschüttert reagiert.

profil: Ukrainer im wehrfähigen Alter müssen sich im Westen mitunter fragen lassen, warum sie nicht in der Ukraine sind. Urteilen Menschen, die das Privileg haben, in einem friedlichen Land zu leben, nicht gar schnell?

Ottomeyer: Absolut, es gibt für uns keinen Grund, in die alten Geschichten von Helden und Opfern und die Verehrung von Rambo-Typen zurückzufallen. Wir könnten uns eine einfühlsamere Verständigung leisten. Ein Mann, der nur ein kleines Kind hat, ist doch genauso berührt wie einer, der drei Kinder hat. Dem ersten gesteht man nicht zu, dass er mit der Familie mitgeht, dem zweiten schon. Dieses mechanistische Konzept von Fürsorge ist in einer militärischen Auseinandersetzung nachvollziehbar, hat aber im Gespräch mit sich selbst und miteinander eigentlich nichts verloren.

profil: Gleichzeitig will man den mutigen Verteidigern einer freien und unabhängigen Ukraine nicht in den Rücken fallen.

Ottomeyer: Diesen Widerstand leistenden Menschen bewundere ich ja auch. Es sind auch Frauen darunter. Und natürlich träume ich wie die meisten Männer manchmal davon, der Actionheld zu sein, stark wie die Klitschko-Brüder, standhaft wie Wolodymyr Selenskyj, während in Wirklichkeit die meisten Männer eher selbstmitleidig sind, manchmal vielleicht auch einfühlsam.

profil: Sie haben als Psychotherapeut viel mit Menschen aus Kriegsgebieten gearbeitet. Wie gehen Sie mit den verletzten Seiten von angeblich harten Helden um?

Ottomeyer: Dieser Teil begegnet einem im psychotherapeutischen Setting immer wieder. Männer fangen an zu weinen, wenn sie von den zerrissenen Körpern erzählen, die sie gesehen haben. Da muss man sie begleiten, auch trösten, obwohl im ersten Reflex Männer aus traditionellen Kulturen das oft gar nicht wollen. Es ist ja wirklich zum Heulen. Mitunter haben Überlebende aus Kriegsgebieten aber keinen Zugang zu diesem traurigen Teil, sondern phantasieren sich als unerbittliche Rächer und sinnieren zum Beispiel darüber nach, wie sie es den Folterern heimzahlen können. Das führt manchmal zu neuer Gewalt, vor allem, wenn Politiker diesen Teil instrumentalisieren. Die sogenannte Ambiguitätstoleranz ist der Schlüssel. Der Begriff wurde von der Psychologin Else Frenkel-Brunswik in die Faschismusforschung eingebracht und zielt darauf ab, dass jeder Mensch unterschiedliche und widersprüchliche Anteile in sich hat und akzeptieren sollte, auch in der Sexualität. Nur die neu-alten Tyrannen, die Angst vor diesen Anteilen in sich haben, wollen das partout nicht akzeptieren. Sie alle verfolgen zum Beispiel LGBT-Personen.

profil: Was hilft traumatisierten Flüchtlingen am meisten?

Ottomeyer: Am Anfang brauchen sie vor allem Schutz. Wenn sie anfangen, über Traumata zu reden, braucht es eine behutsame Begleitung, damit niemand gleich in den Abgrund stürzt. Den aktuellen Flüchtlingen bleibt einiges erspart, worunter frühere Flüchtlinge sehr gelitten haben. Etwa, dass ihrer Geschichten erst einmal nicht geglaubt wird und man sie pauschal verdächtigt, Simulanten zu sein, die bloß das Sozialsystem ausnützen würden. Das unterstellt den Ukrainerinnen und Ukrainern bis jetzt niemand, außer vielleicht Putin.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges