Ukraine

Staudamm-Explosion: Wenn Wien am Dnipro läge …

Ein beklemmender Versuch, das Ausmaß der Katastrophe nach der Sprengung des ukrainischen Kachowka-Damms begreiflich zu machen. Wer hat dieses Verbrechen zu verantworten?

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Hochwasserkatastrophen haben viele Regionen schon einmal erlebt. Aber was sich seit der Nacht auf Dienstag der abgelaufenen Woche, als die Staumauer des Kachowka-Staudamms brach, flussabwärts entlang des Dnipro ereignet, ist von ungeheurer Dimension. Fotos können weder die Größe der Tragödie, noch die vielen Gefahren einfangen, die von den Wassermassen und dem, was sich darin verbirgt, ausgehen. Die ukrainischen Behörden ermitteln unter anderem wegen Paragraf 441 des Strafgesetzbuchs: „Ökozid“.

Ein Vergleich mit österreichischen Realitäten kann ein wenig dabei helfen zu verstehen, was geschehen ist: Der Kachowka-Stausee fasst 18 Milliarden Kubikmeter Wasser, der Neusiedler See weniger als 0,5 Milliarden Kubikmeter. Der größte zur Wasserkrafterzeugung genutzte Stausee Österreichs, der Speicher Kölnbrein der Maltakraftwerke in Kärnten, fasst 0,2 Milliarden Kubikmeter.

Die Staumauer des Kachowka-Damms hat eine Länge von 3,2 Kilometern. Die Donau ist hingegen im Bereich des Nationalparks Donauauen nur etwa 350 Meter breit.

Diese Wassermassen drängen seit Dienstagnacht flussabwärts.

Das betroffene Gebiet trennt der Dnipro in zwei feindliche Teile. Das westliche Ufer kontrolliert die ukrainische Armee, seit sich die russischen Truppen im vergangenen November auf das Ostufer zurückgezogen haben. Davor hielten sie auch die Regionalhauptstadt Kherson, die vor dem Krieg 280.000 Einwohner hatte, besetzt. Kherson und Umgebung haben sie seit dem Abzug regelmäßig bombardiert.

Der Kachowka-Staudamm liegt etwa 60 Kilometer flussaufwärts von Kherson. Umgelegt auf Wien befände sich die Staumauer, der Ausgangspunkt der Katastrophe, also in etwa bei Krems.

Wie viele Menschen von der Flut betroffen sind, kann nur geschätzt werden. Bereits Anfang März 2022, wenige Tage nach dem Beginn des russischen Überfalls, nahmen die russischen Streitkräfte Kherson ein und ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung flüchtete. Die ukrainischen Behörden gaben vergangene Woche an, dass „mehr als 40.000 Bewohner“ vom Hochwasser betroffen seien, davon 17.000 im ukrainisch kontrollierten Gebiet.

Wenige Stunden nach dem Dammbruch waren bereits 24 Gemeinden überschwemmt. Leute, die auf Dächern und anderen erhöhten Punkten Zuflucht gesucht hatten, wurden zunächst per Drohnen mit Wasser und Lebensmittel versorgt und danach in kleinen Booten gerettet. Die Drohnen waren dieselben, die sonst russische Stellungen ausspionieren und Handgranaten abwerfen.

Für ein solches Hochwasser kann es keine ausreichenden Vorkehrungen geben. Es handelt sich auch nicht um eine Naturkatastrophe im eigentlichen Sinn, denn die Wassermenge entstammt einem künstlichen Stausee und auch der Dammbruch wurde von Menschen hervorgerufen.

Der Krieg macht auch ein Hochwasser noch schlimmer: Eine der Gefahren, die im Wasser lauern, sind Minen, die fortgeschwemmt werden und überall wieder auftauchen können. Dazu kommen alle möglichen Schadstoffe, die entlang des Dnipro gelagert waren. Der ukrainische Umweltminister sagte, er gehe von einer Menge von „600 oder vielleicht sogar 800 Tonnen Öl“ aus, die von dem anschwellenden Strom in Richtung Schwarzes Meer mitgespült werden.

Die Versorgung der Bevölkerung, die bereits vorher unter Kriegsbedingungen nicht einfach war, wird jetzt noch schwieriger.

Doch auf die unmittelbare Not folgen die langfristigen Schäden. Wenn die Wassermenge einmal den Weg ins Schwarze Meer gefunden hat, werden sich die Langzeitfolgen einstellen.

Dazu gehört zunächst der Mangel an Elektrizität, denn mit dem Staudamm wurde auch das dazugehörige Wasserkraftwerk zerstört. Seit Kriegsbeginn unter russischer Kontrolle hat es keinen Strom für das ukrainische Netz geliefert, nun wird es auch nach Kriegsende als Lieferant grüner Energie ausfallen.

Die Ernte im betroffenen Gebiet ist natürlich auch verloren, und auch in den kommenden Jahren wird sich die Landwirtschaft nicht erholen, denn das Wasser des Stausees wurde auch zur Bewässerung eingesetzt. In der Region werden vor allem Getreide und Sonnenblumen angebaut, und zwar in so großen Mengen, dass der Weltmarktpreis nach Bekanntwerden der Katastrophe sofort gestiegen ist.

Auch Flora und Fauna nehmen enormen Schaden. Alleine im Stausee sind Tonnen von Fischen verendet, dazu Schwalben, Enten und Wasserpflanzen. Die Kadaver belasten das abfließende Wasser. Flussabwärts sind drei Nationalparks in Gefahr. Das Ökosystem des Dnipro, des viertlängsten Flusses Europas, ist ebenso bedroht wie das „Biosphärenreservat Schwarzes Meer“, das seit 1927, als das Gebiet Teil der Sowjetunion war, unter Schutz steht. Ein Hochwasser dieses Ausmaßes und die Unmengen an Schadstoffen können ein Ökosystem dauerhaft vernichten.

Schließlich ist indirekt auch das Atomkraftwerk Saporischschja betroffen, das zur Kühlung Wasser aus dem Stausee verwendete.

Wer immer für diese Katastrophe verantwortlich ist, hat sich eines gigantischen Verbrechens an Mensch und Natur schuldig gemacht. Die Schuldzuweisungen beider Seiten ließen nicht auf sich warten. Dmitri Peskow, der Sprecher des Kremls, sprach von „absichtlicher Sabotage seitens der Ukraine“; Wolodymyr Selenskij, der Präsident der Ukraine, machte „russische Terroristen“ für die Tat verantwortlich. Welche Version ist plausibler?

Einigermaßen sicher scheint, dass eine Explosion Auslöser des Dammbruchs war. Markus Reisner, Militärexperte und Oberst des österreichischen Bundesheeres, sagt im Interview auf profil.at, dass eine Zerstörung der Staumauer durch Artillerie-Beschuss aufgefallen wäre. Ein kursierendes Video, das einen Einschlag am Ufer zeigt, hält er für einen möglichen Versuch, die wahre Ursache zu verschleiern.

Die übliche Frage, wem die Sprengung nützt, führt in diesem Fall zu keinem eindeutigen Ergebnis. Der größere Teil des überschwemmten Gebietes liegt östlich des Dnipro, das von den Russen besetzt ist. Das bedeutet unter anderem, dass Stellungen und Waffenlager der russischen Streitkräfte von den Wassermassen zerstört wurden. Andererseits sieht Oberst Reisner für die russische Seite einen kurzfristigen Vorteil: Die Ukrainer könnten wegen der Überschwemmungen nicht mehr amphibisch den Dnipro überqueren, um ihre Offensive voranzutreiben. Dieser Effekt sei der russischen Militärführung möglicherweise „wichtiger gewesen als die langfristige Planung oder Gefahrenabschätzung“.

Das stärkste Indiz für eine Täterschaft der Russen bleibt die Tatsache, dass sie die Kontrolle über den Damm und damit auch jederzeit Zugang hatten. Für eine Sprengung braucht man eine große Menge an Sprengstoff, der im Inneren der Konstruktion angebracht werden muss. Oberst Reisner hält es für „äußerst unwahrscheinlich“, dass dies einem verdeckt arbeitenden ukrainischen Spezialkommando gelungen wäre.

Der deutsche Militärexperte Christian Mölling referierte in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“ die These, dass die russische Seite zwar eine Sprengung vorbereitet habe, diese jedoch „verfrüht“ passiert sei und zudem ein Loch entstanden sei, „dass man in dieser Größe eigentlich gar nicht haben wollte“.

John Kirby, Sprecher des Weißen Hauses, sagte, die US-Administration könne „noch nicht abschließend sagen, was passiert ist“. Klar sei jedoch, dass die russischen Streitkräfte illegal auf ukrainischem Territorium seien und das Kraftwerk besetzt hätten.

Die Klärung der Täterschaft kann lange dauern und wird vielleicht nie abschließend gelingen. Unterdessen laufen die Rettungsmaßnahmen. Oleksandr Prokudin, Gouverneur der Region Kherson, gab vergangenen Donnerstag in den Sozialen Medien dazu eine bedrückende Auskunft: Mehr als 600 Quadratkilometer – das entspricht etwa der Fläche des Bezirks Korneuburg – stünden in der Region bereits unter Wasser, das eine durchschnittliche Tiefe von 5,61 Metern aufweise. 32 Prozent der Überschwemmung betreffe das rechte Ufer, 68 Prozent das linke. Und: Die Evakuierung sei im Gange, „trotz der Gefahr und des anhaltenden Beschusses von russischer Seite“.

Mitarbeit: Siobhán Geets

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur