Strafverteidiger von Schirach über Rechts- und Unrechtsstaat

Der deutsche Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach über den Punkt, an dem ein Rechtsstaat zum Unrechtsstaat wird, die verzögerte Wirkung des Terrors und seine Angst vor einem Krieg.

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profil: Sie sagten vor etwas mehr als einem Jahr in einem Interview: "Solange ich denken kann, habe ich Angst vor Krieg.“ Nach den jüngsten Anschlägen von Paris hat Frankreich die Solidaritätsklausel der EU aktiviert, die beim Angriff auf ein Mitgliedsland auch militärische Mittel vorsieht. Befinden wir uns jetzt im Krieg? Ferdinand von Schirach: Der französische Staatspräsident sprach von Krieg und der deutsche Bundespräsident von "einer neuen Art von Krieg“. Das ist nicht ungefährlich. Das Völkerrecht verwendet den Begriff Krieg zwar nicht mehr, aber falls die Staatspräsidenten den Zustand des internationalen bewaffneten Konflikts meinen, wie er im Genfer Abkommen behandelt wird, könnten zahlreiche Bürgerrechte ohne Weiteres eingeschränkt werden. Ich glaube nicht, dass das gemeint war. Es ging ihnen eher darum, ihre Wut zu formulieren. Das ist nur zu verständlich, aber wir sollten vorsichtig sein. Der deutsche Innenminister sagte auf die Frage, die Sie gestellt haben, dass wir nicht im Krieg seien. Ich stimme ihm zu.

profil: Muss Europa dem IS unbedingt den Krieg erklären, um ihn zu besiegen? von Schirach: Kriegserklärungen können auch durch Handlungen stattfinden, es müssen dazu keine Briefe verschickt werden.

profil: Wie weit darf der Staat gehen, um der Bevölkerung die Angst zu nehmen? Und wie weit darf er gehen, um den Kampf gegen den Terrorismus zu führen? von Schirach: Die Islamisten, das erleben wir immer wieder, morden weiter. Sie wollen unsere Gesellschaft zerstören, das haben sie hundertfach erklärt. Der Rechtsstaat muss seine Bürger davor schützen. Die Frage ist, wie er das tut. Wenn der Staat beginnt seine Prinzipien, seine Verfassung zu missachten, wenn also zum Beispiel ein gefangener Terrorist gefoltert wird, um auf diese Weise Informationen über den nächsten Anschlag zu bekommen, wird er zum Unrechtsstaat. Das liegt gar nicht so fern. In Deutschland gibt es seit Jahren eine solche Bewegung. Der Rechtswissenschafter Günther Jakobs unterschied in einem Aufsatz 1985 zum ersten Mal zwischen Feindstrafrecht und Bürgerstrafrecht. Er berief sich dabei auf die Vertragstheorie von Thomas Hobbes: Ein Mensch, der die Gesellschaft verlasse, begebe sich in einen gesetzlosen Naturzustand und werde zum Feind. Und als Feind müsse er bekämpft werden. Terroristen, die den Staat und die Verfassung selbst angreifen, sind danach vogelfrei, sie werden zu Rechtlosen. Nach dieser Theorie dürfen sie gefoltert oder getötet werden, weil sie unsere Gesellschaft zerstören wollen - ein Lager wie in Guantánamo wäre auch in Deutschland legal. Nach dem 11. September 2001 fragte Jakobs, ob die Bindungen, die sich der Rechtsstaat gegenüber seinen Bürgern auferlegt, gegenüber Terroristen nicht vielleicht "schlechthin unangemessen“ seien.

profil: Demnach würde das Strafrecht zwischen Bürgern und sogenannten Feinden unterscheiden. Es versagt so bestimmten Menschen die Bürgerrechte, da es sie als Feinde der Gesellschaft bezeichnet. Sollen bei der Verurteilung von mutmaßlichen Terroristen andere Rechte gelten? von Schirach: Ich bin davon überzeugt, dass die aufgeklärte Demokratie auch Terroristen, auch den Menschen, die unsere Gesellschaft zerstören wollen, ausschließlich mit den Mitteln des Rechts begegnen darf. Nur dadurch erweist sich die Wehr- und Wahrhaftigkeit des Rechtsstaates. Die spätere Wirkung der Terrorakte ist deshalb so gefährlich: Sie ist indirekt. Wir beginnen zu zweifeln, ob das Recht für alle Menschen wirklich gleich gelten soll. Damit verlieren wir alles, und die Terroristen haben gesiegt.

Natürlich kann kein Rechtsstaat einen Mord aus Glaubensgründen akzeptieren. Fanatismus an sich ist kein Strafmilderungsgrund, er verschärft eher die Strafe.

profil: Frankreich hat nach den Anschlägen in Paris die Menschenrechtskonvention teilweise ausgesetzt. In Brüssel stand aufgrund von Terrorwarnungen einige Tage das öffentliche Leben still. Sieht so in Zukunft der Alltag in Europa aus? Macht Ihnen diese Entwicklung Sorgen? von Schirach: Die Kriegsrhetorik ist gefährlich, natürlich. Zum einen sind die IS-Terroristen keine Soldaten, keine "Krieger“, sondern Mörder und Totschläger. Zum anderen ermöglicht das Wort "Krieg“, dass die klugen und besonnenen Maßstäbe der Verfassung leichter außer Kraft gesetzt werden können.

profil: Der IS beruft sich bei seinem Handeln ebenfalls auf ein Recht - jenes, das er aus den islamischen Glaubenslehren ableitet. Wenn Sie einen IS-Terroristen verteidigen würden: Wäre das ein Punkt, den Sie als strafmindernd anführen würden? von Schirach: Natürlich kann kein Rechtsstaat einen Mord aus Glaubensgründen akzeptieren. Fanatismus an sich ist kein Strafmilderungsgrund, er verschärft eher die Strafe. Interessanter ist, ob Indoktrination die Persönlichkeit eines Attentäters so sehr verändert, dass er bei seinen Morden Recht von Unrecht nicht mehr unterscheiden kann. Das lässt sich natürlich nicht abstrakt klären, strafrechtliche Schuld ist immer persönliche Schuld. Ein 14-jähriger Junge ist anders zu behandeln als ein erwachsener Mann, ein labiler Mensch anders als ein gefestigter. Anders Breivik ermordete am 22. Juli 2011 in Norwegen 77 Menschen, darunter 33 Kinder und Jugendliche. Seine Motive waren wahnsinnig, aber sie hatten eine innere Logik. Bei einem Gerichtsverfahren gegen einen solchen Mann kann es nicht mehr um Schuldmilderung gehen. Es geht dann um eine sehr alte Idee des Rechts, nämlich Ordnung in eine Unordnung zu bringen. Erst wenn wir verstehen, warum er es getan hat, kann eine Gesellschaft beginnen weiterzuleben.

profil: In Ihrem aktuellen Theaterstück "Terror“ geht es um einen Angeklagten, der mit seinem Kampfjet ein entführtes Zivilflugzeug abschießt, das ein Terrorist auf die vollbesetzte Münchner Allianz Arena abstürzen lassen will. Sie haben bei der Uraufführung die Zuschauer abstimmen lassen, ob der Angeklagte freigesprochen oder verurteilt werden soll. Zu welcher Entscheidung kam das Publikum, und welche Schlüsse ziehen Sie daraus? von Schirach: Das Stück wird in Deutschland auf 19 Bühnen aufgeführt, und jeden Abend geht die Abstimmung anders aus. Die jeweiligen Ergebnisse kann man auf meiner Website nachlesen. Fast immer wurde der Pilot freigesprochen, wenn auch knapp. Ich ziehe keine Schlüsse daraus, es geht tatsächlich nur darum, dass sich die Zuschauer Gedanken machen: Gedanken darüber, wer wir sind und wie wir in Zukunft leben wollen.

profil: Was ist es eigentlich genau, was Ihnen am Krieg am meisten Angst macht? von Schirach: Die meisten Menschen kennen den gewaltsamen Tod nicht. Sie wissen nicht, wie er aussieht, wie er riecht und welche Leere er hinterlässt. Der Tod findet in unserer Gesellschaft nicht mehr statt, wir sehen ihn nur im Fernsehen, und er scheint weit weg zu sein. Ich war 20 Jahre lang Strafverteidiger, ich habe Zimmer gesehen, in denen das Blut stand, abgeschnittene Köpfe, herausgerissene Geschlechtsteile und zerschnittene Körper. Ich habe Menschen am Abgrund gesprochen, die nackt waren, zerstört, verwirrt und entsetzt über sich selbst. Und nach all diesen Jahren habe ich begriffen, dass die Decke der Zivilisation sehr dünn ist. Ein Krieg lässt sie einstürzen. Wir müssen verstehen, dass nur die Gesetze, nur die langwierigen Prozessordnungen, nur die rechtsstaatliche Verfassung unsere Wut kanalisieren können. Nur ihre Regeln ordnen unsere schwankenden Gefühle, Zorn und Rache lehnen sie als Ratgeber ab. Sie achten den Menschen, und am Ende sind nur sie es, die uns vor uns selbst schützen können.

Ferdinand von Schirach, 51, lebt als Strafverteidiger und Schriftsteller in Berlin. Seine Erzählbände und Romane wurden zu internationalen Bestsellern. Am 7. Dezember erscheint das Justizdrama "Terror“ (Piper). Darin wirft Schirach Fragen nach dem Preis der Freiheit, nach Schuld und Unschuld, Recht und Gerechtigkeit auf. Von Schirach ist der Enkel von Baldur von Schirach, dem Gauleiter von Wien während der NS-Zeit.