Afghanische Soldaten in der Provinz Balkh versuchen, Taliban zu erspähen. Tausende von ihnen sind in den vergangenen Monaten desertiert oder haben aufgegeben.

Afghanistan: „Sie haben hier alles erobert“

Nach dem Sieg über die afghanische Hauptstadt Kabul haben die Taliban den Krieg für beendet erklärt. Wie erlebt die Bevölkerung den Vormarsch der Islamisten? profil hat einige kontaktiert, deren Region bereits von der radikal-islamischen Miliz kontrolliert wird.

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von Emran Feroz und Siobhán Geets

„Sie haben hier alles erobert“, sagt Sayed Shah Mehrzad. Der Arzt aus der nordafghanischen Provinz Baghlan lebt nun mitten im Taliban-Gebiet. Er hat einen Vollbart und trägt meist sein Markenzeichen: Ein englisches Arbeiterkäppchen. Seit Juli kontrolliert die radikal-islamische Miliz seinen Distrikt namens die „Fabrik“ – benannt nach einer Zuckerfabrik, errichtet in den späten 1930er-Jahren mit deutscher, tschechischer und britischer Hilfe. Nach kurzen, heftigen Kämpfen verließen die Soldaten der afghanischen Armee sowie Milizen des Inlandsgeheimdienstes NDS den Distrikt und überließen ihn den Extremisten, Regierungsangestellte wurden vertrieben oder getötet. Seitdem wird in der „Fabrik“ nicht mehr gekämpft. Wer geblieben ist, versucht, seinem Alltag nachzugehen. „Wenigstens sind hier die Gefechte vorerst vorbei“, sagt Mehrzad, der seit Jahren zwischen den Fronten arbeitet, am Telefon zu profil. Mal behandelte er die Soldaten der afghanischen Regierung, mal die Kämpfer der Taliban. Ein Arzt dürfe sich keiner Seite anschließen, sagt Mehrzad, sondern hätte lediglich eine Aufgabe: Menschenleben retten.

Seit Wochen sind die Taliban in ganz Afghanistan auf dem Vormarsch, am Sonntag haben sie die Hauptstadt Kabul erobert. Allein im Juli gab es mehr als 1000 Tote und Verletzte. Die Vereinten Nationen warnen, dass 2021 das Jahr mit den meisten zivilen Opfern werden könnte. Im ersten Halbjahr wurden mehr Frauen und Kinder getötet als je zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen 2009.

Die Regeln der Taliban sind die alten

Mittlerweile sind zwei Drittel der rund vierhundert Distrikte unter Kontrolle der Taliban. Anfang August nahmen sie innerhalb von nur einer Woche fünf Provinzhauptstädte ein. Auch wichtige Grenzübergänge zum Iran und nach Pakistan konnten sich die Islamisten sichern. In den Sozialen Medien feiern sie jede Eroberung, Bilder zeigen Kämpfer in Siegerposen und wehende Flaggen der Islamisten an bekannten Plätzen und Straßen.

Die Regeln der Taliban sind die alten: In den eroberten Gebieten dürfen Frauen nur in männlicher Begleitung aus dem Haus. Mancherorts ist Musik verboten, Männer dürfen sich nicht rasieren, Frauen nicht arbeiten. Einige dieser „Gepflogenheiten“ sind allerdings seit Jahren auch in konservativen Regionen des Landes präsent, die nicht von den Taliban kontrolliert werden.

Mit Kandahar, ehemals inoffizielle Hauptstadt der Taliban, und Kabul sind nun auch die beiden größten Städte des Landes in deren Hände gefallen. Auch die Eroberung mehrerer Regionen in der Provinz Baghlan kam nicht überraschend. Die Provinz gilt seit Jahren als Unruheherd. Hier waren die Taliban schon lange vor ihrem jüngsten Vormarsch aktiv. Vergangene Woche verkündete Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahed, dass das nächste Ziel die Provinzhauptstadt Pol-e Khumri sei. Am Tag darauf fiel die Stadt. Soldaten und Milizionäre der Regierung kapitulierten nach stundenlangen Gefechten. Auch in Kabul ging es schnell. Noch vor zwei Wochen hatten US-Geheimdienste geschätzt, dass die Hauptstadt innerhalb von 60 bis 90 Tagen fallen könnte. Am Sonntag marschierten die Taliban ein, ohne auf großen Widerstand zu treffen. Innerhalb weniger Stunden hatten sie den Präsidentenpalast eingenommen. Präsident Ashraf Ghani hatte sich bereits ins Ausland abgesetzt.

„Es ist eine Tragödie, die ihresgleichen sucht“, sagt Mehrzad, der Kämpfer beider Seiten kennt. Nicht selten stehen einander Familienmitglieder gegenüber, Brüder gegen Brüder, Cousins gegen Cousins.

„Es ist eine Tragödie, die ihresgleichen sucht."

Sayed Shah Mehrzad, ein Arzt aus der nordafghanischen Provinz Baghlan

Aufgrund seiner Arbeit wurde Mehrzad in den vergangenen Jahren selbst zum Ziel. 2019 explodierte eine Bombe in seiner Ordination, zuvor hatte er Drohungen von unbekannten Absendern erhalten. „Vielen passt es nicht, dass ich Kämpfer von allen Seiten behandle“, sagt er. In den vergangenen Jahren wurden medizinische Einrichtungen in Afghanistan regelmäßig von den unterschiedlichen Kriegsparteien angegriffen. Für scharfe Kritik sorgt bis heute der Luftangriff auf das Krankenhaus von „Ärzte ohne Grenzen“ in Kunduz im Oktober 2015. Mindestens 42 Zivilisten sind dabei ums Leben gekommen. Das US-Militär und die afghanische Regierung behaupteten, dass sich Taliban-Kämpfer im Gebäude versteckt hätten. „Ärzte ohne Grenzen“, die Vereinten Nationen und andere Organisationen verneinen das vehement und sprechen von einem Kriegsverbrechen.

Wer Mehrzads Praxis angegriffen hat, weiß der Arzt bis heute nicht. In Baghlan waren zum damaligen Zeitpunkt neben den Regierungstruppen und den Taliban auch Milizen der Hizb-e Islami aktiv, eine ehemalige Mudschaheddin-Partei.

Zahlreiche Menschen aus Baghlan und anderen nördlichen Provinzen waren nach Kabul geflüchtet, wo sie meist in provisorischen Flüchtlingslagern unterkamen. Nun, wo auch die Hauptstadt in die Hände der Islamisten gefallen ist, sind sie auch dort nicht sicher. Am Sonntag und Montag versuchten hunderte Menschen verzweifelt, einen Platz in den wenigen Flugzeugen zu ergattern, die die Hauptstadt verließen. Auf Videos in den Sozialen Medien war zu sehen, wie sich Dutzende von ihnen unmittelbar vor dem Start an ein Flugzeug klammerten.

Afghanischen Soldaten ging die Moral verloren

Bis Ende August wollten die USA ihre Militärmission in Afghanistan abgeschlossen haben, doch nun geht alles sehr schnell. Bis zu 200.000 internationale Truppen befanden sich zum Höhepunkt des US-geführten Einsatzes im Land. Eigentlich sollten 650 US-Soldaten zum Schutz der Botschaft in Kabul bleiben, doch nun wird evakuiert, das Personal ausgeflogen.

Zwanzig Jahre lang haben die USA zusammen mit ihren Verbündeten versucht, Afghanistan zu einem funktionierenden Staat zu machen. Doch während man Milliarden in die afghanischen Sicherheitskräfte sowie in andere Sektoren investierte, wurden viele grundlegende Fehler begangenen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden die Taliban innerhalb von wenigen Wochen entmachtet. Doch danach verbündete man sich mit brutalen Warlords und korrupten Politikern, die die vermeintlich demokratischen Institutionen zum eigenen Interesse aushöhlten.

Im Jahr 2003 waren noch 8.000 US-Soldaten in Afghanistan. Amerika hatte begonnen, seinen Fokus auf den Irak zu richten. Die Taliban konnten dadurch ihre Kapazitäten wieder aufbauen, auch dank der Hilfe des pakistanischen „Establishments“, das vom Militär sowie dem berühmt-berüchtigten Geheimdienst des Nachbarlandes dominiert wird.

2009 waren die Taliban wieder zu einer starken Kraft im Land geworden. Zuvor hatte man mehrere Friedenschancen mit der geschwächten Gruppierung verpasst. Die Obama-Administration stockte die Truppen auf rund 100.000 auf – ein Höchststand, der das Land dennoch nicht befrieden konnte. Hinzu kamen vermehrt Luftangriffe, die zahlreiche zivile Opfer forderten und viele Menschen in den ländlichen Regionen des Landes in die Arme der Taliban trieb.

Im Februar 2020 unterzeichneten die Taliban im Golfemirat Katar einen Abzugsdeal mit der Trump-Administration. Die Gruppierung versicherte, keinen „internationalen Terrorhafen“ aus Afghanistan zu machen und versprach einen intra-afghanischen Dialog, also Gespräche mit der Regierung in Kabul und anderen afghanischen Akteuren. Im Gegenzug müsse Washington abziehen. Doch während die Angriffe auf NATO-Truppen eingestellt wurden, litt die Bevölkerung weiter. „Wer im Schatten einer US-Basis lebt, ist ab jetzt sicher“, so lautete ein Spruch, der sich nach der Unterzeichnung des US-Taliban-Deals schnell verbreitete. Die afghanische Regierung, bei den Verhandlungen außen vorgelassen, sah das Abkommen kritisch und sabotierte es teils sogar. Präsident Ashraf Ghani und sein elitärer Zirkel in Kabul hatten Angst vor dem Machtverlust.

Anfang des Jahres, noch vor Bidens Ankündigung im April, den Trump'schen Pfad fortzuführen, zeigten sich die Taliban im Kampf gegen afghanische Sicherheitskräfte siegessicher. Die Verhandlungen mit der Regierung stockten, und die Taliban sahen immer weniger Notwendigkeit für einen politischen Kompromiss. Sie inszenierten sich als bessere Alternative zur US-gestützten Regierung in Kabul, die seit Jahren von einem politischen Skandal in den nächsten schlitterte. Eines der größten Probleme des Regierungsapparates, die Korruption, grassierte sowohl in der Ära von Präsident Hamid Karzai (2004-2014), als auch unter seinem Nachfolger Ashraf Ghani. Hinzu kommt, dass zahlreiche Afghanen und internationale Beobachter beiden politischen Führern bis heute Wahlfälschungen vorwerfen.

Gleichzeitig ging dem afghanischen Militär die Moral verloren. Tausende Soldaten sind in den vergangenen Monaten desertiert oder haben aufgegeben, oft ohne Kampf. Das liegt auch an der Korruption innerhalb der Armee. Den meisten Soldaten fehlt es an Grundlegendem, während hochrangige Militärchefs sich in den vergangenen Jahren systematisch bereichert haben.

Beobachter kritisieren auch die Art der US-Kriegsführung, die in den vergangenen Jahren vermehrt auf Drohnenangriffe setzten, seit Jahren. Einwohner berichteten auch von Drohnen, die wahllos auf Zivilisten schossen, anstatt die Extremisten ins Visier zu nehmen. Anstatt die Taliban zu beseitigen sorgten die USA dafür, dass die Extremisten weiter Zulauf fänden, so der Vorwurf. Währenddessen greifen die Taliban auf Autobomben und andere brutale Mittel zurück, um Angst und Schrecken zu verbreiten und ihre Macht auszuweiten. „Beide Seiten greifen blindlings an. Die Zivilisten sind ihnen egal. Der gesamte Markt von Kunduz liegt deshalb in Schutt und Asche“, erzählt ein Geflüchteter, der mittlerweile in einem Flüchtlingslager in Kabul lebt.

Viele Menschen befürchten eine Rückkehr in die 1990er Jahre

In der „Fabrik“, nur wenige Kilometer entfernt von der Provinzhauptstadt Pol-e Khumri, herrscht seit der Machtübernahme der Extremisten hingegen Ruhe. Vielen Menschen scheint egal zu sein, wer im Distrikt das Sagen hat. „Hauptsache, es wird nicht mehr gekämpft. Das ist vorerst eine große Erleichterung für uns“, sagt Mohammad Farzad, ein kräftiger junger Mann, der seit Jahren in Baghlan lebt und als Ingenieur arbeitet. Die Extremisten haben ihre Flaggen gehisst, Checkpoints aufgestellt und Bildungsinstitutionen in der „Fabrik“ zugesperrt. „Aufgrund der Kämpfe und den gegenwärtigen Umständen“, heißt es seitens der Taliban. Die Extremisten haben allerdings auch ein Dekret erlassen, in dem explizit Frauen und Mädchen aufgefordert wurden, „vorerst“ keine Schulen mehr zu besuchen. Viele Menschen befürchten eine Rückkehr in die 1990er Jahre. Damals untersagte das Taliban-Regime Mädchen in weiten Teilen des Landes den Schulbesuch. Auch Lehrerinnen durften ihren Beruf nicht ausüben.

Dieses Regime könnte in den nächsten Wochen und Monaten nach Baghlan, Kabul und anderswo zurückkehren. „Ich habe Angst und frage mich, was geschieht, wenn sie hier einmarschieren“, sagte Liza Sadat, eine Lehrerin aus Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der nördlichen Provinz Balkh, Ende vergangener Woche. Auch „Mazar“, wie die Afghanen die Stadt nennen, ist am Wochenende gefallen. Sadat hat hellblaue Augen, sanfte Gesichtszüge und trägt ihr Kopftuch im afghanischen Stil locker ums Haar geschwungen. In den umliegenden Distrikten sind die Taliban seit Jahren präsent. Sadat, Ende Vierzig, unterrichtet an einer türkischen Privatschule, doch damit ist es vorerst wohl vorbei. „Wir haben viele Prüfungen vorverlegt, weil wir die Schule aufgrund der Kämpfe und einer möglichen Taliban-Eroberung womöglich schließen müssen“, sagt sie.

Auch Sadat plante gemeinsam mit ihrer Familie die Flucht nach Kabul. Dort leben Verwandte, bei denen sie unterkommen wollten. Nun, da die Taliban auch Kabul erobert haben, scheint es für sie kein Entkommen mehr zu geben. In diesen Tagen denkt die Lehrerin nicht nur an die Zukunft ihrer Schüler, sondern auch an jene ihrer eigenen Kinder. „Ich wünschte, sie wären nicht in diesem Land und diesem fürchterlichen Krieg aufgewachsen. Ich hoffe, dass wir sie noch irgendwie ins Ausland bringen können“, sagt Sadat.

„Ich habe Angst und frage mich, was geschieht, wenn sie hier einmarschieren.“

Liza Sadat, eine Lehrerin aus Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der nördlichen Provinz Balkh, Ende vergangener Woche

Während die Taliban vergangene Woche bereits die Stadt Mazar-e Sharif im Auge hatten und ihre Kämpfer für einen Angriff mobilisierten, verkündete die Regierung von Präsident Ashraf Ghani nahezu täglich, in Balkh, Baghlan und anderswo „Hunderte von Taliban-Kämpfern“ getötet zu haben. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass es sich dabei um Übertreibungen handelt. „Bei all diesen Zahlen fragt man sich, wie es überhaupt noch Taliban-Kämpfer in Afghanistan geben kann. Laut den Zahlen der Regierung müssten allein in den letzten Monaten Tausende von ihnen getötet worden sein“, sagte Ahmad Zubair, ein Student aus Baghlan, der mittlerweile in Kabul lebt. Wegen der Kämpfe verlor er regelmäßig den Kontakt zu seinen Freunden und Verwandten in der Provinz: „Die Verbindung ist manchmal tot. Sowohl die Taliban als auch die Regierungstruppen schneiden immer wieder das Kommunikationsnetzwerk ab.“

Viele Menschen, sagt Zubair, wollten gar nicht fliehen. „Sie wollen ihre Häuser und ihr Hab und Gut nicht den Taliban und den Flächenbombardements, die alles zerstören, überlassen.“ Zeitgleich haben viele Afghanen schon Wochen vor dem Fall der Hauptstadt befürchtet, dass es bald so weit sein könnte. „Etliche Städte haben in den letzten Tagen keinen Widerstand geleistet, sondern sich den Taliban ergeben“, sagt Torek Farhadi, ein ehemaliger Regierungsbeamter und politischer Analyst aus Kabul.

Rückführungen schon länger praktisch unmöglich

Ohne die Unterstützung der USA hatte die afghanische Armee den Islamisten wenig entgegenzusetzen. Es droht eine humanitäre Katastrophe. Seit dem Beginn der Taliban-Offensive haben fast eine Viertelmillion Menschen ihre Heimatorte verlassen. Sie sind nun, wie 3,5 Millionen weitere Afghanen, Binnenvertriebene, also Flüchtlinge im eigenen Land. Weil es nicht genug Wasser und Nahrung für alle diese Menschen gibt, hat die afghanische Regierung darum gebeten, Abschiebungen von abgelehnten Asylwerbern zumindest bis Oktober auszusetzen. „Wir sind nicht in der Lage, Abgeschobene aufzunehmen“, sagte Afghanistans Botschafterin in Wien Manizha Bakhtari vergangene Woche im Ö1 Radio und verwies auf die Sicherheitslage im Land: Die Taliban terrorisierten die Bewohner der eroberten Gebiete, sie köpften Menschen und steinigten Frauen. Diese dürften das Haus nur in männlicher Begleitung verlassen. Bakhtari bat ihre „europäischen Freunde“, Abschiebungen vorerst zu stoppen, da man die Menschen nicht mit dem Nötigsten versorgen könne.

Die Abfuhr kam prompt. Eine Aussetzung stehe nicht zur Debatte, hieß es aus dem Außenministerium in Wien. Das habe man gemeinsam mit Deutschland, Belgien, Dänemark, Griechenland und den Niederlanden so beschlossen und EU-Innenkommissarin Ylva Johansson in einem Brief mitgeteilt. Deren Heimatland Schweden hatte, wie Finnland und Norwegen, Abschiebungen nach Afghanistan bereits vor der Eroberung Kabuls temporär ausgesetzt. In Wien sah man das anders. Das Außenministerium bestellte Botschafterin Bakhtari zu einem dringenden Gespräch ein, offenbar, um ihre Worte im Ö1-Radio zu rügen.

Deutschland und die Niederlande haben mittlerweile beschlossen, bis auf weiteres auf Abschiebungen nach Afghanistan zu verzichten. Wien hingegen blieb noch am Wochenende dabei: Es soll weiter abgeschoben werden. Erst am Montag, also nach dem Fall Kabuls und dem Ansturm auf den Flughafen, gestand Innenminister Karl Nehammer ein, dass Abschiebungen derzeit nicht möglich sind. Der grüne Gesundheits- und Sozialminister Wolfgang Mückstein hatte zuvor klargestellt, dass sich Abschiebungen „erledigt“ hätten. „Da werden Leute aus Kabul ausgeflogen, da werden wir nicht einen Charter anheuern und Leute hinbringen“, sagte er am Sonntagabend in der „ZiB2“.

Doch die Türkisen zeigen sich weiter demonstrativ hart – wohl auch, um einen Abzug von Wählerstimmen Richtung FPÖ zu verhindern. Nehammer will nun gemeinsam mit anderen EU-Staaten Abschiebezentren in Ländern rund um Afghanistan einrichten. „Wenn Abschiebungen aufgrund der Grenze, die uns die Europäische Menschenrechtskonvention setzt, nicht mehr möglich sind, müssen Alternativen angedacht werden“, sagt er am Montag.

Die demonstrative Härte ist auch als Signal an potenzielle weitere Flüchtlinge aus Afghanistan zu verstehen: Macht euch erst gar nicht auf den Weg, ihr habt ohnehin keine Chance auf Asyl. Zur Entscheidung dürfte auch die innenpolitische Diskussion um straffällige Afghanen beigetragen haben. Im Jahr 2020 waren rund 54 Prozent der abgeschobenen afghanischen Staatsbürger mindestens einmal strafrechtlich verurteilt worden. Der grausame Mord an der 13-jähigen Leonie hat die Debatte weiter emotionalisiert.

Rund 45.000 Afghanen leben in Österreich. Im Jahr 2020 stellten sie, nach syrischen Staatsbürgern, die meisten Asylanträge. Nur rund die Hälfte der Afghanen erhalten einen positiven Bescheid, der Rest bekommt entweder subsidiären Schutz, also eine Art Asyl auf Zeit, oder soll zurück ins Heimatland gebracht werden.

Doch das gestaltete sich bereits vor dem Sieg der Taliban schwierig. Heuer wurden insgesamt erst 166 afghanische Staatsbürger zurückgebracht, die letzte Abschiebung erfolgte am 15. Juni.

Wie „Presse“-Außenpolitikchef Christian Ultsch in seinem Newsletter berichtete, hätte ein weiterer Flieger mit abgelehnten Asylwerbern aus Österreich und Deutschland Anfang August in Kabul landen sollen. Doch die afghanischen Behörden erteilten keine Landeerlaubnis – wegen der prekären Sicherheitslage, wie es hieß.

Rückführungen nach Afghanistan sind praktisch ohnehin schon länger nicht möglich. Mit Verweis auf die Sicherheitslage im Land hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits Anfang August die Abschiebung eines weiteren abgelehnten Asylwerbers mittels einstweiliger Verfügung gestoppt. Im Innenministerium sah man darin zwar kein „pauschales Verbot“ für Rückführungen nach Afghanistan. Dass es bald wieder zu einer Abschiebung kommt, ist allerdings unwahrscheinlich. Wem im Heimatland Folter oder Verfolgung droht, darf nicht abgeschoben werden. Auch zur Rückkehr in Kriegsgebiete darf niemand gezwungen werden.

Anstatt „wie 2015 massenhaft Menschen aufzunehmen“ müsse man daran arbeiten, „die Situation in Afghanistan zu verbessern“, meinte Sebastian Kurz Ende Juli.

Da kann Österreich selbstverständlich nichts ausrichten.

Vor dem Fall Kabuls haben die österreichischen Behörden damit argumentiert, dass nicht überall gekämpft werde – die Leute könnten ja innerhalb des Landes durchaus Schutz finden. Mit Blick auf den Sieg der Taliban dürfte sich das nun erledigt haben.